Inhalt JOHANNES EURICH/DIETMAR KAUDERER Vorwort der Herausgeber ....................................................................................................................... 7 VOLKER HERRMANN Einleitung: Streiflichter aus der Geschichte des DWI-Infos/DWI-Jahrbuchs ............................... 9 1. Diakoniewissenschaftliche Beiträge HANS-JÜRGEN BENEDICT Die Ausgegrenzten. Wie die Gesellschaft sich mit der sozialen Spaltung und Massenarmut abfindet, Kirche und Diakonie das aber nicht dürfen ...................................................................... 18 HEINZ RÜEGGER Sterben in Würde? Worauf es ankommt ............................................................................................ 36 KLAUS SCHOLTISSEK Ein „hohes Bild“ vom Menschen. Herders Impulse für die Diakonie heute ................................ 47 WALTER GÖGGELMANN Arbeiterpredigten. Von einem Dilemma diakonischer Homiletik .................................................. 60 ESKO RYÖKÄS Arbeiter oder Diener – über die Diakonie-Auffassungen des 20. Jahrhunderts ......................... 107 HERMAN NOORDEGRAAF Armutsbekämpfung durch Kirchen auf dem Land. Protokoll einer Erkundungsstudie. Ein Bericht aus den Niederlanden ....................................... 125 2. Diakoniewissenschaftliche Dissertationen (2012–2013) ULRICH BORNE Qualitätsmanagement konfessioneller Krankenhäuser aus Stakeholderperspektiven ................ 134 ZENOBIA FROSCH Das diakonische Verständnis in der Pflege im Wandel der Zeit ................................................... 135 MARGIT HERFARTH Leben in zwei Welten: Die amerikanische Diakonissenbewegung und ihre deutschen Wurzeln .............................................................................................................. 136 Inhalt 3 IN KAP PARK Theologie und Praxis der Diakonie im Lebenswerk von John Wesley in Beziehung zum Werk Nikolaus Ludwig von Zinzendorfs – ihre Bedeutung für den neuen diakonischen Aufbau der Korean Methodist Church (KMC) ............................................................................... 138 FRIEDER SCHAEFER Zum Verhältnis von Diakonie und Verkündigung in christlichen Hilfswerken ......................... 142 TOBIAS STAIB Diakonisches Hilfehandeln als Vertrauensbeziehung. Eine institutionenökonomische Analyse unter besonderer Berücksichtigung diakonischer Finanzierungsstrukturen ................. 150 3. Diakoniewissenschaftliche Abschlussarbeiten (2012–2013) NADIA ABI-HAIDAR „Spiritualität in der Diakonie – Bedeutung für die diakonische Praxis“ ...................................... 154 HANNAH BECKER Seelsorge in einer diakonischen Organisation. Theoretische Grundlagen und praktische Entwicklung im Cecilienstift Halberstadt ......................................................................................... 155 TERESA ANNA KATHARINA BEISEL Die Organisationsstruktur und -identität lutherischer Hilfsorganisationen in den USA. Eine exemplarische Untersuchung von Lutheran Services in America (LSA) und ausgewählten Mitgliedsorganisationen ...................................................................................................................... 156 OSWALD BEUTHERT Die Notwendigkeit von diakonischen Projekten als Grundlage für die Zukunftsfähigkeit von Kirchengemeinden dargestellt am Projekt „Essensbank“ der Evangelischen Brückengemeinde Heldenbergen ....................................................................................................... 161 MATTHIAS ESSIG Einsatz der Prozesskostenrechnung zur Verbesserung der Qualität und Kosten von Gottesdiensten in der Evangelischen Kirchengemeinde Stuttgart-Zuffenhausen ...................... 164 CLAUDIA GRAF Mobilität und soziale Teilhabe am Beispiel der Bahnhofsmission ................................................ 166 RAHEL HAEFNER Ursachen und Folgen von Altersarmut in diakonischer Perspektive ........................................... 170 PETER HUGO Wirkungsmessung am Beispiel des Social Return on Investment (SROI). Betrachtung aus der Sicht eines ambulanten Pflegedienstes ....................................................................................... 173 4 Inhalt MI YOUNG JEON Migration als diakonische Herausforderung in Deutschland und Südkorea ............................... 175 KERSTIN KOHLER Ethische Personalentwicklung in Sozialleistungsunternehmen am Beispiel der Sozialpädagogischen Familienhilfe .................................................................................................... 177 ALF-HENDRIK KRAUß Unternehmenskultur der Pflege im Traumazentrum Nord des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH) – eine Annäherung ............................................................................ 179 EVA LANG Zur Aktualität und Weiterentwicklung der Dienstgemeinschaft in modernen Diakonieunternehmen. Eine beispielhafte Untersuchung anhand der Evangelischen Heimstiftung in Stuttgart .................................................................................................................... 181 BETTINA J. MAIER Korruption und Entwicklungszusammenarbeit am Beispiel der Arbeit ausgewählter Nichtregierungsorganisationen in Kamerun .................................................................................... 185 KERSTIN ROOK-PAWLETTA Personalgewinnung in der Sozialpädagogischen Familienhilfe. Analyse und Empfehlungen zur effektiven Nutzung von Personalrekrutierungswegen durch die Caritas HeilbronnHohenlohe im Fachbereich der Sozialpädagogischen Familienhilfe ............................................ 188 LUISA SANDRITTER Der „Corporate Governance Kodex für die Diakonie in Baden“ als Organisationsentwicklungsinstrument des Change Managements in diakonischen Einrichtungen – Eine empirische Untersuchung ............................................................................ 190 VERENA SCHRADER „Social Media als Medium zur diakonischen Identitätsgestaltung“ .............................................. 193 GABRIELE STROBEL Zur Bedeutung von salutogenetischen Aspekten in der Organisationskultur ............................. 196 NAILE SULEJMANI Kommunale Strategien zur Bekämpfung von Kinderarmut .......................................................... 199 FERNANDA S. THIAGO BOGADO Personalentwicklungsmaßnahmen in Organisationen der Altenpflege unter Berücksichtigung veränderter Rahmenbedingungen ...................................................................... 202 Inhalt 5 MATTHIAS WALDHOFF Suchet der Stadt Bestes! Strategische Entscheidungsentwicklung zum Aufbau eines Integrationsunternehmens in Berlin am Beispiel des Bereichs „Komm und Sieh“ der Berliner Stadtmission .......................................................................................................................... 204 MADELEINE WORRINGER Employer Value Management durch organisations- und berufsgruppenspezifischen Abgleich von Mitarbeiterbedürfnissen mit den Einschätzungen der Führungskräfte ............... 208 Weitere Abschlussarbeiten (2012–2013) ......................................................................................... 209 4. Einblicke in neuere Publikationen VOLKER HERRMANN Rezension von Diakonisches Werk der EKD (Hg.), Diakonische Partnerschaften im geteilten Deutschland. Zeitzeugenberichte und Reflexionen ........................................................ 211 VOLKER HERRMANN Rezension von Norbert Friedrich (Hg.), Pflegemuseum Kaiserswerth. Katalog zur Dauerausstellung .................................................................................................................................. 213 VOLKER HERRMANN Rezension von Christoph Sachße/Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 4: Fürsorge und Wohlfahrtspflege in der Nachkriegszeit 1945–1953 .......... 214 VOLKER HERRMANN Rezension von Inge Mager (Hg.), Gerhard Uhlhorn, Die christliche Liebesthätigkeit, Teil II und III ...................................................................................................................................... 216 5. Neuerscheinungen JOHANNES EURICH/WOLFGANG MAASER Diakonie in der Sozialökonomie. Studien zu Folgen der neuen Wohlfahrtspolitik (VDWI 47) ....................................................... 219 JOHANNES EURICH/INGOLF HÜBNER (HRSG.) Diaconia against Poverty and Exclusion in Europe. Challenges – Contexts – Perspectives (VDWI 48) ........................................................................ 220 WALTER BOËS Diakonische Bildung. Grundlegung einer Didaktik diakonischen Lernens an der Schule (VDWI 49) ........................ 221 6 Inhalt TOBIAS STAIB Diakonisches Hilfehandeln als Vertrauensbeziehung. Eine institutionenökonomische Analyse unter besonderer Berücksichtigung diakonischer Finanzierungsstrukturen (VDWI 51) ........................................................................................................................................... 222 Vorwort der Herausgeber Mit der nun vorliegenden 43. Ausgabe des DWI-Jahrbuchs wählen wir eine neue Form der Publikation: unter dem Titel „Diakoniewissenschaft in Forschung und Lehre“ wird das DWIJahrbuch zukünftig nur noch digital erscheinen. Mit diesem „Abschied von Gutenberg“ vollziehen wir nach 6.850 Seiten in 42 gedruckten Ausgaben, die unter dem Titel DWI-Info bzw. DWI-Jahrbuch seit 1978 erschienen sind, eine Entwicklung nach, die das Wissenschaftssystem im Besonderen wie auch die Gesellschaft im Allgemeinen nachhaltig verändert hat – und weiter verändern wird. Ein verändertes Leseverhalten, neue Nutzungs- und Recherchemöglichkeiten und auch die gestiegenen Druck- und Vertriebskosten lassen es geboten erscheinen, die niedrigschwelligen Publikationsmöglichkeiten des Internets, seine Möglichkeiten zu Vernetzung und Austausch zu nutzen: Das DWI-Jahrbuch wandert ins Netz. Alles bleibt – anders. Erfolgreiche Neuerungen, das lehrt die empirische Erforschung von Innovationsprozessen, präsentieren sich zumeist im Gewand des Alten, Bekannten, Vertrauten. Wir bleiben also dem Buch treu, wenn auch in seiner elektronischen Variante. Wir haben das Layout des Jahrbuchs daher behutsam weiterentwickelt, die Lesefreundlichkeit verbessert und die Wiedererkennbarkeit gestärkt. „Diakoniewissenschaft in Forschung und Lehre“ spiegelt das weite Spektrum an Fragestellungen und Themen, die die Diakoniewissenschaft – nicht nur am DWI – beschäftigen. „Im DWI-Jahrbuch“, so heißt es im Impressum, „schreiben Studierende, Dozierende, Ehemalige, Freundinnen und Freunde des Diakoniewissenschaftlichen Instituts für alle Interessierten aus den Bereichen Diakoniewissenschaft, Diakonie, Kirche und darüber hinaus.“ Das DWI-Jahrbuch soll auch weiterhin aus dem Institutsleben berichten und ein Forum des Austausches zwischen Theorie und Praxis, zwischen Diakonie, Kirche und Wissenschaft sein, ein Ort, der Debatten mit interessanten Beiträgen bereichert, Vorträge einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich macht und auf interessante Neuerscheinungen hinweist, an dem sich aber auch diakoniewissenschaftliche Preziosen finden lassen. Zukünftig werden im DWI-Jahrbuch zudem – wieder – Kurzzusammenfassungen der am DWI erstellten Abschlussund Promotionsarbeiten erscheinen. Die entstandenen Verzögerungen bei der Veröffentlichung dieses ersten digitalen DWIJahrbuchs bitten wir zu entschuldigen: Auch das digitale Publizieren ist nicht frei von Friktionen. Unser Dank gilt allen Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge. Für das Design des Covers danken wir ganz herzlich Thomas Renkert. Das Layout beruht auf einer Vorlage von Volker Herrmann, für dessen Rat und Unterstützung bei der Erstellung dieses Jahrbuchs 8 Johannes Eurich/Dietmar Kauderer wir sehr dankbar sind. Gewohnt zuverlässig hat sich zudem Lena Maurach beim Korrigieren und Redigieren der Beiträge eingebracht; auch ihr sei dafür herzlich gedankt. Allen Leserinnen und Lesern wünschen wir eine anregende Lektüre! Heidelberg, im Dezember 2013 Johannes Eurich/Dietmar Kauderer Einleitung Streiflichter aus der Geschichte des DWI-Infos/DWI-Jahrbuchs Volker Herrmann Mit der vorliegenden Ausgabe erscheint das DWI-Info zum ersten Mal als Online-Ausgabe im pdf-Format. Die mit dem Druck verbundenen hohen Kosten und die veränderte mediale Wirklichkeit lassen diese Veränderung nicht nur als gegenwärtig notwendig, sondern ebenso perspektivisch als zukunftsweisend sinnvoll erscheinen. Entsprechende Veränderungsschritte hat es schon einige in der Geschichte des DWI-Infos gegeben. Der letzte war die Namensänderung von DWI-Info in DWI-Jahrbuch, die 2009 mit der Ausgabe 40 vollzogen wurde. Aber das war nicht die einzige Veränderung in der 35-jährigen Geschichte des DWIInfos. Im Folgenden soll eine kleine Rückschau gehalten werden, die einerseits eine kleine Geschichte des Instituts beinhaltet und andererseits auch als kleiner Dank gedacht ist an diejenigen, durch deren Mitarbeit das langjährige und regelmäßige Erscheinen des DWI-Infos bzw. DWI-Jahrbuchs ermöglicht wurde. 1. Zu den Anfängen des DWI-Infos (1978–1986) Angefangen hatte alles mit der ersten Ausgabe, die im April 1978 erschien. „Dieses DWI-Info verdanken wir der Initiative und Zustimmung von Studierenden des DWI. Von ihnen soll das DWI-Info auch in Zukunft getragen werden“, schrieb Paul Philippi, der damalige Institutsleiter in seinem Vorwort zur ersten Ausgabe des DWI-Infos (S. 2). „Gottfried Orth hat mit dem Abschluss seiner studentischen Präsenz an diesem Institut mit der Initiative auch die Redaktion übernommen. Man kann nur wünschen, dass die hier zusammengestellten Nachrichten auf die Mitarbeit und das Interesse derer stoßen, die von ihrem Studium her mit dem DWI verbunden sind.“ (ebd.) Zugleich sah Philippi in dem Info auch einen „Auftakt zu unserer 25-Jahr-Feier“ im Februar 1979. Gottfried Orth steckte in seinem Vorwort den Rahmen des Infos ab: „Das Info wendet sich insbesondere an derzeitige und ehemalige Studenten, Lehrer und Mitarbeiter des Diakoniewissenschaftlichen Institutes an der Universität Heidelberg. In erster Linie für sie soll es Forum des Austausches von Informationen und Anregungen, Möglichkeit des In-Verbindung-Bleibens sein. Dass es darüber hinaus auch allen anderen an Diakonietheorie und diakonischer Praxis Interessierten offen steht, versteht sich von selbst.“ Er benannte folgende Aufgaben des Infos: „... in erster Linie soll das DWI-Info bekannt machen mit den Arbeiten des DWI; dazu dienen Semesterberichte der Veranstaltungen; desweiteren werden Zusammenfassungen der am DWI 10 Volker Herrmann abgegebenen Diplomarbeiten und Dissertationen abgedruckt. Ein „Bericht aus der Praxis“ ehemaliger DWI-ler soll Anstoß geben, immer wieder nachzudenken über die für ein diakoniewissenschaftliches Institut (und nicht nur für dieses) dauernd aktuelle Verhältnisbestimmung von diakonischer Praxis und Diakonietheorie. Dem letzteren sollen auch Rezensionen wichtiger diakoniebezogener Aufsätze und Bücher dienen.“ (S. 3) Eben solche Beiträge vereinigte das erste DWI-Info auf seinen 14 Seiten Umfang. Erscheinen sollte das neue Informationsblatt jeweils am Ende eines jeden Semesters – „sofern Interessenten und Mitarbeiter gefunden werden, denn dieses Info wird solange bestehen, solange wir – ehemalige und derzeitige DWI-ler – es wünschen, solange wir – so verschieden auch unsere diakonische Praxis und unsere theoretischen Ansätze sein mögen – uns noch etwas sagen bzw. schreiben wollen.“ (ebd.) Die Aufnahme des DWI-Infos scheint positiv verlaufen zu sein, jedenfalls gab es auch in den folgenden Semestern jeweils eine Ausgabe. Das zweite Info (November 1978) brachte es bereits auf 21 Seiten und Heft Nr. 3 (Februar 1979) gar auf 30. Letzteres hatte v.a. die Dokumentation des 25-jährigen Jubiläums des Instituts zum Inhalt. Zugleich war mit diesem Heft ein Stabwechsel in der Redaktionsarbeit vollzogen worden, mit Barbara Städtler übernahm nun eine Frau die Redaktion. Ihr folgte für Nr. 4 (August 1979) Susanne Kuthe und danach ein namentlich nicht genannter Redaktionskreis (Nr. 5, April 1980; Nr. 6, Oktober 1980). Interesse und Engagement für das Info war also vorhanden. „Studentische Mitverantwortung hat das Studium am DWI schon immer geprägt!“ (Info 6, Oktober 1980, 25) – dieser Satz lässt sich auch auf das Info anwenden. Es ist auch nicht annähernd möglich, die inhaltliche Fülle der Beiträge wiederzugeben. Hervorgehoben werden sollen im Folgenden auch weniger einzelne Beiträge, als vielmehr einige aus unserer heutigen Sicht interessante Themen und Ereignisse sowie solche, die für die Geschichte des Instituts von Bedeutung sind. Die Infos 4 bis 6 (August 1979; April 1980; Oktober 1980) berichten etwa über die Vertretung des Institutsleiters durch seinen Vorgänger, Herbert Krimm, sowie den emeritierten Leipziger Praktischen Theologen Heinz Wagner; das Heft 5 (April 1980, 6–8) bringt ein Interview mit Wagner über seine Erfahrungen in Heidelberg. Das DWI-Info bot aber auch die Möglichkeit zur kontroversen Diskussion. So kam es zwischen Paul Philippi und dem Studenten Dieter Wendorff zu einer Kontroverse über die biblischen Grundlagen der Diakonie (Info 7–10, April 1981; Oktober 1981; Mai 1982; Oktober 1982), in die sich auch Klaus Berger mit einem Leserbrief einschaltete (Info 8, Oktober 1981, 28–33). Auch über die personelle Situation informierte das Info, etwa über den Weggang des Assistenten Jürgen Albert oder die kommissarische Vertretung der Institutsleitung durch Gerhard Rau (Info 12, WS 1983/84, 3). Nachträglich zum 30-jährigen Jubiläum des Instituts veröffentlichte das DWI-Info ein Interview mit Paul Philippi über Vergangenheit und Zukunft des Instituts (Info 15, SoSe 1985, Streiflichter aus der Geschichte des DWI-Infos/DWI-Jahrbuchs 11 25–31). Auf dieses Interview, das „einen guten Eindruck von Inhalten und Zielen bisheriger Institutsarbeit vermittelt“ (Info 16, WS 1985/86, 2), wird auch im nächsten Info verwiesen, in dem bekannt wird, dass Philippi zum WS 1985/86 die Leitung des Instituts abgegeben hat. Dass es bis zu diesem Zeitpunkt regelmäßig in jedem Semester ein neues DWI-Info gab, das ein lebendiges Bild des Institutslebens vermittelte, ist das Verdienst von Rainer Vorrath, Dagmar Metzger, Andreas Wehrmann und Roland Wolf. Mit DWI-Info 16 bestand das Info im achten Jahr. Sein Umfang schwankte zwischen 14 (Info 1) und 51 Seiten (Info 8). Insgesamt hatten die ersten 16 Infos einen Umfang von ca. 415 Seiten im Format DIN A 4. 2. Das DWI-Info entwickelt sich inhaltlich weiter (1986–2002) „Mit der Nummer 17 erscheint das DWI-Info in einer veränderten Gestalt. Stärker als bisher haben sich Dozenten und andere an der Arbeit und dem Geschehen am Institut Interessierte zu Wort gemeldet. Diese Tendenz gibt zu der Hoffnung Anlass, dass so ein reger und notwendiger Austausch nicht nur unter den Studentinnen und Studenten des DWI stattfinden kann, sondern dass auch die Empfänger außerhalb der Universität an diesem Gespräch bereichernd teilnehmen möchten“, schrieb Heinrich Fucks in seinem Vorwort zu Info 17 (SoSe 1986, 1), das sich bereits äußerlich durch die Klebebindung von seinen nur gehefteten Vorgängern unterschied. „Zukunftsperspektiven“ war das Leitthema dieses Heftes. Die Beiträge behandelten „die Situation am DWI in der Wende, Probleme des diakonischen Alltags und der Theorie der Diakonie.“ (ebd.) Neben Beiträgen zum 80. Geburtstag des Institutsgründers, Herbert Krimm, sowie einem als „Sein Vermächtnis“ überschriebenen Text (S. 7–8) von Krimm selbst, stellte der designierte neue Leiter des Instituts, Theodor Strohm, seine diakonischen Zukunftsperspektiven vor. Wie für DWI-Info 17 so galt auch für die folgenden Infos, dass sie nun einen thematischen Schwerpunkt verfolgten: „Neuordnung der III. Lebensphase“ (Info 18, WS 1986/87); „Frauen in Diakonie und Kirche“ (Info 19, SoSe 1987); „Zur Situation der Flüchtlinge und Asylsuchenden“ (Info 20, WS 1987/88) und „Exkursion in die DDR – Hoffnungstaler Anstalten“ (Info 21, SoSe 1988). Verantwortlich für diese Infos zeichneten Heinrich Fucks, Gabriele Renz und Jutta Schmidt. Mit dem letztgenannten Info setzte sich eine neue Entwicklung durch. Das DWI-Info wurde zum Dokumentationsort der alljährlich stattfindenden Auslandsexkursionen des Instituts: „Diakonie in den Niederlanden“ (Info 23, 1989/90); „Diakonie in Dänemark“ (Info 24, 1990/91) und „Ökumenische Diakonie am Beispiel Kenia“ (Info 25, 1991/92). Zugleich mit Info 23 veränderte sich wiederum das Layout, das nun auch höheren Ansprüchen standhielt, sowie die Erscheinungsweise. Das DWI-Info erscheint seit 1989 in der Regel einmal jährlich, gewöhnlich zu Beginn des Wintersemesters. Dass die Exkursion nach 12 Volker Herrmann Kenia einen Höhepunkt in der Institutsgeschichte darstellte, zeigte sich auch daran, dass das Jubiläums-Info 25 mit 131 Seiten das bis dahin umfangreichste war. Das darauffolgende Info beschäftigte sich wieder stärker mit der „Arbeit am Institut“ (Info 26, 1992/93). Dies geschah durch Berichte von den Inlandsexkursionen und Konferenzen, über Seminare und Literatur sowie durch die Rezensionen der Abschlussarbeiten, wie es seit Beginn Aufgabe des Infos war. DWI-Info 27 (1993/94) widmete sich nicht nur der „Diakonie im geteilten Deutschland und im Einigungsprozess“, sondern würdigte auch das 40-jährige Bestehen des Instituts, indem es u.a. die Abschiedsvorlesungen der beiden bisherigen Leiter, Herbert Krimm und Paul Philippi, abdruckte. Der neuen Studiensituation am Institut durch Einführung des DiplomAufbaustudiengangs trug das folgende Info (28, 1994/95) „Miszellen aus Studium und Forschung am Diakoniewissenschaftlichen Institut“ Rechnung durch einen ca. 20-seitigen Informationsteil zu den Studienmöglichkeiten am Institut, der seit 1995 in überarbeiteter Form als gesonderte Broschüre aufgelegt wurde. Inzwischen finden sich diese Informationen – auf die heutige Studiensituation aktualisiert – auf der Homepage des Instituts (www.dwi.uniheidelberg.de). Das Info (29, 1995/96) hatte schließlich „Diakonie im ökumenischen Kontext“ zum Thema. Seit dieser Ausgabe verfügt das DWI-Info auch über eine ISSN. Die nachfolgenden DWI-Infos in den Jahren 1996 bis 2002 entwickelten sich immer stärker in Richtung eines Jahrbuchs der Diakoniewissenschaft. Das lassen auch schon die Titel erkennen: „Wege der Diakoniewissenschaft“ (30, 1996/97), „Diakoniewissenschaft heute – Zwischenbilanz und Perspektive“ (31, 1997/98), „Diakoniewissenschaft zwischen Tradition und Innovation“ (32, 1999), „Diakoniewissenschaft 2000“ (33, 2000) sowie „Diakoniewissenschaftliche Perspektiven“ (34, 2001/2002). Hinter dieser Entwicklung stand der Aufschwung, den das DWI bundes- und europaweit unter der Leitung von Theodor Strohm genommen hatte. Da sich der durchschnittliche Seitenumfang des Infos auf über 100 Seiten entwickelt hatte, war es sinnvoll, die Redaktion nicht einer einzigen Person zu überlassen. Seit Info Nr. 24 umfasst der Redaktionskreis in der Regel drei Personen. Neben dem Verfasser dieses Beitrags waren dies in den Jahren 1990 bis 2002: Otmar Hahn, Silke Rocker, Barbara Wagner, Renate Zitt, Anke Marholdt, Hillard Smid, Uwe Mletzko, Martin Wedek, Stefan Schröher, Annette Leis, Sven Kießling, Michaela Frenz, Uwe Joas, Susanne Koschmider und Bettina Rost. Insgesamt umfassen die Infos 17 bis 34 über 1.860 Seiten im Format DIN A 4. 3. Vom DWI-Info zum DWI-Jahrbuch (2003–2012) Einen weiteren sichtbaren Schritt in Richtung DWI-Jahrbuch ging das DWI-Info im Jahr 2003. Die Informationen zum Studium, zu den Exkursionen etc. sind seit diesem Zeitpunkt alle auf der Homepage des Instituts zu finden, während sich das DWI-Info vollständig auf inhaltliche Streiflichter aus der Geschichte des DWI-Infos/DWI-Jahrbuchs 13 diakoniewissenschaftliche Beiträge konzentrierte. Zudem wechselte das Format, das von Beginn im Jahre 1978 immer noch unverändert DIN A 4 war, auf das Buchformat DIN A 5. Der Umfang liegt seitdem bei ca. 300 Druckseiten pro Band. Das erste DWI-Info (35) im neuen Format und Design war die Festschrift für den neuen Institutsleiter (seit 2001) Heinz Schmidt zu seinem 60. Geburtstag (2003). Seitdem werden die Ausgaben des DWI-Infos bzw. DWI-Jahrbuchs von einem der Assistenten bzw. Assistentinnen des DWI herausgegeben: Volker Herrmann (2003–2004 und in Vertretung auch 2007–2009), Johannes Eurich (2005– 2006), Christian Oelschlägel (2010) und Dietmar Kauderer (2011). Mit der Übernahme der Institutsleitung durch Johannes Eurich (2009) wurde schließlich der Name des DWI-Infos mit der Ausgabe Nr. 40 in DWI-Jahrbuch geändert. Mit dem Jahrbuch 42 sind damit acht Bände im neuen Buchformat erschienen mit insgesamt ca. 2.300 Seiten. Rechnet man die Umfangsangaben der Infos im DIN A 4-Format (im Verhältnis 1:2) um, so ergibt sich bei den 42 DWI-Infos bzw. -Jahrbüchern in den 33 Jahren ein Gesamtumfang von ca. 6.850 Seiten (im Format DIN A 5). Im Folgenden sind die 42 DWI-Info bzw. -Jahrbücher noch einmal aufgelistet. Die Veränderungen der Themen und Schwerpunkte der Diakoniewissenschaft bilden sich darin ab. Insofern könnte das Info/Jahrbuch nun selbst zum Forschungsgegenstand werden. 4. Überblick über die Ausgaben des DWI-Infos bzw. DWI-Jahrbuchs DWI-Info 1 (April 1978), hg. von Gottfried Orth, Heidelberg 1978, 14 S. DWI-Info 2 (November 1978), hg. von Gottfried Orth, Heidelberg 1978, 21 S. DWI-Info 3 (Februar 1979), hg. von Barbara Städtler, Heidelberg 1979, 30 S. DWI-Info 4 (August 1979), hg. von Susanne Kuthe, Heidelberg 1979, 18 S. DWI-Info 5 (April 1980), hg. von Studierenden am DWI, Heidelberg 1980, 15 S. DWI-Info 6 (Oktober 1980), hg. von Studierenden am DWI, Heidelberg 1980, 26 S. DWI-Info 7 (April 1981), hg. von Rainer Vorrath, Heidelberg 1981, 42 S. DWI-Info 8 (Oktober 1981), hg. von Rainer Vorrath, Heidelberg 1981, 51 S. DWI-Info 9 (Mai 1982), hg. von Rainer Vorrath, Heidelberg 1982, 32 S. DWI-Info 10 (Oktober 1982), hg. von Andreas Wehrmann/Dagmar Metzger, Heidelberg 1982, 32 S. DWI-Info 11 (SoSe 1983), hg. von Dagmar Metzger/Andreas Wehrmann, Heidelberg 1983, 23 S. DWI-Info 12 (WS 1983/84), hg. von Dagmar Metzger/Andreas Wehrmann, Heidelberg 1983, 17 S. DWI-Info 13 (SoSe 1984), hg. von Andreas Wehrmann, Heidelberg 1984, 31 S. DWI-Info 14 (WS 1984/85), hg. von Roland Wolf, Heidelberg 1984, 45 S. 14 Volker Herrmann DWI-Info 15 (SoSe 1985), hg. von Roland Wolf, Heidelberg 1984, 38 S. DWI-Info 16 (WS 1985/86), hg. von Roland Wolf, Heidelberg 1985, 18 S. DWI-Info 17 (SoSe 1986): Zukunftsperspektiven, hg. von Heinrich Fucks, Heidelberg 1986, 41 S. DWI-Info 18 (WS 1986/87): Neuordnung der III. Lebensphase, hg. von Heinrich Fucks, Heidelberg 1986, 34 S. DWI-Info 19 (SoSe 1987): Frauen in Diakonie und Kirche, hg. von Jutta Schmidt/Heinrich Fucks, Heidelberg 1987, 63 S. DWI-Info 20 (WS 1987/88): Zur Situation der Flüchtlinge und Asylsuchenden, hg. von Gabriele Renz/Jutta Schmidt, Heidelberg 1987, 51 S. DWI-Info 21 (SoSe 1988): Exkursion in die DDR – Hoffnungstaler Anstalten, hg. von Gabriele Renz/Jutta Schmidt, Heidelberg 1988, 60 S. DWI-Info 22 (WS 1988/98), hg. von Jutta Schmidt, Heidelberg 1988, 48 S. DWI-Info 23 (1989/90): Diakonie in den Niederlanden, hg. von Otmar Hahn/Jutta Schmidt, Heidelberg 1989, 68 S. DWI-Info 24 (1990/91): Diakonie in Dänemark, hg. von Otmar Hahn/Volker Herrmann, Heidelberg 1990, IV/53 S. DWI-Info 25 (1991/92): Ökumenische Diakonie am Beispiel Kenia, hg. von Otmar Hahn/Volker Herrmann/Silke Roker, Heidelberg 1991, V/131 S. DWI-Info 26 (1992/93): Arbeit am Institut, hg. von Volker Herrmann/Barbara Wagner/ Renate Zitt, Heidelberg 1992, V/117 S. DWI-Info 27 (1993/94): Zur Diakonie im geteilten Deutschland und im europäischen Einigungsprozess, hg. von Volker Herrmann/Anke Marholdt/Hillard Smid, Heidelberg 1993, V/107 S. DWI-Info 28 (1994/95): Miszellen aus Studium und Forschung am Diakoniewissenschaftlichen Institut, hg. von Volker Herrmann/Uwe Mletzko/Martin Wedek, Heidelberg 1994, IV/114 S. DWI-Info 29 (1995/96): Diakonie im ökumenischen Kontext, hg. von Volker Herrmann/Annette Leis/Stefan Schröher, Heidelberg 1995, V/121 S. DWI-Info 30 (1996/97): Wege der Diakoniewissenschaft, hg. von Volker Herrmann/ Sven Kießling/ Annette Leis, Heidelberg 1996, V/125 S. DWI-Info 31 (1997/98): Diakoniewissenschaft heute – Zwischenbilanz und Perspektive, hg. von Michaela Frenz/Volker Herrmann/Uwe Joas/Annette Leis, Heidelberg 1997, 168 S. DWI-Info 32 (1999): Diakoniewissenschaft zwischen Tradition und Innovation, hg. von Volker Herrmann/Susanne Koschmider/Annette Leis, Heidelberg 1999, 182 S. DWI-Info 33 (2000): Diakoniewissenschaft 2000, hg. von Volker Herrmann/Bettina Rost, Heidelberg 2000, 160 S. Streiflichter aus der Geschichte des DWI-Infos/DWI-Jahrbuchs 15 DWI-Info 34 (2001/2002): Diakoniewissenschaftliche Perspektiven, hg. von Volker Herrmann/Bettina Rost, Heidelberg 2001, 182 S. DWI-Info 35 (2003): Diakonische Aussichten. Festschrift für Heinz Schmidt, hg. von Volker Herrmann, Heidelberg 2003, 334 S. DWI-Info 36 (2004): Diakoniewissenschaft im Dialog, hg. von Volker Herrmann, Heidelberg 2004, 294 S. DWI-Info 37 (2005): Diakonische Orientierungen in Praxis und Bildungsprozessen, hg. von Johannes Eurich, Heidelberg 2005, 291 S. DWI-Info 38 (2006): Diakonisches Handeln im Horizont gegenwärtiger Herausforderungen, hg. von Johannes Eurich, Heidelberg 2006, 264 S. DWI-Info 39 (2007): Diakonische Existenz im Wandel. „Hephata – öffne dich“, hg. von Volker Herrmann, Heidelberg 2007, 330 S. DWI-Jahrbuch 40 (2009): Soziales Leben gestalten. Beispiele und Herausforderungen, hg. von Volker Herrmann, Heidelberg 2009, 292 S. DWI-Jahrbuch 41 (2010): Diakonische Einblicke, hg. von Christian Oelschlägel, Heidelberg 2011, 288 S. DWI-Jahrbuch 42 (2011): Forschungswerkstatt Diakonie, hg. von Dietmar Kauderer, Heidelberg 2012, 298 S. 5. Eine zweite Reihe: DWI-Info Sonderausgabe In den Jahren 1999 bis 2010 gab es neben den regulären DWI-Infos noch Sonderausgaben, die in einer eigenen Reihe vom Verfasser dieses Beitrags herausgegeben wurden. Die Bände waren noch stärker als beim DWI-Info möglich konsequent als Themenbände konzipiert und dokumentierten zum Teil zugleich Ringvorlesungen (Bd. 1) oder Tagungen bzw. Konferenzen (Bde. 2, 4, 7, 11 und 12). Daneben erschienen hier auch ein Band zu Leben und Werk des DWI-Gründers Herbert Krimm (Bd. 3), die Dokumentation der 50-Jahr-Feier des DWI (Bd. 5) sowie ein Band mit Aufsätzen von Theodor Strohm (Bd. 10). Die Reihe „DWI-Info Sonderausgabe“ war neben der Reihe der „Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts“ und nach der Einstellung der Reihe „Diakoniewissenschaftlichen Studien“ (zwischen 1993 und 1997 erschienen hier zehn Bände) eine gute Möglichkeit, diakoniewissenschaftliche Bände kostengünstig und zeitnah zu publizieren. Mit Ausnahme des zweiten Bandes erschien die gesamte Reihe im Buchformat DIN A 5. Die einzelnen Titel sind im Folgenden noch einmal aufgeführt: 16 Volker Herrmann DWI-Info Sonderausgabe 1: Einführung in die Theologie der Diakonie. Heidelberger Ringvorlesung, hg. unter Mitarbeit von Tanja Raack von Arnd Götzelmann, Heidelberg 1999, 238 S. DWI-Info Sonderausgabe 2: Ethikunterricht in diakonischen Bildungseinrichtungen (Alten- und Krankenpflegeschulen). Dokumentation und Materialien zum Workshop der Diakonischen Akademie Deutschland, hg. von Arnd Götzelmann, Heidelberg 2000, 186 S. DWI-Info Sonderausgabe 3: „Liturgie und Diakonie“. Zu Leben und Werk von Herbert Krimm, hg. von Volker Herrmann, Heidelberg 2003, 174 S. DWI-Info Sonderausgabe 4: Being in Discourse on Concepts of Diakonia, hg. von Stefan Heinemann/Julia Kalbhenn, Heidelberg 2004, 213 S. DWI-Info Sonderausgabe 5: 50 Jahre Diakoniewissenschaftliches Institut. Dokumentation, hg. von Volker Herrmann, Heidelberg 2005, 186 S. DWI-Info Sonderausgabe 6: Diakonie im 19. Jahrhundert. Überblicke – Durchblicke – Einblicke, hg. von Volker Herrmann, Heidelberg 2005, 262 S. DWI-Info Sonderausgabe 7: Ökonomie und Religion. Fatal Attraction – Fortunate Correction, hg. von. Heinz Schmidt, Heidelberg 2006, 302 S. DWI-Info Sonderausgabe 8: Martin Horstmann, Begleitbuch zum Studienbuch Diakonik. 39 Einheiten Diakonik, Heidelberg 2007, 155 S. DWI-Info Sonderausgabe 9: Diakonische Konturen im Neuen Testament, hg. von Volker Herrmann/Heinz Schmidt, Heidelberg 2007, 240 S. DWI-Info Sonderausgabe 10: Theodor Strohm, Theologie und Gesellschaft – Positionen und Perspektiven. Beiträge zur sozialen Verantwortung der Kirche III, hg. von Volker Herrmann, Heidelberg 2009, 346 S. DWI-Info Sonderausgabe 11: Kirchen gegen Armut und Ausgrenzung. Dokumentation des Kongresses in Heidelberg (6.-8. März 2008), hg. von Florian Barth/Klaus Baumann/Johannes Eurich/Fritz Lienhard/Heinz Schmidt, Heidelberg 2009, 302 S. DWI-Info Sonderausgabe 12: Johann Hinrich Wichern (1808–1881). Theologe – Sozialpädagoge – Reformer, hg. von Volker Herrmann/Roland Anhorn, Heidelberg 2010, 170 S. Volker Herrmann ist Professor für Evangelische Theologie mit dem Schwerpunkt Diakoniewissenschaft an der Evangelischen Hochschule Darmstadt, Studienstandort Hephata/Schwalmstadt, und Mitglied des Beirats des DWI. 1. Diakoniewissenschaftliche Beiträge Die Ausgegrenzten Wie die Gesellschaft sich mit der sozialen Spaltung und Massenarmut abfindet, Kirche und Diakonie das aber nicht dürfen1 Hans-Jürgen Benedict 1. Ein Buch, die Option für die Armen und der soziale Rechtsstaat Anfang des Jahres ist ein dickes Buch von über 700 Seiten Umfang erschienen: Kirchen aktiv gegen Armut und Ausgrenzung. Theologische Grundlagen und praktische Ansätze für Diakonie und Gemeinde.2 Ein Buch, dick und schwer wie Ziegelstein. In acht großen Kapiteln analysieren und diskutieren über 40 Autoren, zu denen auch meine Wenigkeit gehört, alle Fragen zu Armut und Ausgrenzung – von den exegetisch-historischen Grundlagen über theologisch-systematische und praktisch-theologische Ansätze, Kirche der Armen, sozialwissenschaftliche Zugänge, sozialpolitische Perspektiven bis hin zu Armut und Bildung sowie den Praxisfeldern der Armut. Wie ein Cantus firmus zieht sich durch viele Beiträge dieses großen Sammelwerks der biblisch-theologische Bezug auf die Option Gottes für die Armen. Gott ergreift Partei für die Unterdrückten (Ex 3,7). „Es sollte überhaupt kein Armer unter euch sein.“ (Dtn 15,4) Gleich zu Beginn wird eine wichtige Passage aus der EKD-Denkschrift „Gerechte Teilhabe“ zitiert: „Die Hinnahme von unfreiwilliger Armut in der Gesellschaft stellt ein individuelles wie gesellschaftliches Versagen vor Gottes Angesicht und seinen Geboten dar. Unsere Gesellschaft verfügt über ein in der Geschichte noch nie da gewesenes Ausmaß an Ressourcen; deswegen gibt es keine Entschuldigung, unzureichende Teilhabe und Armut nicht entschieden überwinden zu wollen.“3. Und dann heißt es weiter: „Seit Jesus Christus gehört es zur KernAufgabe der Kirchen, sich gegen Armut und Ausgrenzung zu engagieren. Der wesentliche Beitrag des Christentums zur Kultur des Abendlandes ist die Erhebung der Niedrigen“, wie sie im Magnificat formuliert ist.4 Das klingt mir etwas zu vollmundig und stimmt so formuliert 1 2 3 4 Ich habe diesen Vortrag auf zwei Armutskonferenzen der Pommerschen Evangelischen Kirche in Stralsund und in Torgelow im Mai und Juni 2011 gehalten. In Stralsund wurde er ergänzt durch das Referat des Sozialrichters David von Glisczynski, der einen Einblick in die Prozesse zu Hartz IV lieferte, in Torgelow durch das Referat von Vera Sparschuh über das Forschungsprojekt: „Armut im ländlichen Kontext“. Ich habe die Vortragsform beibehalten. Der Vortrag wurde zuerst veröffentlicht im Amtsblatt der Pommerschen Evangelischen Kirche 3 (2012), 103–111. Johannes Eurich/Florian Barth/Klaus Baumann/Gerhard Wegner (Hg.), Kirchen aktiv gegen Armut und Ausgrenzung. Theologische Grundlagen und praktische Ansätze für Diakonie und Gemeinde, Stuttgart 2011. Johannes Eurich, Einleitende Überlegungen, in: Eurich u.a., Kirchen, 9–18: 9; Gerechte Teilhabe: Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität ; eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Armut in Deutschland ; mit einer Kundgebung der Synode der EKD, Gütersloh 2006, 15. Eurich, Einleitende Überlegungen, 11. Die Ausgegrenzten 19 auch nicht ganz – Kernaufgabe war doch die Verkündung des Evangeliums, zu deren praktischer Seite die Armenfürsorge gehörte, die denn auch ein Mittel seiner Ausbreitung war. Aber dies große Sammelwerk verdient allen Respekt. Der Band zeigt, wie wachsam und sensibel Kirche und Diakonie in der Armutsfrage inzwischen sind. Das finde ich gut, und doch muss ich etwas Wasser in den Wein des Lobs gießen. Oft wird in den Artikeln nicht berücksichtigt, dass die guten sozialethischen Forderungen der Bibel in einer völlig anderen gesellschaftlichen Situation entstanden sind, der einer agrarischen Mangelgesellschaft, in der es keinen Rechtsanspruch auf Hilfe gab und die Armen tatsächlich auf die Barmherzigkeit ihrer Mitmenschen angewiesen waren. Deswegen die häufigen Ermahnungen zur Nächsten- und Fremdenliebe, die ständigen Appelle, die Armen, Fremdlinge, die Witwen und Waisen zu schützen, die Tagelöhner am gleichen Tage zu entlohnen usw. Es wird so oft angemahnt, weil es eben nicht selbstverständliche Praxis war. Wir dürfen nicht vergessen: Das Sozialrecht im alten Israel war kein positives Recht, sondern ein Erbarmensrecht, genauer sogar nur ein Erbarmensappell, dessen Sanktion darin bestand, den sozialen Unterdrückern Gottes Zorn anzudrohen. (Ex 22,21 ff.). In einem ersten „Sozialgesetz“, dem Bundesbuch, werden die Armen, die Witwen und Waisen und die Fremdlinge unter den Schutz Gottes gestellt. Ein Existenzminimum wird angemahnt (Ex 22,25 f.). Es dauert aber noch ein Jahrhundert bis in Israel die Randgruppen strukturell geschützt werden. Durch die Einrichtung einer Sozialsteuer (statt Abgabe an König und Tempel) und durch ein Schuldenerlassjahr sollten durch Missernten und feudale Tribute erzwungene soziale Verwerfungen wieder rückgängig gemacht werden (Dtn 14,22 ff.;15,1 ff.). Das Recht diente also, damals durchaus fortschrittlich, dazu, die Wirtschaft zu regulieren, die keineswegs eigengesetzlich gesehen wurde, und dazu, die rechtlos gemachten wieder mit Rechten zu versehen. Das ist der Sinn der Barmherzigkeit, die auf Gerechtigkeit zielt. Ob der Schuldenerlass im siebten Jahr in Israel gängige Praxis war, ist nicht direkt belegt. Allerdings deutet die Mahnung in Dtn 15,9, dem armen Bruder auch vor dem siebten Jahr noch zu leihen, darauf hin. Man kann den Gedanken der Entschuldung als „Recht auf einen Neuanfang“ (Ebach) interpretieren. Schulden sind sowohl konkret materiell als auch psychologisch-spirituell. Verschuldung führt zur Schuldknechtschaft, zu Hunger, Elend und Armut wie zu Schuldgefühlen, Selbstvorwürfen und Selbstzweifeln. Entschuldung wie Schuldvergebung befreien von diesen knechtenden Verhältnissen und den sie begleitenden Gefühlen.5 Das zeigt sich noch in der entsprechenden Bitte des Vaterunsers „Vergib uns unsere Schuld“, die begrifflich zwischen Schuld und Schulden changiert. 5 Was später funktionierte, war die jüdische Armenhilfe. Arme Juden erhielten aus der Gemeindekasse Unterstützung, die Gerechtigkeit und Liebeserweise (Zedaka und Gemilut Chassidim) genannt wurden, besonders verwaltet von den Frauen, halten sich im Judenturm über Maimonides mit seinem Warenkorb und den Sozialethiker Vires durch bis hin zu den Frauen, die zu Pionieren der Sozialarbeit wurde, ich nenne Alice Salomon und Siddi Wronsky, die die sozialarbeiterische Profession als Zedaka in der Industriegesellschaft 20 Hans-Jürgen Benedict Jesus nimmt in seiner Seligpreisung der Armen diese Tradition auf und verbindet sie mit dem Kommen des Reiches Gottes: „Selig seid ihr Armen, denn das Reich Gottes gehört euch; selig seid ihr, die ihr jetzt hungert, denn ihr sollt satt werden.“ (Lk 6,20 f.) Aber er gründet kein Armutsbekämpfungsprogramm oder ein Diakonisches Werk in Palästina mit seinen 20% Bettelarmen und 60% relativ Armen. Und die Frühe Kirche feiert die Gegenwart des Herrn im Abendmahl als Mahl des Teilens, aber das Soziale ist Auswirkung, nicht Grundlage. Also: wir können die prophetische Sozialkritik und das biblische Sozialrecht zitieren und damit motivieren. Das ist der entschiedene ethische Monotheismus des Judentums, den Jesus übernommen hat und der bis heute wirkt im Gleichnis vom barmherzigen Samariter und den sechs Werken der Barmherzigkeit im Gleichnis vom Weltgericht: „Was ihr einem von meinen geringsten Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25,40) Das ist und bleibt wichtig als antiselektiver Impuls in der menschheitlichen Sozialgeschichte. Das hat sich ausgewirkt im sozialen Handeln und Helfen (siehe den Arbeiter-Samariterbund) bis in die Sozial-gesetzgebung von Weimarer Republik und Bundesrepublik (besonders vermittelt über den Sozialen Katholizismus). Und wenn wir das zitieren, wird uns etwas wohler ums Herz, weil wir etwas Frust über die widerständigen Verhältnisse los werden und unseren Zorn über die Verantwortlichen artikulieren können. Aber heute zitiert dient dies biblisch-soziale Erbe vor allem der innerkirchlichen Verständigung und Motivation. Aber wir leben nicht mehr in einer agrarischen Mangelgesellschaft, in der Gott als der Anwalt der Armen und anderer rechtloser Randgruppen beschworen werden muss. Wir leben in einer reichen Gesellschaft, in der es erstens genug zum Umverteilen von oben nach unten gibt und zweitens eine soziale Gesetzgebung, die zwar in Gefahr steht ausgedünnt zu werden, die aber existiert im Unterschied zu den biblischen, mittelalterlichen und neuzeitlichen Zeiten. Und deshalb gibt es wegen Hartz IV, wenn ich recht informiert bin, zehntausende vor Sozialgerichten bis hin zu Landessozialgerichten und dem Bundesverfassungsgericht anhängige Verfahren. Und der „sterbliche Gott“ (Hobbes), der Staat, hat ja tatsächlich gesprochen in Gestalt des Urteils des Bundesverfassungsgerichtes und die Hartz IV-Sätze – aufgrund der Berechnungen der Caritas – besonders für die Kinder armer Familien kritisiert. Was die Politik daraus gemacht hat, wissen Sie, die hier sitzen und das z.T. umsetzen müssen. Wir können den Politikern und Verbänden nicht primär mit biblischen Sprüchen kommen, wir müssen mit ihnen in harte Auseinandersetzungen um das Soziale gehen. Also noch einmal – wenn man dieses Buch Kirchen aktiv gegen Armut und Ausgrenzung zur Hand nimmt und darin liest, ist der Eindruck – großartig, wunderbar, Kirche und Diakonie sind zur Stelle, sie stehen an der Seite der Armen in unserem Land, sie helfen praktisch durch Beratung und üben Solidarität in vielen Armutsprojekten, sie skandalisieren, veranstalten begründeten. S. dazu Susanne Zeller, Nicht Almosen sondern Gerechtigkeit. Jüdische Ethik und ihre historischen Wurzeln für die Professionalisierung in der Sozialen Arbeit, in: Neue Praxis 28 (1998), 540–556. Die Ausgegrenzten 21 Armutskonferenzen wie die heutige und mahnen in öffentlichen Stellungnahmen, appellieren an das Gewissen der Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft, sie betreiben Lobbyarbeit für die Armen durch die Wohlfahrtsverbände bei Gesetzesberatungen usw. Der Eindruck ist nicht falsch, aber er täuscht auch. Wieso braucht man ein so umfangreiches Buch, wenn die Sache so klar ist? Ist die Vielfalt der behandelten Fragestellungen dem Umstand geschuldet, dass es doch nicht so einfach ist die relative Armut abzuschaffen? Denn der Umfang der kirchlich-diakonischen Aktivitäten kann nicht vergessen machen, dass sich dadurch an der Gesamtsituation wenig ändert. Das Leben der relativ Armen hierzulande wird an einigen Punkten erträglicher gemacht, aber abgeschafft wird die Massenarmut dadurch beileibe nicht. Eher verfestigt sie sich als soziale Spaltung und Ausgrenzung (auch durch den oft hochgelobten Beitrag von Kirchengemeinden zu einer parallelen Armuts- und Tafelgesellschaft, darüber später mehr). Denn Kirche und Diakonie kommen wie andere soziale Träger offensichtlich an die entscheidenden Ursachen der Armutsfaktoren nicht heran. Wieso eigentlich? 2. Prophetischer diakonisch-kirchlicher Einspruch für die Armen in der Systemgesellschaft Die sozialpolitischen Verhältnisse der BRD lassen sich durch bloße Ermahnung und Predigt eben nicht verändern. Man könnte fast sagen: Je häufiger die Option für die Armen wiederholt wird, umso wirkungsloser erweist sie sich. Oder: die Tatsache, dass sie so häufig wiederholt wird, zeigt, wie schwierig sie umzusetzen ist. Die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft scheren sich wenig um diesen biblisch-theologischen Einspruch. Sie haben nicht den Eindruck, falls sie überhaupt so denken und nicht eher den Staatsgedanken an die Stelle Gottes setzen, „vor Gottes Angesicht und seinen Geboten (so die eben zitierten EKD-Denkschrift) zu versagen“. Sie verstehen sich eher als verantwortungsbewusste Sozial- und Fiskalpolitiker, die durch ein neues Gesetz mit dem Schreckensnamen „Hartz IV! Menschen durch „Fordern und Fördern“ wieder in Arbeit und die deutsche Wirtschaft voran bringen wollen. Und sie sagen mit einem gewissen Recht, dass es die Aufgabe der sozial tätigen Professionellen ist, durch Beratung und Unterstützung diesen Menschen zu helfen, selbst tätig zu werden. Sie akzeptieren zwar, dass die Wohlfahrtsverbände sich als anwaltliche Vertretung der Armen verstehen und tätig werden, lassen sich aber dadurch nicht zu einer Politikgestaltung bewegen, die die Abschaffung der Armut und eine sozial gerechte Umverteilung von oben nach unten zum Zentralthema macht. Der sich ständige steigernde Reichtum der 10% ganz oben bleibt geschont, die Vermögenssteuer bleibt ausgesetzt, die Unternehmen werden entlastet und ihre Gewinne steigen, der Staat verzichtet zugunsten einer bestimmten Klientel auf Steuereinnahmen, die Nettolohnquote aber sinkt und die prekäre Beschäftigung für Millionen nimmt ständig zu. So ein dramatischer Kurswechsel, wie er jüngst in der Atomenergiepolitik 22 Hans-Jürgen Benedict angesichts der Katastrophe von Fukushima von der Regierung vollzogen wurde, ist in der Sozial-und Arbeitsmarktpolitik, leider sage ich, nicht vorstellbar. Die Politik begrüßt es zugleich, wenn Diakonie und Kirche Menschen motivieren, ehrenamtlich-zivilgesellschaftlich in der Armutsbekämpfung tätig zu werden und so die Zurückhaltung des Staats ausgleichen. Dabei aber soll es auch bleiben. Woran liegt das? Wir haben es hier mit einem Grunddilemma einer hochdifferenzierten Gesellschaft zu tun, was ich in einem kurzen Exkurs erläutern will. Das System sozialer Hilfen und Pflege ist ein System, das Menschen in schwierigen Lebenssituationen beratend, unterstützend und begleitend hilft. Es kann nicht das Problem der neuen Armut lösen, das primär von den Systemen Politik und Wirtschaft verursacht wird, ,z.T. auch vom System Bildung. Trotzdem haben sowohl Diakonie als christlich grundgelegtes Teilsystem Sozialer Hilfen sowie Kirche als Teilsystem Religion die Aufgabe, dort zu intervenieren, wo als fehler- bzw. sündhaft erkannte Zusammenhänge aus der Perspektive Gottes als verneint erscheinen und so ihre Veränderbarkeit anmahnen. Das ist die prophetisch-anwaltliche Rolle von Diakonie und Kirche, die es gilt unbeschadet ihrer gesellschaftlichen-systemischen Einbindung/Systemfunktion wahrzunehmen. So war es in Fragen der Apartheid, gerechter Handelspreise, Verbot von Kinderarbeit und Kindersoldaten, Schutz von Flüchtlingen/Verfolgten, Schutz ungeborenen Lebens, Menschenwürde von Sterbenden. So gilt es auch für die Exklusion von Armen hierzulande, die dadurch in ihrer Würde der Gottebenbildlichkeit eingeschränkt werden. „Eine Kirche, die auf das Einfordern von Gerechtigkeit verzichtet, deren Mitglieder keine Barmherzigkeit üben und die sich nicht mehr den Armen öffnet oder ihnen Teilhabemöglichkeiten verwehrt, ist nicht die Kirche Jesu Christi“, sagte ebenso klar wie pathetisch die EKD-Denkschrift „Gerechte Teilhabe“.6 Sie hat aber keine Sanktionsmittel, um diesen Einspruch durchzusetzen. Sie ist gewissermaßen auf Nothilfemaßnahmen, auf symbolische Aktionen und auf Lobbyarbeit für die Armen angewiesen. Anders gesagt: einerseits beschäftigt sich die Diakonie und vermehrt auch die Kirche in Gestalt der Kirchengemeinden, die Armutsprojekte betreiben, professionell mit der Armutsbekämpfung. Als solche, die das tun, sind sie Teil einer solidarischen Zivilgesellschaft. Andererseits ist die Diakonie durch ihre Einbindung in das System sozialer Hilfen bei dieser Tätigkeit eingeschränkt. Sie kann nicht gleichzeitig den Staat, der ihre anderen und das sind die mehrheitlichen Aufgaben finanziert (Altenhilfe, Behindertenhilfe, Pflege) grundsätzlich wegen der Armutsfrage attackieren und in Frage stellen. Ebensowenig kann die Kirche als Religionssystem, dessen hauptsächliche Aufgabe in Verkündigung, Unterricht und Seelsorge besteht und die bei der Finanzierung dieser Religionspflege die Hilfe des Staates in Anspruch nimmt (Kirchensteuererhebung und andere Staatsleistungen) sich vorrangig auf die Armutsfrage konzentrieren, mal abgesehen davon, dass in einer mittelschichtgebundenen Kirche die Armen 6 Denkschrift Gerechte Teilhabe, 15 Die Ausgegrenzten 23 überhaupt nicht zu ihrer direkten Klientel gehören. Eine zu große Fokussierung auf dieses Thema würde ihre normale Mitgliedschaft möglicherweise verärgern, zumal diese ja Steuern für das System sozialer Hilfen zahlen und damit diese Aufgabe als an zuständige Stellen delegiert betrachten. Kurz: Es gibt eine „Janusköpfigkeit von Diakonie als Zivilgesellschaft und als Teil des politischen Sozialstaats“7 und von Kirche als mit den Armen solidarische Kirche und als Kirche der Mitgliederpflege. Die Frage ist, wo sich diese beiden Aufgaben überschneiden, wo die vorrangige Solidarität mit den Armen gewissermaßen als Teil sozialer Hilfen bzw. als genuiner Ausdruck der Religionspflege erscheint und damit einen Politikwechsel befördert und nicht nur die Kompensation schlechter Politik. Das ist wirklich die spannende Frage, die darüber entscheidet, ob sich in der Politik etwas verändert, auch unabhängig von Wahlentscheidungen. Denn „Hartz IV“ wurde wohlgemerkt von einer rotgrünen Koalition in Gang gebracht. 3. Arme unter uns – Können wir mit der sozialen Spaltung leben? Vor einem Monat veranstaltete die Nordelbische Kirche zusammen mit dem DGB Nord ein Forum unter dem Titel: Gespaltene Gesellschaft – können wir damit leben? Eine der Antworten, die auf dieser hochrangig besetzten (leitender Bischof und DGB-Vorsitzender waren anwesend, sprachen Grußworte und beteiligten sich an der Diskussion) Veranstaltung gegeben wurde, war: ja, wir können damit leben, wir dürfen es aber nicht wollen. Besonders als Kirche und Gewerkschaft dürfen wir es nicht. Warum – darüber gleich mehr. Fakt aber ist, dass wir uns seit 20 Jahren in einer gespaltenen Gesellschaft eingerichtet haben. Vor 20 Jahren gebrauchte der Soziologe Ulrich Beck das Bild von dem Bus der Arbeitslosigkeit. Will sagen, wer arbeitslos wird, steigt in diesen Bus ein, fährt ein paar Stationen mit, um dann doch bald wieder auszusteigen. Arbeitslosigkeit sei kein dauerndes Schicksal. Das war so, ist aber anders geworden. Es gibt eine Gruppe von Ausgegrenzten und Abgehängten, die keine Arbeit mehr finden oder nur noch schlecht bezahlte, die dann ergänzender Leistungen bedarf. So haben wir zwar weniger Arbeitslose als noch vor fünf Jahren, aber mehr Menschen in Armut. Trotz der verringerten Arbeitslosigkeit haben wir aber einen deutlichen Anstieg bei der Kinderarmut, jedes siebte Kind (nach einer neuesten Statistik nur jedes zehnte Kind) ist inzwischen vom Armutsrisiko betroffen, was das Bundesverfassungsgericht dazu veranlasste, dem Gesetzgeber eine Neuberechnung des Hartz IV-Satzes abzufordern, eine Forderung, die mit der Bereitstellung von Bildungsgutscheinen nur unzureichend eingelöst wurde. Der Anstieg der Armutsrisikoquoten, sie stieg zwischen 1999 und 2008 um 50%, in den letzten Jahren, ist eine Folge der Hartz IV-Gesetzgebung. 11,4% der Wohnbevölkerung leben 7 Ernst-Ulrich Huster, Armut und Ausgrenzung als Herausforderung der christlichen Kirchen, in: Eurich u.a., Kirchen, 395–407: 405. 24 Hans-Jürgen Benedict laut SOEP 2008 auf einem Einkommensniveau unter 50% des äquivalenzgewichteten Medianeinkommens,8 laut Armutsatlas 2009 sind es sogar 14%9. Der Anstieg der Beschäftigtenzahlen kamen vor allem den kurzzeitig Arbeitslosen zugute; bei den Langzeitarbeitslosen ist nur ein leichter Rückgang zu beobachten, ein Teil von ihnen ist in 1 Euro-Jobs tätig, auch für diese sollen die Mittel jetzt gekürzt werden. Und wir haben das merkwürdige Bild, dass eine Institution wie die Diakonie, die den 1-Euro-Jobs gegenüber aus guten Gründen kritisch war, jetzt vehement gegen ihre Kürzung streitet. Sosehr haben sich die Bedingungen für Unterstützung von Arbeitslosen in den letzten zehn Jahren verändert. Weg von großen öffentlichen Beschäftigungsprogrammen und Programmen wie „Tariflohn statt Sozialhilfe“ zu kürzeren Arbeitsförderungsmaßnahmen und Arbeitsgelegenheiten. „Tiefe Risse gehen durch unser Land“, sagte das Gemeinsame Wort der beiden Kirchen 1997. Dies klare Wort zur sozialen Lage im geeinten Deutschland wollte diese Risse schließen helfen. Doch das Gegenteil ist geschehen – sie sind noch tiefer geworden und was schlimm ist: wir als Gesellschaft können damit leben. Die Milieus teilen sich auf in Gewinner und Verlierer. Bei immer mehr Menschen entsteht ein Gefühl des Driftens. Die klassenspezifische Verteilung des Armutsrisikos bleibt einerseits gleich und verändert sich – die Armut reicht jetzt mehr in die Mitte, verfestigt sich aber an den Rändern. Aber unsere Gesellschaft fällt noch nicht gänzlich auseinander. Wir haben gelernt mit der gesellschaftlichen Spaltung zu leben. Es gibt zwar Ausgrenzungen, es gibt ein Drinnen und Draußen, Arbeitsplatzbesitzer und Arbeitslose bzw. prekär Beschäftigte, Einheimische und Migranten, aber wir sitzen noch in einem Boot. Unsere Gesellschaft reproduziert sich in der Weise, dass sie ausgrenzt und trotzdem noch zusammenbleibt. Wenn wir sie als ein Boot auf hoher See betrachten, so sitzen da in einer Ecke diejenigen, die wir die Ausgegrenzten oder manchmal schon die Überflüssigen nennen. Sie sind nämlich überflüssig für unsere Volkswirtschaft. Eigentlich brauchen wir sie nicht mehr, aber wir werfen sie nicht über Bord, wir halten sie drinnen mit Mini- und Niedriglohnjobs, stocken diese auf, wenn nötig, wir halten sie drin mit Hartz IV-Regelsatz und Arbeitsgelegenheiten (1Euro-Jobs). Ab und an machen wir ihnen Vorwürfe – Sozialschmarotzer, dekadente Verhältnisse, die BILD-Zeitung wies auf „Viagra-Kralle“ „Jeden Tag eine neue Viagra-Pille gratis vom Sozialamt? Müssen wir Steuerzahler denn für alles blechen“ und „Miami-Rolf“ hin: „Ihm zahlt das Sozialamt die schöne Wohnung am Strand von Miami“. Sprüche wie: „Es gibt kein Recht auf Faulheit“, „Wer arbeiten kann, aber nicht will, der kann nicht mit Solidarität rechnen.“ – so der damalige Kanzler Schröder 2001 – beförderten die Faulenzer und Drückeberger-Debatten und waren die Eröffnung zur Hartz IV-Reform 2004. Denn die Armen, so heißt es, strengen sich zu wenig an (und das stimmt für jenen Teil von ihnen auch, denen wir in den Einkaufszonen als gesellige Trinkergruppen begegnen). Dann wieder, wenn 8 9 A.a.O., 396 f. Eurich, Einleitende Überlegungen, 10. Die Ausgegrenzten 25 ein neuer Bericht über die Folgen nicht zu leugnender Kinderarmut erschienen ist, haben wir einen Augenblick lang das Gefühl, so geht es auch nicht. Talkshow mit Kinderarmutsforscher Professor Butterwegge bei Anne Will, der bestürzende Fakten nennt. Doch dann gewöhnen wir uns wieder an die Spaltung und leben ganz gut damit. Es gibt eine Entsolidarisierung, die in der Struktur des Wirtschaftens liegt. Die einen machen Wohlstandsgewinne gegen die anderen. Der subjektive Solidaritätsverlust kommt hinzu: Wir haben gelernt wegzugucken, wenn wir den Armen begegnen, mal abgesehen davon dass wir ihnen in unseren getrennten Quartieren in der Regel nicht mehr begegnen. Segregation ist das. Oder wir sagen: „Geh doch zur Tafel.“ Es reicht, wenn die Armen einigermaßen versorgt sind, dafür gibt es ja die Tafeln, mit deren Hilfe können sie drin bleiben im Boot. Und dann denken wir zuweilen: irgendwie und ehrlich gesagt sind sie ja auch selber schuld an ihrem Schicksal, sie haben sich bildungsfern verhalten, nicht genug angestrengt, ihre Schulden sind auch ein Stück eigener Schuld usw. Und fragt man die Armen, so empfinden sie das oft auch selbst so. Kurz: Wir können mit der sozialen Spaltung leben, aber als Kirche und Diakonie dürfen wir es nicht wollen! 4. Ein Erklärungsmuster – die Ausgegrenzten sind auch selbst schuld. Relative Armut in einem reichen Land, das meint vor allem kulturelle und soziale Ausgrenzung dieser Menschen. Kinder armer Eltern können keinen im heutigen Verständnis attraktiven Geburtstag feiern, sie werden schlechter ernährt, unternehmen keine Urlaubsreisen, erhalten keine Nachhilfestunden. Soziologen wie Heinz Bude sprechen sogar schon fatalistisch von dem Ende der großen Erzählung, der Erzählung von der schrittweisen Bewältigung der sozialen Frage durch eine ständig erweiterte Integration: „Das Ende vom Traum der gerechten Gesellschaft“ heißt sein Buch „Die Ausgeschlossenen“ im Untertitel.10 Was nicht mehr funktioniert, sei die gesicherte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Exkludierte machten die Erfahrung, nirgendwo mehr richtig hinzugehören. Gerade die Transferleistungen können ihnen diese Erfahrung der Teilhabe nicht mehr vermitteln. Im Gegenteil, so Bude, sie hätten zu einer Kultur der Abhängigkeit geführt und er zitiert Tocqueville: Wer von der Wohlfahrt lebt, ist ohne Furcht, aber auch ohne Hoffnung.11 Das seien nicht mehr die alten Randgruppen, sondern Millionen von Ausgeschlossenen, die einen Keil durch unsere Gesellschaft treiben: „Kinder, die in Verhältnissen aufwachsen, wo es für keinen Zoobesuch, keinen Musikunterricht und nicht für Fußballschuhe reicht, junge Leute ohne Hauptschulabschluß, die sich mit Gelegenheitsjobs zufrieden geben müssen, Frauen und Männer im mittleren Alter, die freigesetzt worden sind und keine Aussicht auf Wiederbeschäftigung haben, Scheinselbständige 10 11 Heinz Bude, Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft, München 2008. A.a.O., 17. 26 Hans-Jürgen Benedict und Projektmitarbeiter ohne soziale Rechte, Minijobber und Hartz IV-Aufstocker, denen es kaum zum Leben reicht“.12 Bildungsdefizite und offensichtliche Körpermale der Unterschicht werden ausgemacht, sie sind sozusagen die neuen Kainszeichen einer gespaltenen Gesellschaft. Und dann sagt Bude auch (ich beziehe mich auf einen Vortrag im Hamburger Institut für Sozialforschung 2010): Es sei vor allem ihre Haltung, die sie nicht mehr den Anschluss an die gesellschaftliche Mitte finden lasse. Er nennt zwei Beispiele: ca. 20% ausbildungsmüde Jugendliche, die sich dem Unterricht verweigern und die Pädagogen zur Verzweiflung bringen. Sie seien die ehemals proletarischen Jugendlichen, die in anderen Zeiten mit ihrem Spaß am Widerstand trotzdem ihren Ort an Industriearbeitsplätzen fanden, wo ein hartes Verhalten durchaus angebracht war. Heute bekämen sie ohne Ausbildung nur noch billig entlohnte Dienstleistungsjobs und manövrierten sich mit ihren verratenen Träumen ins gesellschaftliche Aus. Zweites Beispiel: Eine alleinerziehende Mutter von zwei Kindern, lange auf einer Psychologenstelle tätig in einem staatlich geförderten Projekt, verliert ihren Job, weil die Gelder gekürzt werden. Sie zieht sich ins soziale Schneckenhaus zurück, geht zum Beispiel nicht zu einem Geburtstag einer Freundin, wo sie genau das fände, was sie braucht, nämlich Kontakte, Bekannte von Bekannten, die eine Idee haben, einen hilfreichen Rat für einen Job usw. Sie entwickelt ein institutionelles Misstrauen (die Behörden und Beratungsstellen sind nur für die anderen da). Sie verliert den Mut, greift zu Tröstern (Pillen, Alkohol), ihre Selbstachtungsstrategie wirkt kontraproduktiv. Sicher: Es ist zu einfach zu sagen, solche Menschen sind nur Opfer des Systems. Sie geben ihr Schicksal teilweise auch selbst aus der Hand, nehmen Zuflucht zu einer „Schicksalsmystik“ (Sparschuh): „wir können nichts tun“. Bude nennt die funktionale Arbeitsteilung, die Migrationsentwicklung und die Transformation des Wohlfahrtsstaats als Gründe dafür. Gab es früher den institutionalisierten Klassenkampf mit Streiks und Tarifauseinandersetzungen, bei dem auch die Verlierer sozusagen gewannen, in Gestalt höherer Löhne, so gibt es heute die passiven Verlierer, die Schicht der Überflüssigen, ALG-II-Empfänger und working poor. Das ist eine sozialwissenschaftliche Interpretation, die zwar Richtiges beobachtet, eben den „Statusfatalismus der unteren Schichten“ (Renate Köcher), die nicht mehr daran glauben, ihre Lage ändern zu können. Es wird eher mit Lähmung und mit Angst statt mit Protest reagiert. Prekarisierung führt eben nicht automatisch zur Gegenwehr, sondern eher zur Resignation. Es sind aber vor allem die Frauen, die die Familien noch zusammenhalten. Bei Bude wird aber zugleich die gewollte Begünstigung der Wirtschaft durch die Politik verschleiert bzw. entschuldig. Er gibt keine Handlungsmöglichkeiten mehr an und verzichtet auf eine normative Gerechtigkeitsdebatte. 12 A.a.O., 19 f. Die Ausgegrenzten 27 Das aber kann nicht der christliche Weg sein: Deswegen hat der „Hamburger AK Kirche und Gewerkschaften“ in einem Flugblatt zum 1. Mai aufgefordert − zu einer Debatte, die Klarheit schafft über Wege der sozialen Sicherung und einer Sozialpolitik, die der Würde des Menschen und den Anforderungen des Gerechtigkeitsbegriffs gleichermaßen entspricht; − zur Schaffung bzw. Wiederherstellung tarifpolitischer Strukturen, richtig ausgestaltet trägt ein solches System der Selbstregulierung zu größerer Verteilungsgerechtigkeit bei, auch im Sinn von gleichberechtigter Teilhabe aller; − zur Weiterentwicklung der Arbeitsmarktpolitik, die die inhumanen und kontraproduktiven Auswüchse der vergangenen Jahre beendet; − zu einer intensiven gesellschaftlichen Diskussion über eine möglichst gerechte Verteilung der Einkommen und Vermögen im Allgemeinen sowie speziell der im Verlauf der Finanzkrise entstandenen Lasten; dabei ist die Frage der Vermögens-, Börsenumsatz – und Erbschaftssteuern erneut aufzunehmen. Das sind unbequeme Forderungen, die in EKD-Texten tunlichst umgangen werden, weil die zuständigen Kammern überparteilich besetzt sind. Die Armutsfrage ist aber auch eine Reichtums- und Verteilungsdebatte. 2009 gab es sage und schreibe 860 000 Millionäre in Deutschland. Deswegen stellte die EKD-Synode 2006 in einer Kundgebung fest: „Inzwischen verfügt das reichste Zehntel der Bevölkerung nahezu über die Hälfte des Gesamtvermögens. Dagegen besitzt das unterste Drittel nicht viel mehr als ein Zwanzigstel. Mittlerweise gibt es vermehrt Löhne unterhalb des Existenzminimums, während Gehälter von Spitzenverdienern explodieren. Diese Entwicklung entwerte die Lebensleistung von Millionen Menschen.“13 Die Synode warnte vor einem Verlust von Akzeptanz des Reichtums. Gehört wird das aber nicht. Also noch mal zusammengefasst: Wir können mit der gesellschaftlichen Spaltung leben, aber als Kirche und Diakonie dürfen wir es nicht wollen, das gebietet die Option für die Armen. Kirche und Diakonie können als Dienstleister, Anwalt und Solidaritätsstifter einiges tun, um die Lage der Armen zu verbessern. 5. Anwaltliche Voten für die Armen Eine traditionelle Rolle von Diakonie und Kirche ist die des stellvertretenden Anwalts der Armen: „Sprechen für die, die keine Stimme haben“(Martin Luther King). Bereits 1989 gab es ein Wort der EKD-Synode: „Armut in Deutschland“.14 Darin wird auf die dramatisch gestiegene Zahl der Sozialhilfeempfänger und der Arbeitslosen aufmerksam gemacht. Kirche dürfe hier nicht schweigen. Die Gemeinden werden zu genauer Wahrnehmung und zur 13 14 Denkschrift Gerechte Teilhabe, 84. Ingrid Breckner, Die Armen und die Reichen. Soziale Gerechtigkeit in der Stadt, Hamburg 1993, 85 ff. 28 Hans-Jürgen Benedict Unterstützung der Armen aufgefordert, Armutsberichte und eine Reform der Sozialhilfe werden angemahnt. In den folgenden anderthalb Jahrzehnten haben Diakonisches Werk und Caritas in Armutsuntersuchungen immer wieder auf den Anstieg der Armutsbevölkerung hingewiesen und sind anwaltlich für armutsfeste soziale Sicherungssysteme eingetreten. Besonders zu erwähnen ist das im September 1992 veröffentlichte Positionspapier des Deutschen Caritasverbandes unter dem Titel „Arme unter uns: Der deutsche Caritasverband bezieht Position“15, das auf einer bereits 1991 durchgeführten Klientenbefragung basierte. Niemand kann sagen, er habe es nicht gewusst. Damals schon gab es die Forderung, die soziale Sicherung armutsfest zu machen. 1995 führten Caritas und Diakonisches Werk eine Lebenslagenuntersuchung in Ostdeutschland durch, deren Ergebnisse 1997 der Öffentlichkeit präsentiert wurden. 1997 veröffentlichten die beiden großen Kirchen nach einem längeren Konsultationsprozess unter dem Titel „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ das sogenannte Sozialwort des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland.16 In dem Kapitel „Armut in der Wohlstandsgesellschaft“ wird eine deutliche Option für die Armen vertreten. Diese biblische Option halte an, „die Perspektive der Menschen einzunehmen, die im Schatten des Wohlstand leben und weder sich selbst als gesellschaftliche Gruppe bemerkbar machen können noch eine Lobby haben.“ Die Diakonie hat neben ihrem anwaltlichen Eintreten für die Armen viele kleine sogenannte Armutsprojekte unterstützt oder selbst aufgebaut, die die EKD-Denkschrift von 1998 „Herz und Mund und Tat und Leben“ als zivilgesellschaftliche Umsetzung Wicherns (Wichern III) deutete. Besonders das Projekt Hinz & Kunzt, die Kirchenkaten und die Einrichtung eines Spendenparlaments in Hamburg, mit denen man auf die wachsende Armut in der Stadt reagierte, wurden lobend erwähnt. Die Frage, ob die Diakonie als Teil eines Gesellschaftssystems, das immer mehr Menschen in die relative Armut treibt, mit gravierenden Folgen besonders für die Kinder, die in Armut leben, 17 nicht mehr und anderes tun kann, als anwaltlich und in Nothilfeprojekten darauf zu reagieren, wurde zwar gestellt; es kam jedoch zu keinem alternativen theoretischen Ansatz und seiner praktischen Umsetzung. Ein paar Jahre später sprachen sich die führenden Vertreter der evangelischen Kirchen für eine Annäherung an die rotgrüne Reform des Sozialstaates und nahmen ihre anwaltliche 15 16 17 Richard Hauser/Werner Hübinger, Arme unter uns Teil 1. Ergebnisse und Konsequenzen der CaritasArmutsuntersuchung, Freiburg 1993, 17–46. Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, hg. vom Kirchenamt der EKD Hannover und vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1997. Laut AWO Sozialbericht 2000, Bonn 2000, waren 1998 etwa 1 Million Kinder und Jugendliche auf Sozialhilfe angewiesen, eine gleich große Gruppe realisierte aus verschiedenen Gründen ihren Sozialhilfeanspruch nicht. Arbeitslosigkeit, Migrationshintergrund und Alleinerziehung sind die Hauptursachen für die wachsende Kinderarmut. S. dazu Christoph Butterwegge, Kinderarmut in Deutschland. Ursachen, Erscheinungsformen und Gegenmaßnahmen , Frankfurt/New York 2000; ders., Armut und Kindheit, Opladen 2003. Die Ausgegrenzten 29 Position teilweise zurück.18 Dann kam es zur Großen Koalition und zu weiterer Deregulierung. 2006 veröffentlichte die EKD die Denkschrift „Gerechte Teilhabe. Befähigung zur Eigenverantwortung und Solidarität.“ Diese sog. Armutsdenkschrift vertritt die Armutsdefinition, die dem Zweiten nationalen Armuts- und Reichtumsbericht der deutschen Bundesregierung zugrunde liegt: „Armut i. S. sozialer Ausgrenzung und nicht mehr gewährleisteter Teilhabe liegt dann vor, wenn die Handlungsspielräume von Personen in gravierender Weise eingeschränkt und gleichberechtigte Teilhabechancen an den Aktivitäten und Lebensbedingungen der Gesellschaft ausgeschlossen sind.“19 Solche gerechte Teilhabe für die Armen wiederherzustellen fordert sie. Die Denkschrift spricht aber nur noch von einem „Impuls zum sozialen Ausgleich“20. Sie weist auf die Gefahr eines Wohlfahrtspaternalismus hin, wenn durch bloße Finanztransfers nicht zu eigenverantwortlichem Handeln ermächtigt wird. Die Denkschrift fordert deswegen eine enge Verzahnung von Sozial-, Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik.21 Der gegenwärtig populären Tendenz (Armut macht dick und verblödet), allein mangelnde Bildung für die kulturelle Exklusion der Unterschicht verantwortlich zu machen, entgeht sie Gott sei Dank (wenn auch nur knapp). Der Niedriglohnsektor soll so klein wie möglich gehalten (was heißt das angesichts seiner grassierenden Expansion?), Beschäftigungsförderung für gering bezahlte Arbeitsplätze angestrebt werden. Das hört sich nach dem CDU-Kombilohn und des damaligen SPD-Ministers Lohnzusatz für ältere Arbeitnehmer an. So ist das nun mal in ausgewogenen Denkschriften. Immerhin plädiert sie wie die Diakonie für öffentlich geförderte und wo nötig auch direkt öffentlich bereitgestellte Arbeitsplätze.22 Ich meine: Gerechte Teilhabe muss staatlich gestaltet, notfalls erzwungen werden. Denn das von der Denkschrift zitierte Rawlssche Gerechtigkeitstheorem funktioniert in der Nachkriegsgesellschaft nur bis Ende der 1980er Jahre. Dann führte die Massenarbeitslosigkeit für immer mehr Menschen zum Ausschluss von der Teilhabe am Arbeitsmarkt und infolgedessen auch vom sozialen und kulturellen Geschehen. Die Verpflichtung zum sozialen Ausgleich (Sozialstaatsgebot) wurde zunehmend ebenso dereguliert wie die Arbeitnehmerrechte (Kündigungsschutz im Krankheitsfall, Tarif- und Mindestlöhne u.a.). Das aber sagt die Denkschrift leider nicht. Zudem kaschiert sie mit dem Begriff Teilhabe, dass inzwischen eine Schmälerung der Rechte stattgefunden hat. Es muss besser Beteiligung heißen (so Friedhelm 18 19 20 21 22 Der damalige EKD-Ratsvorsitzende Manfred Kock lobte angesichts des Berliner Ökumenischen Kirchentages 2003 den Reformkurs der rotgrünen Regierung, sein Nachfolger Wolfgang Huber sekundierte; die Deutsche Bischofskonferenz rückte in ihrem Impulstext „Das Soziale neu denken“ teilweise vom Sozialwort ab, s. Frankfurter Rundschau 14.12.2003. Auf einem Empfang des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD auf dem Kirchentag 2011 in Dresden bekräftigte Huber seine Position: das Problem von Hartz IV seien nicht seine Regelungen, sondern wie sie in der Öffentlichkeit vermittelt würden! Denkschrift Gerechte Teilhabe,18 A.a.O., 44 A.a.O., 14 A.a.O., 13 30 Hans-Jürgen Benedict Hengsbach). Also diese Denkschrift kann nicht das letzte Wort der Evangelischen Kirche zu dem Thema sein. In ihrer Anwaltsfunktion müssen sich Kirche und Diakonie auch stärker als Teil der Zivilgesellschaft und der sozialen Bewegungen gegen Armut sehen, Allianzen der Solidarität eingehen. Eine solche Allianz ist etwa die Beteiligung an der Nationalen Armutskonferenz, deren Sprecher ein Diakonie-Pastor (Wolfgang Gern) ist. 6. Barmherzigkeit und Begegnung – Notwendigkeit und Fragwürdigkeit der Tafeln, Vesperkirchen und Kirchenküchen. Die Tafelbewegung ist die erfolgreichste Bürgerinitiative der letzten 10 Jahre Die Grundidee ist so einfach wie erfinderisch – überflüssige Lebensmittel werden an die wachsende Zahl von armen Menschen in der Bundesrepublik verteilt. Trotzdem werden besonders die Tafeln von der Diakonie wie von der Sozialarbeitsforschung in letzter Zeit stärker kritisiert. Geschieht das zu Recht? Seit der Hartz IV-Reform im Jahr 2004 ist die Zahl der Tafeln sprunghaft fast auf das doppelte angestiegen. Der Grund: „Hartz IV ist staatlich verordnete Unterversorgung.“ 23 Eine neue Unterschicht nimmt seit zehn Jahren ergänzende Armutsdienste wie die Tafeln, Suppenküchen, Vesperkirchen, Kleiderkammern, Umsonstläden etc in Anspruch, um einigermaßen zu recht zukommen. Die Wissenschaft (R. Castel) spricht von der Spaltung der Gesellschaft in verschiedenen Zonen. Zwischen der „Zone der Integration“ mit einigermaßen gesicherter Normalbeschäftigung und der „Zone der Entkoppelung“, der von regulärer Erwerbsarbeit Ausgeschlossenen, gibt es eine sich ausweitende „Zone der Prekarität oder Verwundbarkeit“. Zu ihnen gehören Zeit- und Leiharbeiter, Minijobber, Teilzeitbeschäftigte, Niedriglöhner, schließlich die 1- Euro-Jobber der zeitweilig Arbeitslosen. Wer aus einer Leiharbeitsstelle geflogen ist und Sozialgeld bezieht, für den kann es ab Monatsmitte klamm werden. Auf einmal befindet er oder sie sich fast ganz unten und nimmt die Hilfe der Tafel und Küchen in Anspruch. Tafeln sind einerseits notwendig, weil sie die unzureichende staatliche Grundsicherung ergänzen. Sie sind andererseits fragwürdig, weil sie durch ihren Dienst zu einer Verfestigung von Armut beitragen. Der Diakonie-Text „Es sollte überhaupt kein Armer unter euch sein“ nennt das ein „Dilemma von Armutslinderung und Armutsverfestigung“ 24. Tafeln sind nach Aussage des Tafeln-Forschers Stefan Selke ein „Pannendienst an der Gesellschaft“, sozusagen der ADAC-Pannenwagen für Arme auf der Versorgungsebene, sie lindern Not, ohne ihre 23 24 Franz Segbers, Pflaster auf einer Wunde, die zu groß ist. Tafeln, Sozialkaufhäuser und andere Dienste zwischen Armutslinderung und Armutsverfestigung, in: Eurich u.a., Kirchen,, 475–493: 476. DW EKD, „Es sollte überhaupt kein Armer unter euch sein“. Tafeln im Kontext sozialer Gerechtigkeit, Diakonie-Texte Berlin 2010, 25. Die Ausgegrenzten 31 Ursachen zu bekämpfen. Tafeln können Spaltungsprozesse regional und lokal ruhig stellen, aber keine dauerhafte Lösung für das Problem gesellschaftlicher Spaltung sein. Deswegen sagt das Diakonie-Papier: „Tafeln dürfen nicht zum Bestandteil einer staatlichen Strategie zur Überwindung von Armut werden.“25 Also im Klartext geredet: Je mehr Tafeln es gibt, umso größer ist das Versagen des Staates. Gerade Kirche und Diakonie mit ihrer Geschichte der Mildtätigkeit müssen aufpassen, dass sie diesen Prozess nicht unfreiwillig unterstützen. Sie würden mit ihrer Versorgungs- und Tafelhilfe in jenen Assistentialismus zurückfallen, den staatliche und kirchliche Entwicklungspolitik auf internationaler Ebene längst aufgegeben hat. Unzureichende Hartz IV-Sätze bringen also einen übrigens geringen Teil der Armen dazu ihre Scham zu überwinden und zur Tafel zu gehen. Die Tafelnutzer müssen dabei nehmen, was ihnen die Überflussgesellschaft übrig gelassen hat. Nebenbei tragen Tafeln tragen zur Entsorgung des Lebensmittelüberschusses von Supermärkten und Hotels bei, sie ersparen ihnen teure Entsorgungskosten und vermitteln Metro, REWE, Edeka u.a. zudem einen Imagegewinn, da sie ja was Gutes für die Armen tun. Die vielen freiwilligen Helfer, die bei den Tafeln mitarbeiten, es sind ca. 40 000 sollten sich darüber klar werden, was sie mit ihrer zunächst lobenswerten Tätigkeit tun. Bedenklich genug haben die Ehrenamtlichen, die bei Tafeln mitarbeiten (immerhin 68% nach Selke), keine oder fast keine Vorstellung davon. Für sie ist das sofort helfen wichtig, nicht die politische Perspektive. „Handeln nicht Reden“ ist ihr Motto. Sie tun das manchmal mehr für sich und ihr Selbstwertgefühl als für eine effektive Armutsbekämpfung. Anders ist das bei den Hauptamtlichen, die sich nach Selke Gedanken über eine Exit-Strategie und politische Anwaltlichkeit machen. Die Ehrenamtlichen aber bestimmen die Politik des Tafelverbands. Ihr bürgerschaftliches Engagement ist Teil einer Strategie der „Neuerfindung des Sozialen“ (Lessenich), das von den Bürgern mehr Aktivierung fordert, um den Sozialstaat zu entlasten. Dieser wird auf seine Kernaufgaben reduziert. Was der rechtsbasierte fürsorgliche Wohlfahrtsstaat an Beratung und Unterstützung den Menschen in schwierigen Lebenslagen leistete, das soll angesichts der wachsenden Zahl von Unterstützungsempfänger zum einen bürokratisch durch Fordern abgelöst werden, zum andern, wenn es nicht greift, durch bürgerschaftliches Engagement der Armenversorgung, um nicht zu sagen: Armenspeisung. Die Tafeln gehen vor diesem Hintergrund „eine unheilvolle Symbiose mit den Regierungen ein, deren neoliberale Politik genau die Kürzungen erfordert, die den Tafeln die Kundschaft bringt.“26 Auf Kirche bezogen: die Neuordnung des Sozialstaats bringt den Kirchen und ihren 25 26 A.a.O., 5. Stefan Selke, Das Leiden der Anderen. Die Rolle der Tafeln zwischen Armutskonstruktion und Armutsbekämpfung, in: Ders., Tafeln in Deutschland. Aspekte einer sozialen Bewegung zwischen Nahrungsmittelumverteilung und Armutsintervention, Wiesbaden 2009, 28. 32 Hans-Jürgen Benedict Gemeinden jene Armutsprojekte, die es nach einer guten jüdisch-christlichen Tradition nicht geben sollte, weil sie keine neuen Rechte garantieren. Wenn sich einige Gemeinden durch Armutsprojekte wieder verlebendigen, wie Heinrich Grosse in seiner empirischen Untersuchung „Wenn wir die Armen unser Herz finden lassen“ 27 herausgefunden hat, so ist das zwar begrüßenswert, aber doch ein zweischneidiger Erfolg, wenn erst die Armut vieler Menschen Gemeinden zu solidarischem Handeln und damit zu neuer Bedeutsamkeit bringt! Zugespitzt gesagt: Armut als Motor von Gemeinde-Aktivierung, das ist lobenswert und darf es doch nicht sein bzw. das darf es nur sein, wenn damit politische Konsequenzen verbunden werden! Wiederholt sich hier ein Schema des 19.Jahrhunderts, als das Wachstum „entsittlichter“ armer Problemgruppen infolge der Industrialisierung zur Gründung der Vereine der Inneren Mission führte, die aber keine strukturelle Lösung dieses Problems anstrebten, sondern die Not der entkirchlichten Armen auch zu ihrer Missionierung und sittlichen Bildung benutzten und zur Gründung eines Wohlfahrtsverbands? Nach wie vor ist der kernige Spruch von Pestalozzi als Warnung zu hören: „Wohltätigkeit ist das Ersäufen des Rechts im Mistloch der Gnade“. Um den Fallen der Tafelarbeit zu entgehen, sind folgende Handlungsempfehlungen zu beachten: a) Lebensmittelarbeit ist mit Beratungsarbeit und weiterführender professioneller Hilfe zu verbinden. Das ist die Chance gerade kirchlicher Tafel-Projekte in Zusammenarbeit mit den professionellen Diensten von Diakonie und Caritas. Keine Tafel ohne Verweise auf Beratung. „Diese Kooperation kann den Qualitätsstandard kirchlichen Tafelengagements sicherstellen.“28 b) Tafeln und Vesperkirchen können symbolische Aktualisierungen des urchristlichen Traums einer egalitären Gesellschaft und der Konvivenz von Verschiedenen sein. So die bundesweit bekannte Vesperkirche in der Stuttgarter Leonhardskirche Die Initiatoren sagten: „Am Anfang stand die Idee: Menschen, die sich sonst nicht begegnen, sollten an einem Ort zusammenkommen um miteinander zu leben.“ Und: „Die Vesperkirche bietet mehr als einen Teller warme Suppe…Menschen finden in der Vesperkirche zwischen Januar und Palmsonntag, was sie zum Überleben brauchen.“ Claudia Schulz hat auf das „Nebeneinander von Elend und Festlichkeit“ 29 hingewiesen. Indem die Armen in der Gemeinschaft der Kirche und im Kirchraum auftreten und dort essen, geschieht eine gewisse Überwindung der Unsichtbarkeit von Armut im Alltag. Denn 27 28 29 Heinrich Grosse, „Wenn wir die Armen unser Herz finden lassen...“ – Kirchengemeinden aktiv gegen Armut und Ausgrenzung. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD, epd-Dokumentation Nr. 34, 14.08.2007; s. auch ders., Von einer Kirche für die Armen zu einer Kirche mit den Armen?, in: Eurich, Kirchen, 309–328: 309 ff. Segbers, Pflaster auf einer Wunde, 489; zum Folgenden s. auch Hans-Jürgen Benedict, Pannendienst an der Gesellschaft, Tafeln und Kirchenküchen in der Kritik, NDR Kultur, 13.11.2011. Claudia Schulz, Arme Menschen in der Kirche und ihren Gemeinden, in: Eurich u.a., Kirchen, 280–298: 294. Die Ausgegrenzten 33 abgesehen von den Trinkertreffpunkten im öffentlichen Raum verstecken sich viele Arme in ihren abgehängten Quartieren und Wohnungen und fallen damit den Bessergestellten nicht optisch und möglicherweise damit auch seelisch zur Last. Wo sie sich in großer Zahl an zentral gelegenen Kirchen einfinden, auch mit alkoholischen Getränken und sie begleitenden Hunden, sind sie ein Ärgernis für die Normalen. Sie stören unser Bild von einer gut geordneten überraschungsfreien Konsum- und Erlebnisgesellschaft. Die Vesper-Kirche dramatisiert so auch gesellschaftliche Spaltung, wie es schon das Projekt des Verkaufs von Straßenmagazinen durch Wohnungs- und Obdachlose tut, die vor Supermärkten stehen oder in der S-Bahn das Publikum ansprechen. Können Kirchengemeinden also eher symbolisch das vorleben, was die Gesellschaft nicht hinbekommt, eben ein Zusammenleben mit den Ausgegrenzten, eine Konvivenz der Verschiedenen? Können wir den „Überflüssigen“, die gerade noch geduldet in einer Ecke des Gesellschaftsschiffes sitzen, mehr beteiligen, mehr Anerkennung geben, besser wahrnehmen? c) Dazu braucht es drittens auch des Muts zur politischen Einmischung. Wer die Organisierung einer Tafel übernimmt, hat damit auch „ein besonderes politisches Mandat“30. Die Tafelbewegung muss sich an Initiativen zur Überwindung solcher Notlagen beteiligen, die die Tafeln erst nötig machten. „Erfolg haben die Tafeln erst dann, wenn sie überflüssig werden.“31. Der Diakonie-Text hält jedoch die Forderung der Abschaffung der Tafeln für nicht plausibel, da sie sich in der Mitte des von Dt 15,4 bezeichneten Spannungsfeldes – Arme sollen nicht sein, aber es gibt allezeit Arme – befänden. d) Denkbar wäre auch ein Boykott- und Aktionstag aller Tafeln, Kirchenküchen, Arbeitslosencafes, Kleiderkammern etc. Das hieße: Für einen oder mehrere Tage die Hilfe einstellen, um der Öffentlichkeit zu demonstrieren, wie der an sich zuständige Staat sich daran gewöhnt, dass ein Teil der Armen durch bürgerschaftliches Engagement bloß „geziemlich versorgt“ (Luther) ist und er damit der Sorge enthoben ist, strukturelle Maßnahmen zu ergreifen, die die Spaltung der Gesellschaft beenden. Vielleicht könnte sich das zu einer „Kampagne der Armen“ (Martin Luther King) entwickeln, die einer reichen Gesellschaft den Spiegel ihrer Kehrseite vorhält. e) Schließlich sollten Tafeln und Kirchenküchen darauf achten, dass sie die Nutzer als gleichberechtigte Subjekte sehen, nicht in der Objektrolle von bloß Empfangenden. Tafeln und Kirchenküchen sollten ihre Selbsthilfekräfte stärken (etwa Kochkurse für günstige und gehaltvolle Ernährung anbieten oder die Nutzer an der Essensvorbereitung beteiligen). 30 31 DW EKD, Es sollte überhaupt kein Armer, 22. Segbers, Pflaster auf einer Wunde, 490. 34 Hans-Jürgen Benedict f) Sinnvoll ist es, als Tafel bei der Kommune darauf hinzuwirken, dass die Tafelnutzung mit einem Beteiligungsrecht auf Nutzung städtischer Einrichtungen (Bücherei, Musikschule, Schwimmbad, Zoo) verbunden wird. 7. Tätig werden im politischen Raum – Option für die Armen als praktische Lobbyarbeit am Beispiel der Caritas Das Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung ist vorüber. Die meisten Mitglieder der bessergestellten Schichten haben wohl gar nicht mitbekommen, dass es dieses Jahr gegeben hat. Caritas Europa hatte 2010 eine Kampagne ZERO POVERTY ins Leben gerufen, die Ende des letzten Jahres eine Petition gegen Armut den Europäischen Institutionen überreichte. Darin wurden konkrete Gesetzesinitiativen gegen Armut verlangt. Aber auch das fand keine Aufmerksamkeit in der Presse. Dies ist das jüngste Beispiel für Lobbyarbeit der Wohlfahrtsverbände im Interesse der Armen, die nicht, wie es auch oft geschieht, vor allem der Sicherung von Marktanteilen sozialer Dienstleister gewidmet ist. Zu nennen ist hier auch das Sozialmonitoring. Im Oktober 2003 hatten die Präsidenten der BAGFW die Gelegenheit, mit Kanzler Schröder über die Gefahren der später als Hartz IV bekanntgewordenen Gesetze zu sprechen. Damals wies Caritas- Präsident Neher auf die negativen Auswirkungen für die Menschen im unteren Einkommensdrittel hin. Es wurde danach verabredet, sich weiterhin zu treffen und über die Auswirkungen der Sozialreform und dann auch der Gesundheitsreform zu sprechen. Das geschah zweimal jährlich bis 2009. In einer gemeinsamen Erklärung sagte die Regierungsseite, dass sie es „ begrüßt, wie die freie Wohlfahrtspflege als sensible Fürsprecherin für die betroffenen Menschen intensiv die Auswirkungen von Sozialreformen beobachtet und um weiterführende Lösungsvorschläge bemüht ist.“32. Ist das ein zweischneidiges Lob – gut dass ihr dabei seid und schlimmste Fehler mit behebt, aber an der Grundstruktur dürft ihr nichts ändern?! Thomas Becker weist in nicht ohne Stolz darauf hin, dass es der Intervention der Wohlfahrtsverbände zu verdanken ist, dass zum einen auf den Vorschlag der freien Wohlfahrtspflege hin ab dem Schuljahr 2009/10 im SGB II bzw. SGB XII eine „zusätzliche Leistung für die Schule“ in Höhe von 100 € je Schüler gewährt wird, dass zum andern das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9.2.2010 betr. den neuen Kinderregelsatz auf Berechnungen und Vorschläge des Caritasverbandes zurückgeht.33 Die Caritas hatte kritisiert, dass der Regelsatz von Kindern mit einem willkürlich festgesetzten Prozentwert aus dem Regelsatz alleinstehender Erwachsener abgeleitet was dem spezifischen Bedarf der Kinder nicht gerecht wird, etwa den Kosten für Bildung, Spielzeug, 32 33 Zit. n. Thomas Becker, Die Lobbyarbeit des Deutschen Caritasverbandes am Beispiel der Bekämpfung der Kinderarmut, in: Eurich u.a., Kirchen, 460–474: 462. A.a.O., 463 ff. Die Ausgegrenzten 35 Kinderbetreuung. Die einzelnen Kritikpunkte des Caritasverbandes sind Fehlbedarfe, die von Fachleuten entdeckt und artikuliert werden, etwa der systematische Fehler bei der Berechnung von Verkehrsausgaben. Toll, dass das jetzt über das Urteil des BVerfG vom Gesetzgeber korrigiert werden muss. Die Umsetzung ist über Bildungsgutscheine, der Staat in der Rolle des Erziehers nicht ganz mündiger Eltern, ist allerdings wieder zweifelhaft und wird die nächste Kritik im Sozialmonitoring nach sich ziehen. Ein fast unabschließbarer Prozess von knapper und strenger Staatspolitik gegenüber den Armen und ihrer anwaltlichen Kritik seitens der Verbände. Wie einfach hatte es doch da Jesus mit seiner schönen Einladung: „Lasset die Kindlein zu mir kommen und hindert sie nicht daran, denn Menschen wie ihnen gehört das Reich Gottes“(Mk 9,14) Aber die Caritas mit ihrer Lobbyarbeit in Sachen Kinderarmut steht hier gleichwohl in der Nachfolge Jesu, nur unter ganz anderen, hochkomplexen gesellschaftlichen Bedingungen. Insofern ermuntere ich trotz aller ernüchternden Differenzierungen in dem bislang Gesagten zu weiterer Unterstützung, Beratung, Anwaltlichkeit und Lobbyarbeit für und mit den Armen unserer Gesellschaft. Dr. Hans Jürgen Benedict war Professor an der Evangelischen Hochschule für soziale Arbeit und Diakonie des Rauhen Hauses in Hamburg. Sterben in Würde? Worauf es ankommt1 Heinz Rüegger Sterben ist nicht einfach ein biologisches Geschehen, das nach immer gleichen Gesetzmässigkeiten abläuft. Es ist in hohem Masse kulturell bestimmt und ändert sich dementsprechend im Verlauf der Geschichte. Drei Entwicklungen haben das Sterben in jüngster Zeit stark geprägt: − die Langlebigkeit, die das Sterben zu einem Phänomen des hohen Alters hat werden lassen, − die Medikalisierung, die das Sterben der Zuständigkeit der Medizin unterstellt hat, − und die Beeinflussbarkeit des Sterbens, die es zu einem Gegenstand autonomen menschlichen (Mit-)Entscheidens gemacht hat. Sterben wird in die Hochaltrigkeit verlegt Früher bestand in jedem Lebensalter das Risiko zu sterben. Am höchsten war es im Kleinkindesalter und für Frauen beim Gebären. Der Demografiehistoriker Arthur E. Imhof hat dargestellt, wie in Europa etwa seit den 1920er Jahren so etwas wie eine durchschnittlich erwartbare „sichere Lebenszeit“ entstand.2 Wir können heute in der Regel davon ausgehen, dass wir bis ins achte Lebensjahrzehnt leben können, bevor uns der Tod ereilt. So hat in unseren Breitengraden die durchschnittliche Lebenserwartung in den vergangenen 100 Jahren um rund 30 Jahre zugenommen.3 Das hat dazu geführt, dass das Sterben vor allem zu einem Thema des hohen Alters mit all seinen Begleiterscheinungen geworden ist. Sterben wird medikalisiert Dazu kommt, dass Sterben zu einem Thema der Medizin geworden ist. Früher starben die Menschen meist in ihrem alltäglichen sozialen Umfeld. Sie wurden dabei von den Menschen begleitet, mit denen sie das Leben teilten. Als externer Fachmann für das Sterben galt allenfalls 1 2 3 Die folgenden Überlegungen wurden als Referat vorgetragen an einer Veranstaltung für Onkologie-Patienten im Kantonsspital Winterthur (08.04.13) und an einer Mitgliederversammlung des Vereins Hospizdienst Thurgau (28.05.2013). Arthur E. Imhof, Ars moriendi. Die Kunst des Sterbens einst und heute (Kulturstudien. Bibliothek der Kulturgeschichte 22), Wien 1991, 12 f.; ders., Von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit. Fünf historischdemographische Studien, Darmstadt 1988. „In der Schweiz stieg die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt bei Männern von 1900 bis 2011 von 46,2 auf 80,3 Jahre, bei Frauen von 48,9 auf 84,7 Jahre (Zahlen des Bundesamtes für Statistik). Sterben in Würde? Worauf es ankommt 37 der Geistliche. Heute sterben die meisten Menschen unter medizinischer, das heisst ärztlicher und pflegerischer Betreuung, also unter professionalisierter Aufsicht und in spezialisierten Institutionen: im Spital oder im Heim.4 Diese Medikalisierung, Professionalisierung und Institutionalisierung des Sterbens ging einher mit einem immer grösser werdenden Katalog möglicher technischer Interventionen, um das Sterben zu verhindern und das Leben zu verlängern. Der Mediziner Frank Nager hat eindrücklich beschrieben, wie dadurch Spannungen entstanden zwischen der in modernen Spitälern betriebenen Medizin und der im Zuge der gesellschaftlichen Arbeitsteilung eben diesen Institutionen und Professionen zugewiesenen Aufgabe, Menschen im Sterben zu begleiten.5 Klassische Schulmedizin versteht sich traditionellerweise primär im Dienst der Lebensverlängerung und des Kampfes gegen den Tod.6 Palliative Medizin ist demgegenüber der Versuch, wieder verstärkt ernst zu nehmen, dass auch eine gute Begleitung beim Sterben zu den zentralen Aufgaben der Medizin gehört. Sterben gerät vom Schicksal in die Zone des Entscheidens Schließlich ist auf eine dritte einschneidende Veränderung des Sterbens hinzuweisen. War früher das Sterben für Menschen der Inbegriff der Erfahrung eines fremdverfügten Schicksals, dem man sich zu beugen hatte, stehen uns heute zahlreiche Möglichkeiten zur Verfügung, medizinisch zu intervenieren, das Sterben zu bekämpfen und das Leben zu verlängern. Heute stirbt man meist nicht mehr einfach „natürlich“ oder „von selbst“. Neuere Untersuchungen haben ergeben, dass zum Beispiel in der Schweiz in 51% der Fälle, in denen Menschen in ärztlicher Begleitung starben, dem Sterben Entscheidungen vorausgingen, den betreffenden Menschen sterben zu lassen.7 Die alte Formulierung auf Todesanzeigen, es habe dem Herrn 4 5 6 7 Die Zahlen im Blick auf die Schweiz: „2007 ereigneten sich 34 Prozent der Todesfälle von Personen ab 75 Jahren im Spital, 51 Prozent in einem Pflegeheim (bzw. einer anderen sozialmedizinischen Institution) und 15 Prozent zuhause oder an einem anderen Ort. Der Anteil der Todesfälle in Pflegeheimen nimmt mit dem Alter zu: 75 Prozent der 90-Jährigen starben in einer solchen Einrichtung, gegenüber 20% im Spital“ (Medienmitteilung Nr. 0350-0910-10 des Bundesamtes für Statistik vom 17.09.2009). Das Bundesamt für Gesundheit weist in seiner Nationalen Strategie Palliative Care 2010–2012 darauf hin, dass sich „in den letzten Jahrzehnten das Sterben zunehmend in Institutionen (verlagerte). Aktuell findet innerhalb der Institutionen eine Verschiebung vom Spital in Alters- und Pflegeheime statt“ (Bern 2009, 11). Etwas ältere Zahlen bieten Susanne Fischer/Georg Bosshard/Ueli Zellweger/Karin Faisst, Der Sterbeort: „Wo sterben die Menschen heute in der Schweiz?“, in: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 37 (2004), 6, 467–474. Frank Nager, Gesundheit, Krankheit, Heilung, Tod. Betrachtungen eines Arztes, Luzern 31998, 60–62. Nager beschreibt die moderne Schulmedizin des 20. Jahrhunderts als „eine gigantische Veranstaltung gegen Sterben und Tod“ und hält fest: „Von Berufs wegen ist er (der Tod, H.R.) unser Feind, um nicht zu sagen – unser Todfeind. Vor allem in modernen Spitalzentren, die so inbrünstig auf Heilung von Krankheit und auf Verlängerung des Lebens eingeschworen sind, ist der Tod ein Scandalon. Krankenhäuser wollen nicht Sterbehäuser sein“ (ebd.). Christoph Rehmann-Sutter, Leben enden lassen. Ethik von Entscheidungen über das Lebensende, in: A. Krebs/G. Pfleiderer/K. Seelmann (Hg.), Ethik des gelebten Lebens. Basler Beiträge zu einer Ethik der Lebensführung, Zürich 2011, 271–293: 280. 38 Heinz Rüegger über Leben und Tod gefallen, den Verstorbenen zu sich zu rufen, greift heute zu kurz. Heute muss es auch noch dem Sterbenden selbst, der betreuenden Ärztin und möglicherweise den Angehörigen des Sterbenden gefallen, jemanden sterben zu lassen. Dass Sterben mit einem Entscheidungsprozess zusammenhängt, stellt eine neue Situation dar, weil während Jahrhunderten – abgesehen von Mord und Totschlag – nur ein einziger Fall bestand, in dem dem Sterben ein Entscheid voranging: derjenige des Suizids. Und der war moralisch, religiös und rechtlich mit allen erdenklichen Tabus und Sanktionen behaftet, um ihn möglichst nicht eintreten zu lassen. Heute gehört es zum Normalfall, dass es zum SterbenKönnen eines menschlichen Entscheides bedarf. Idealbilder eines „würdigen“ Sterbens Seit Jahrzehnten ist in unserer westlichen Kultur die Forderung nach einem „Sterben in Würde“ weit verbreitet.8 Sie wird als Idealbild beschworen und von Spitälern und Heimen mit Nachdruck eingefordert. Was darunter verstanden wird, steht nicht immer genau fest; die Palette der damit verbundenen Inhalte ist vielfältig. Dennoch kann man sagen, dass sich heute bei den meisten Leuten vor allem zwei zentrale Aspekte mit der Vorstellung eines würdigen Sterbens verbinden: − zum einen der Aspekt eines friedlichen, relativ schmerzfreien Sterbens ohne lange Leidenszeit; − zum anderen der Aspekt eines selbst bestimmten, autonom vollzogenen Sterbens. Die Identifizierung dieser Aspekte mit der Würde im Sterbeprozess ist in beiden Fällen hoch problematisch und verunmöglicht eher ein angemessenes Verständnis dessen, worauf es bei einem menschenwürdigen Sterben ankommt. Der Wunsch nach einem friedlichen Sterben Ich wende mich zuerst dem Wunsch nach einem friedlichen Sterben zu. Er ist sehr gut nachvollziehbar. Die meisten von uns würden gerne möglichst lange gesund leben, um dann relativ rasch, ohne lange Zeit des Leidens und des körperlichen Zerfalls, ohne demenziellen Abbau der geistigen Klarheit, ohne durch unerwünschte intensivmedizinische High-TechMaßnahmen daran gehindert zu werden, ruhig sterben zu können: abends einschlafen und am Morgen nicht mehr aufwachen. Wer würde diesen Wunsch nicht teilen! Es ist deshalb wichtig, dass die Definition der Ziele der Medizin im internationalen Hastings-Report von 1996 als 8 Vgl. die grundsätzlichen Überlegungen zu dieser Thematik in Heinz Rüegger, Sterben in Würde? Nachdenken über ein differenziertes Würdeverständnis, Zürich 22004. Sterben in Würde? Worauf es ankommt 39 letzten Punkt auch dies beinhalten, Menschen ein möglichst friedliches Sterben („a peaceful death“) zu ermöglichen.9 Problematisch wird es erst, wenn man – wie das heute allerdings weithin üblich geworden ist – ein solches friedliches Sterben zur Bedingung erklärt für ein „würdiges Sterben“; wenn also ein Sterben, das durch krankheitsbedingten körperlichen oder psychischen Abbau gekennzeichnet ist oder dem eine längere Zeit der Pflegeabhängigkeit vorausgeht, automatisch als unwürdig bezeichnet wird! Wo ein solches Verständnis Raum gewinnt, ist kritischer Einspruch nötig. Krankheitsbedingter Würdeverlust? 1994 setzte sich der Schweizer Nationalrat Victor Ruffy in einer parlamentarischen Motion mit dem Argument für eine Liberalisierung der aktiven Sterbehilfe ein, es gebe „unheilbare Krankheiten, welche mit fortschreitender Entwicklung die Würde des Menschen in schwerer Weise beeinträchtigen. Angesichts dieser Tatsache (hätten) in unserer Gesellschaft immer mehr Menschen den Wunsch, selbst über ihr Ende mitbestimmen und in Würde sterben zu können“,10 sei es durch eine auf ihren Wunsch hin an ihnen vollzogene Tötung im Sinne aktiver Sterbehilfe oder durch einen begleiteten Suizid unter Mithilfe einer Sterbehilfeorganisation wie EXIT oder Dignitas. Dem Label „Dignitas“ ist bezeichnenderweise der Claim zugeordnet: „Menschenwürdig leben – Menschenwürdig sterben.“ Die vom Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement daraufhin eingesetzte Expertenkommission kam ebenfalls zum Schluss, wenn es um so Wesentliches gehe wie „den Schutz des Lebens und der Menschenwürde“ müsse die Möglichkeit aktiver Sterbehilfe, also des Tötens auf Verlangen des Patienten, in Erwägung gezogen werden können, 11 denn – so ist offenbar die dahinter stehende Logik – durch rechtzeitige Tötung einer unheilbar kranken Patientin kann deren fortschreitender Würdeverlust rechtzeitig gestoppt und die Würde besagter Person in diesem Sinn „geschützt“ werden. Empirisch fundiertes Würdeverständnis Hier kommt ein Würdeverständnis ins Spiel, das davon ausgeht, dass Menschenwürde von empirischen Gegebenheiten (Lebensqualität, Schmerzen, Krankheitszustand, Pflegeabhängigkeit etc.) abhängt und graduell abnehmen kann. Diese Würde ist einem sterbenden 9 10 11 Werner Stauffacher/Johannes Bircher (Hg.), Zukunft Medizin Schweiz. Das Projekt „Neuorientierung der Medizin“ geht weiter, Basel 2002, 324–389: 327. Zit. in: Heinz Rüegger, Sterben in Würde?, 13. Zit. in: a.a.O., 14. 40 Heinz Rüegger Menschen nur bedingt eigen. Sie kann durch eine schwere, unheilbare und vielleicht in ihrem Erscheinungsbild Ekel erregende Form „in schwerer Weise beeinträchtigt werden.“ Würde hängt nach diesem Verständnis von empirischen Voraussetzungen ab; wer sie nicht erfüllt, dem wird Würde abgesprochen. Wo sich dieses empirisch fundierte Würde-Verständnis durchsetzt, geraten alte, leidende, sterbende Menschen unter Druck. Sie müssen befürchten, von ihrem Umfeld als würdelose Kreaturen angesehen – und im schlimmsten Falle womöglich als solche behandelt – zu werden, und es kann sich ihnen auf ganz subtile Weise die Frage nahe legen, ob sie zum „Schutz“ ihrer noch verbliebenen Würde und zur Entlastung der Angehörigen und der Gesellschaft nicht rechtzeitig ihren Tod herbeiführen sollten durch einen Akt, den man in Deutschland – in durchaus kritischer Absicht – schon als „sozialverträgliches Frühableben“12 bezeichnet hat. Die Überforderung durch das Idealbild eines würdigen Sterbens Dank enormer medizinischer und pharmazeutischer Fortschritte, in jüngster Zeit auch dank neuer Entwicklungen von Palliative Care, kann viel getan werden, um den Prozess des Sterbens zu erleichtern und ihn möglichst friedlich, also erträglich zu gestalten. Aber das lässt sich nicht garantieren! Die Würde des Sterbens an einem friedlichen Prozess des Sterbens festmachen zu wollen, dürfte jedenfalls problematisch sein und leicht zu einer Überforderung für alle daran Beteiligten werden. Der amerikanische Mediziner Sherwin B. Nuland hat in einem Buch beschrieben, wie man an den verschiedensten Krankheiten stirbt. Für ihn ist das viel beschworene Ideal eines „würdigen Todes“ ein Mythos. Er konstatiert: „Ich habe nur selten Würde (in dem heute weit verbreiteten empirischen Verständnis, H.R.) beim Sterben erlebt. Das Bemühen um Würde scheitert, wenn der Körper uns im Stich lässt.“13 Und die Geriaterin Regula Schmitt-Mannhart stimmt ihm zu: „Sterben ist nicht schön… Wir müssen lernen, uns einzugestehen, … dass wir unser vorgefertigtes Bild vom ‚würdigen Sterben‘ nicht verwirklichen können. Es ist eine Illusion zu meinen, dass wir ein Sterben ohne Belastung, ein ‚stressfreies‘ Sterben … erzwingen können.“14 So gesehen setzt die Forderung nach einem „würdigen Sterben“ die Sterbenden nur unter einen Leistungsdruck, der das Sterben noch schwieriger machen dürfte, als es ohnehin schon ist. 12 13 14 Diese Wortschöpfung geht auf den damaligen Präsidenten der deutschen Bundesärztekammer, Karsten Vilmar, zurück, der damit die Sparpläne der Bundesregierung kritisierte. Der Begriff wurde 1998 zum Unwort des Jahres erklärt. Sherwin B. Nuland, Wie wir sterben. Ein Ende in Würde?, München 1994, 18. Regula Schmitt-Mannhart, Altern und Sterben in Würde, in: M. Mettner (Hg.), Wie menschenwürdig sterben? Zur Debatte um die Sterbehilfe und zur Praxis der Sterbebegleitung, Zürich 2000, 257–268: 264–266. Sterben in Würde? Worauf es ankommt 41 Das klassische Verständnis der unverlierbaren Menschenwürde Demgegenüber gilt es im Blick auf eine humane Sterbekultur am klassischen, nämlich unbedingten − weil bedingungslosen − Würdeverständnis festzuhalten, wie es der UN-Charta der Menschenrechte von 1948, Art. 1 des Deutschen Grundgesetzes und Art. 7 der Schweizerischen Bundesverfassung zugrunde liegt.15 Nach diesem Verständnis kommt jedem Menschen eine Personwürde zu, die er sich nicht verdienen muss, die er aber auch nicht verlieren kann, sondern die ihm einfach gegeben ist, unantastbar, einfach weil er ein Mensch ist: ob Bettler oder Königin, ob geistig behindert oder Nobelpreisträger, ob chronisch krank oder topfit – alle Menschen haben die gleiche, unverlierbare Würde. 16 Man spricht hier von einem normativen, d.h. von keinen empirischen Vorbedingungen abhängigen Verständnis von Würde. Das Anliegen, in Würde zu sterben, darf darum nicht die Einsicht verdunkeln, dass menschliche Würde im normativen Sinn der Menschenwürde etwas Unverlierbares ist, das man nicht durch ein besonders tapferes oder friedliches Sterben an den Tag legen und sichern muss. Kein Sterbeprozess, und sei er noch so lang und zermürbend, kann die Würde des Sterbenden beeinträchtigen. Auch das Aushalten von Leiden gehört zu einem Sterben, das menschenwürdig ist. Deshalb spricht die Psychotherapeutin und Sterbebegleiterin Monika Renz von der „Würde des Aushaltens“ im Sterben und kritisiert eine Gesellschaft, die Leiden und Sterben nur noch als sinnlos ansieht, weil sie damit Kranken und Sterbenden das Gefühl vermittelt, würdelos zu sein.17 Die Forderung nach einem Sterben in Würde kann also nicht heißen, dass die sterbende Person Gefahr läuft, ihre Würde durch den fortschreitenden Krankheitsverlauf zu verlieren und deswegen selbst dafür Verantwortung tragen muss, zu einem Zeitpunkt oder auf eine Art zu sterben, die ihre Würde sicherstellt. Die Menschenwürde ist unverlierbar, man muss nichts für sie tun und kann auch im Sterben nicht aus ihr herausfallen. Insofern steht jedes Sterben eines Menschen unter dem Zeichen einer unantastbaren Würde, die menschlichem Leben auch im Sterben Wert verleiht und Respekt vor ihm einfordert, Respekt, der in einer entsprechenden, die Menschenwürde des Sterbenden achtende Sterbebegleitung zum Ausdruck kommen muss. Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich finde es durchaus nachvollziehbar und ethisch legitim, bei unerträglichem Leiden im Sterbeprozess gegebenenfalls als letzten Ausweg einen begleiteten Suizid zu wählen. Wir sollten alles tun, damit Menschen diesen Weg nicht 15 16 17 Art. 1 des Deutschen Grundgesetzes lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Und Art. 7 der Schweizerischen Bundesverfassung lautet: „Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen.“ Darin liegt ein grundlegend egalitaristischer und universalistischer Aspekt des Menschenwürde-Konzeptes (vgl. Jean-Pierre Wils/Ruth Baumann-Hölzle, Mantelbüchlein Medizinethik II. Vertiefung. Grundsatzthemen zur Weiterbildung von Fachpersonen in Medizin und Pflege, Zürich 2013, 77). Monika Renz, Was ist gutes Sterben? Beobachtungen und Einsichten aus der Begleitung Sterbender, NZZ Nr. 67, 2008. 42 Heinz Rüegger beschreiten müssen. Wir sollten uns aber ebenso hüten, jemanden moralisch zu verurteilen, weil er oder sie sich dafür entschieden hat. Entschieden zu widersprechen ist dabei bloß der Vorstellung, ein solcher Suizid diene der Erhaltung der Würde beim Sterben, lasse das Sterben würdiger geschehen als es der Fall wäre, wenn jemand seinen Leidensweg zu Ende geht. Leiden schmälert die Würde nicht. Selbst bestimmter Suizid schützt oder konstituiert Würde beim Sterben nicht. Die Forderung nach einem selbstbestimmten Sterben Der andere inhaltliche Aspekt, der sich mit der Vorstellung eines Sterbens in Würde verbunden hat, ist der des selbstbestimmten Sterbens. Die Errungenschaften der modernen Medizin haben es mit sich gebracht, dass das Sterben immer mehr durch menschliche Interventionen manipulierbar geworden ist. Für den modernen Macher-Menschen tritt der Tod aus dem Schatten eines fremd verfügten Schicksals ins Licht eines selber zu verantwortenden Machsals (Odo Marquard), das im Zeichen menschlicher Autonomie zu kontrollieren ist. Daniel Callahan bringt es auf den Punkt: „Während der Tod seiner kollektiven Bedeutung beraubt wurde, wurde das Recht, die Umstände des Sterbens zu bestimmen, umso mehr hervorgehoben. Die Forderung nach Kontrolle und die Ablehnung des Todes, wie er sich ereignet, wenn wir ihn unmanipuliert geschehen lassen, sind nicht nur stark, sie sind für viele eine Leidenschaft geworden. Das einzige Übel, das grösser scheint als der persönliche Tod, wird zunehmend der Verlust der Kontrolle über diesen Tod.“18 In weiten Teilen der westlichen Kultur hat sich die Vorstellung durchgesetzt, dass nur ein selbst bestimmtes Sterben, bei dem der Tod der Kontrollmacht des autonomen Menschen unterworfen wird, ein wahrhaft menschenwürdiges Sterben sei. In den USA hat sich seit langem ein eigentliches „death control movement“ gebildet, eine Bewegung, die sich im Blick auf das Wann, das Wo und das Wie für ein selbstbestimmtes Sterben stark macht. 19 Prägnant kommt diese Einstellung in den Worten des amerikanischen Ethikers Joseph Fletcher zum Ausdruck: „Die Kontrolle des Todes ist wie die Geburtenkontrolle eine Frage menschlicher Würde. Ohne solche Kontrolle werden Personen zu Marionetten.“20 Diese Haltung erklärt sich ein Stück weit als Konsequenz moderner medizinischer Entwicklungen. Ging man früher davon aus, dass einem der Tod zu bestimmter Zeit als unabwendbares Schicksal widerfährt (wenn es „dem Herrn über Leben und Tod so gefällt“!), können wir heute ein gutes Stück weit selbst mitbestimmen, ob eine Krankheit zum Tode 18 19 20 Daniel Callahan, Nachdenken über den Tod. Die moderne Medizin und unser Wunsch, friedlich zu sterben, München 1998, 43. Vgl. Barbara J. Logue, Last Rights. Death Control and the Elderly in America, New York 1993. Joseph Fletcher, The Patient’s Right to Die., in: A. B. Downing (Hg.), Euthanasia and the Right to Death, London 1969, 69. Sterben in Würde? Worauf es ankommt 43 führen oder überwunden werden soll. Und weil wir rein objektiv medizinisch darüber entscheiden können, wird daraus auch ein Entscheiden-Müssen, ob wir wollen oder nicht. Wir haben in vielen Fällen gar nicht mehr die Möglichkeit, über Ort, Zeitpunkt und Art des Sterbens nicht zu entscheiden. Sterben ist in beträchtlichem Ausmass zu einem von Menschen bestimmten – oder jedenfalls mitbestimmten – Vorgang geworden! Reimer Gronemeyer hat die Konsequenz dieser neuen Situation treffend beschrieben: „Solange der Tod ‚kam‘, musste sich keiner rechtfertigen: Es bedurfte einer solchen Debatte nicht. Das moderne Subjekt … hat sich in die fatale Lage gebracht, dass es nun selbst sein Sterben und seinen Tod zu verantworten hat.“21 Damit müssen wir leben. Hinter diese Situation können wir nicht mehr zurück. Das Recht auf den eigenen Tod Diese Verantwortung für das eigene Sterben vollzieht sich heute unter spezifischen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass das Sterben medikalisiert, institutionalisiert, professionalisiert und durchorganisiert worden ist. So dankbar wir die im Blick auf Krankheit, Heilung und Sterben heute angebotenen medizinischen Möglichkeiten in der Regel annehmen, so verbreitet ist die Befürchtung, man könne dabei auch in ein medizinisch-institutionelles therapeutisches Räderwerk geraten, das einen technisch am Leben (oder zumindest am Überleben!) erhält, wenn man eigentlich lieber sterben möchte. Von daher kommt die Forderung nach einem „Recht auf den eigenen Tod“, das vom Schweizerischen Bundesgericht in einem Grundsatzurteil vom 3. November 2006 anerkannt wurde und das Recht bedeutet, über die Art und den Zeitpunkt der Beendigung des eigenen Lebens selber zu entscheiden. Darum gehört passive Sterbehilfe, also der Verzicht auf bzw. die Beendigung von lebensverlängernden therapeutischen Maßnahmen, zum Kern einer menschenwürdigen, Autonomie respektierenden Behandlung kranker, pflegebedürftiger Menschen, sofern dies ihrem Willen entspricht. Jede lebensverlängernde Behandlung gegen den Willen einer Patientin ist dementsprechend moralisch verwerflich und gesetzlich verboten. Insofern hat die Forderung eines selbst bestimmten Sterbens einen legitimen Kern. „Es gibt ein berechtigtes Interesse, am Sterben durch übermässige Medizin nicht gehindert zu werden. Die Medizin muss ein gutes Sterben erlauben und es unterstützen. Die Entscheidungsprozesse am Ende des Lebens sollten das Interesse und die Wünsche der Betroffenen ins Zentrum stellen und die Qualität von Leben und Sterben zum Ziel haben.“22 Hinter dieses moderne medizin-ethische Postulat der Patientenautonomie wird niemand mehr zurückgehen wollen. 21 22 Reimer Gronemeyer, Sterben in Deutschland, Wie wir dem Tod wieder einen Platz in unserem Leben einräumen können, Frankfurt a.M. 2007, 177. Rehmann-Sutter, Leben enden lassen, 293. 44 Heinz Rüegger Selbstbestimmung und Würde beim Sterben Problematisch am heutigen Verständnis eines selbstbestimmten Sterbens ist allerdings die oft vollzogene Identifizierung eines „würdigen“ Sterbens mit einem „selbst bestimmten“ Sterben, als wäre es eines Menschen unwürdig, den Prozess des Sterbens hinzunehmen und zu erdulden, wie er sich ereignet, wenn wir ihn unmanipuliert geschehen lassen, ohne ihn medizinisch hinauszuschieben oder abzukürzen. Nach Reimer Gronemeyer besteht das heimliche Credo des modernen Menschen darin, „dass er nichts auf sich zukommen lassen kann, sondern – wenn er schon sterben muss – dem Tod dann doch jedenfalls präventiv die Handlungsmacht nehmen will. Wenn ich schon sterben muss, dann will ich sagen wann und wie.“23 Wenn Sterben – soll es würdig geschehen – so zur abschließenden Planungs- und Gestaltungsaufgabe des Menschen wird, durch die er selbstverantwortlich seine Würde und Autonomie nochmals in einem letzten Akt zur Darstellung bringen soll, kann unmerklich ein neuer gesellschaftlicher Zwang entstehen. Ein Zwang, der v.a. von hochaltrigen, schwer kranken Menschen leicht als Druck empfunden wird, nur ja sicherzustellen, dass sie ihr Leben rechtzeitig, sozialverträglich und ‚würdig‘ beschliessen. Ein so verstandenes gesellschaftliches Ideal würdigen Sterbens müsste wohl eher als unwürdig und inhuman bezeichnet werden. 24 Eine Überbewertung des noch im Sterben autonom handelnden und bestimmenden Menschen verstellt nämlich den Blick auf die Bedeutung der auch im Sterben unantastbaren Würde des Menschen, deren entlastendes Potenzial gerade davon befreit, Würde aufgrund eigenen Handelns sichern zu müssen. Die Psychotherapeutin und Sterbebegleiterin Monika Renz hat wiederholt darauf hingewiesen, dass das Loslassen-Können, dass die Bereitschaft zum Durchleben eines Sterbeprozesses mit allem, was einem dabei widerfährt, eine elementare Voraussetzung für ein existenziell gutes, humanes Sterben ist. Sie spricht dabei von einer „Würde des Aushaltens“ und kommt zum Urteil: „Sterben ist weder gut noch schlecht, Sterben ist. Im Loslassen ein Finden.“25 Selbstbestimmtes Sterben ist nicht Voraussetzung für ein würdiges Sterben, vielmehr ist die unverlierbare, vorgegebene Würde des Menschen Grund für seinen Anspruch, möglichst so sterben zu können, wie es ihm entspricht. Insofern muss die Forderung nach einem Sterben in Würde vor allem verstanden werden als Aufforderung an das Umfeld einer sterbenden Person, diese so respektvoll wie möglich und nach ihren eigenen Wünschen im Sterben zu begleiten und zu betreuen. Gefordert ist also eine Kultur humaner, menschenwürdiger Sterbebegleitung. 23 24 25 Gronemeyer, Sterben in Deutschland, 161. Der amerikanische Bioethiker Paul Ramsey schrieb schon 1974 in kritischer Absicht einen Aufsatz über die Würdelosigkeit des gängigen Postulats eines Sterbens in Würde (The indignity of ‚death with dignity‘, Hastings Center Studies , Vol. 2, 1974, Nr. 2). Monika Renz, Was ist gutes Sterben? Sterben in Würde? Worauf es ankommt 45 Aspekte einer menschenwürdigen Sterbebegleitung Im Blick auf sie scheinen mir fünf Aspekte besonders wichtig: − Die Rede vom sogenannten würdigen Sterben darf nicht dazu führen, dass Menschen auf gesellschaftlich vorgegebene Vorstellungen eines guten, idealen, selbstbestimmt kontrollierten Sterbens verpflichtet werden und ihr Sterben im Falle des Nichtrealisierens dieser Idealvorstellung als unwürdig disqualifiziert wird. Der Hinweis von Monika Renz ist zu beherzigen: „Sterben ist weder gut noch schlecht. Sterben ist.“26 Wichtig ist, das Sterben jedes Menschen so individuell zu gestalten, wie es ihm entspricht, und so zu akzeptieren, wie es sich ergibt. Ein leidvolles Sterben in großer Schwäche und in demenzieller Desorientierung ist zwar mühsamer, aber nicht würdeloser als ein friedliches Sterben mitten aus einem aktiven Leben heraus.27 − Das Engagement für ein „Sterben in Würde“ hat sich vor allem in einer hochstehenden Palliative Care zu manifestieren, die das physische, psychische und spirituelle Leiden beim Sterben wirksam lindert und den aktuellen Willen der Sterbenden − bei Urteilsunfähigen deren sorgfältig eruierten mutmaßlichen Willen − als verbindliche Behandlungsrichtlinie respektiert. − Es muss alles Mögliche getan werden, damit Menschen ihr Sterben als zentrales existenzielles Widerfahrnis aushalten und durchleben können und nur im äußersten Notfall den Ausweg eines begleiteten Suizids in Erwägung ziehen müssen. Das heißt aber zugleich: Es muss Menschen ermöglicht werden, rechtzeitig und auf erträgliche Weise den Tod im Sinne Passiver Sterbehilfe zuzulassen. Wo Menschen trotzdem entscheiden, ihren Leidensweg durch einen Suizid zu beenden, ist diese ihre Entscheidung zu respektieren. − Eine Kultur, die wie die unsere so stark vom Ideal der Unabhängigkeit, Selbstständigkeit und Autonomie bestimmt ist, wird neu lernen müssen, den Wert und die Bedeutung der pathischen, also der zulassenden, aushaltenden, mit sich geschehen lassenden Dimension des Lebens zu würdigen.28 Es kann Ausdruck menschlicher Würde und Reifung sein, wenn jemand sein Sterben, auch wenn es mühsam ist, erträgt und sich der Hilfe anderer Menschen anvertraut. 26 27 28 Ebd. „Ob ein Mensch nach einem erfüllten Leben, körperlich noch rüstig und geistig klar zu Hause friedlich für immer einschläft oder ob er, inkontinent geworden, geistig verwirrt und seiner Fähigkeit zur Selbstbestimmung verlustig gegangen nach mehrjährigem Pflegeheimaufenthalt in einem langen Todeskampf stirbt, macht zwar auf der Ebene der Lebensqualität einen grossen Unterschied; mit Blick auf die Menschenwürde des jeweils Sterbenden besteht allerdings zwischen beiden Sterbesituationen kein Unterschied. So verstanden gibt es keine Krankheiten, welche mit fortschreitender Entwicklung die Würde des Menschen beeinträchtigen“ (Bethesda/Dialog Ethik (Hg.), Abschieds- und Sterbekultur. Gestaltung der letzten Lebensphase mit und in Organisationen, Bern 2012, 45). Zur Bedeutung dieser pathischen Dimension vgl. Heinz Rüegger, Das eigene Sterben. Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst, Göttingen 2006, 77–81. 46 Heinz Rüegger − Schließlich sind wir als Nutznießer eines modernen Gesundheitssystems herausgefordert, uns rechtzeitig mit den im Sterbeprozess anstehenden Fragen eines Behandlungsverzichts oder -abbruchs (Passive Sterbehilfe) zu beschäftigen. Dies wird umso eher möglich, wenn es uns gelingt, eine neue ars moriendi, also eine Kunst des abschiedlichen Lebens zu entwickeln, die mit der alten abendländischen Einsicht ernst macht, dass beides, Leben und Sterben, eine alltägliche Herausforderung und Kunst ist, und dass die eine nicht ohne die andere zu haben ist. Dr. Heinz Rüegger MAE ist Theologe, Ethiker und Gerontologe. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut Neumünster, einem interdisziplinären Kompetenzzentrum der Stiftung Diakoniewerk Neumünster – Schweizerische Pflegerinnenschule in Zollikerberg/Schweiz. Daneben ist er Seelsorger in einem Pflegeheim. Ein „hohes Bild“ vom Menschen Herders Impulse für die Diakonie heute1 Klaus Scholtissek 1. Einleitung Über Johann Gottfried Herder2 (25.08.1744–18.12.1803) und die Diakonie im Jahr 2013 zu sprechen, ist keine Selbstverständlichkeit – bei manchem Herderforscher mag dieses Thema sogar Stirnrunzeln hervorrufen. In den älteren und neueren Handbüchern der Diakonie – besonders zur Geschichte der Diakonie – kommt Herder nicht vor3, wohl aber Johannes Daniel Falk, dessen Verein der Freunde in der Not vor genau 200 Jahren gegründet wurde. 4 Deshalb feierten die Weimarer Kirche und Diakonie, der Johannes Falk Verein sowie das Goethe- und Schiller-Archiv, Johannes Falk mit einem ganzen Festjahr. Das Ziel dieses Beitrages ist es, Johann Gottfried Herder, den Generalsuperintendenten von Sachsen-Weimar von 1776–1803, nach wertvollen Impulsen für diakonische Arbeit heute zu befragen. Wir würden Herder nicht gerecht werden, wollten wir moderne Interessen unvermittelt an Herder herantragen. Wir würden Herder nicht gerecht werden, wollten wir die politischen, sozialen, kulturellen und geistesgeschichtlichen Unterschiede zwischen seiner Zeit, der Weimarer Klassik, und unserer modern-postmodernen Welt überspringen. Gleichwohl: Klassiker wären keine Klassiker, würden ihre Botschaften nicht auch über ihre eigene Lebenszeit hinausragen und nachgeborenen Generationen vielfältige Anregung geben. Die 1 2 3 4 Dieser Beitrag geht auf einen Vortrag auf dem Empfang von Kirche und Diakonie in Weimar anlässlich der Feier des Herder-Geburtstages in der Herderkirche am 30.08.2013 zurück. Für die Möglichkeit und die Einladung dazu danke ich sehr herzlich dem heutigen Superintendent des Kirchenkreises Weimar, Henrich Herbst, sowie den befreundeten Miteinladenden des heutigen Empfangs von Kirche und Diakonie. Kirche und Diakonie in Weimar laden seit vier Jahren jährlich zum Empfang anlässlich des Herder-Geburtstags ein. Die vorliegenden Reflexionen zu Herders Impulsen handeln mindestens in einer Hinsicht Herders Intention entgegen: Michael Maurer, der einen lehrreichen Aufsatz zu „Herder und das Fest“ publiziert hat, schreibt einmal über die entsprechenden Feiern im Hause Herder: „Betrachten wir Herders Geburtstage im Überblick, so zeigt sich, daß sie nicht (wie bei Goethe) zu einer vertiefenden Besinnung und Rechenschaftslegung über den bisherigen Lebensweg benutzt wurden.“ Und dann zitiert Maurer Herders Frau Caroline (1750–1809): „Beim Essen wurde gesagt daß es des Vaters Geburtstag sei – da wurde Champagner herbeigeholt u. nach Spanischer Sitte: Mille annos dem Vater zugetrunken. Wir waren sehr vergnügt.“ (Johann Gottfried Herder, Briefe. Gesamtausgabe 1763–1803 (Bd. 1–16), hg. v. Günter Arnold, Weimar 1977–2012 (= DA), Bd. 8, 307) Vgl. einführend Günter Arnold, Johann Gottfried Herder, Leipzig 21988; Michael Zaremba, Johann Gottfried Herder – Prediger der Humanität. Eine Biografie, Köln 2002. Vgl. zuletzt Georg-Hinrich Hirmer, Geschichte der Diakonie in Deutschland, Stuttgart 2013. Vgl. Michael Haspel/Ralf Koerrenz/Alexandra Schotte (Hg.), Johannes Falks Impulse für Sozialpädagogik, Diakonie und Sozialpolitik. 200 Jahre „Gesellschaft der Freunde in der Not“ in Weimar (erscheint 2014). 48 Klaus Scholtissek folgenden Reflexionen zeigen auf, welche Orientierung und Inspirationen Diakonie und Gesellschaft heute von Herder empfangen können. Wer sich mit Herder näher beschäftigt, trifft auf keine einfache Persönlichkeit: „Das Panorama von Herders Leben zeigt einen cholerischen, rebellischen Charakter, der seine Zeitgenossen nicht selten mit überraschenden Entschlüssen vor den Kopf stieß.“ 5 Wer sich mit Herder näher beschäftigt, trifft auf einen Universalgelehrten, wie er heute nicht mehr vorstellbar wäre. Er trifft auf ein vielschichtiges, umfangreiches Oeuvre, das sich einem schnellen, sozusagen „einem Turbozugang“, entzieht. Er trifft auf interessegeleitete disparate Herder-Bilder von damals und von heute. Er trifft auf viele, bis heute noch nicht abschließend beantwortete Fragen zu Herders Gesamtwerk. Darauf hat die große Herder-Ausstellung der Stiftung Weimarer Klassik anlässlich seines 250. Geburtstages im Jahre 1994 aufmerksam gemacht unter dem Titel: „Ahndung künftiger Bestimmung“6. Mit der großen, 33 Bände umfassenden historisch-kritischen Ausgabe der Werke Herders (1877–1913)7 und der inzwischen auf 16 Bände angewachsenen Edition der Briefe Herders 8 hat sich die Stiftung Weimarer Klassik – und hier insbesondere Günter Arnold – große Verdienste für die gegenwärtige und zukünftige Herder-Forschung erworben. Wer sich mit Herder beschäftigt, der begegnet einem Herder, der als Gegenspieler von Immanuel Kant gesehen wird – was durchaus eine gewisse Berechtigung hat. Dabei sind jedoch alle Simplifizierungen zu vermeiden: Herder gehört geistesgeschichtlich in die Aufklärung – er ist ein Teil derselben, auch wenn er deren einseitigen Rationalismus (z.B. bei René Descartes), den Fortschritts- und Perfektionierungsglauben nicht teilt. Herder selbst „verstand sich als Opposition innerhalb der Aufklärung, in der er tief verwurzelt war und deren Repräsentant er gegen moderne Zeitströmungen blieb“9. Herder gilt als „der Theologe unter den Klassikern“. Dies wird sichtbar, wenn das Zentrum des Herderschen Denkens in den Blick kommt: 5 6 7 8 9 Michael Zaremba, Johann Gottfried Herder – Prediger der Humanität (Vortrag am 12.09.2012), Manuskript. Vgl. Stiftung Weimarer Klassik (Hg.), Johann Gottfried Herder. Ahndung künftiger Bestimmung (Ausstellungskatalog zum 250. Geburtstag Herders), Stuttgart 1994. Vgl. Bernhard Suphan/Carl Redlich u.a. (Hg.), Johann Gottfried Herder. Sämtliche Werke, 33 Bde., Berlin 1877–1913 (= SWS). Vgl. Johann Gottfried Herder, Briefe. Gesamtausgabe 1763–1803 (Bd. 1–16), hg. v. Günter Arnold, Weimar 1977–2012 (= DA). Zaremba, Prediger. Ein „hohes Bild“ vom Menschen. Herders Impulse für die Diakonie heute 2. 49 Das Zentrum des Herderschen Denkens: der Mensch10 Eine Portion Verwegenheit gehört schon dazu, Herders weitgefächertes Oeuvre von einem einzigen Denkansatz her begreifen und erschließen zu wollen. Die These lautet: Der organisierende und steuernde Ausgangs- und Mittelpunkt des Herderschen Denkens und Schreibens ist: der Mensch, der Mensch in seiner Bestimmung, seinen Möglichkeiten und seinen Grenzen. Herder ist Anthropo-loge im Wortsinne: Er ist zeitlebens umgetrieben von der Frage, wer der Mensch ist, welche Möglichkeiten, welche Freiheit und welche Grenzen er hat, wie der Mensch sich entwickeln und wie er sich verfehlen kann: − Wenn Herder über die Stellung des Menschen in der Natur und zu den Tieren nachdenkt, dann, weil er den Menschen angemessen deuten will. − Wenn Herder über den Ursprung der Sprache bzw. Spracherwerb des Menschen schreibt, dann, weil er den Menschen selbst besser verstehen will. − Wenn Herder die Schöpfungs- und Ursprungsgeschichte der Menschheit nach 1 Mose 1–3 auslegt, dann, weil er den aus dem Erdstaub (hebr. adamah) genommenen Erdling (hebr. adam) richtig verstehen möchte. Herder wendet sich zeit seines Lebens gegen die Reduzierung bzw. die Aufsplitterung des Menschen auf Teile seiner selbst, sei es seine Vernunft, seine Gefühle, sein Bewußtsein. Die philosophische Anthropologie des 20. Jahrhunderts – verkörpert durch Max Scheler, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen – bezieht sich zustimmend auf Herder und entdeckte ihn neu. Auch der zeitgenössische Theologe Wolfhart Pannenberg 11 bezieht sich in seinen Veröffentlichungen zu einer Anthropologie aus theologischer Perspektive positiv auf Herder und übernimmt von ihm insbesondere die These von der „Weltoffenheit“ des Menschen, die seine Freiheit begründet: Nur vermittels seiner Welterfahrung kann der Mensch „Klarheit über sich selbst gewinnen“12. Herder ist Anthropo-loge im Wortsinne: Dieses zentrale Interesse vergisst er auch nicht, wenn er von Gott spricht: Wenn Herder als gut ausgebildeter Theologe und Prediger – es sei an die wichtigsten Stationen seines Wirkens erinnert: Königsberg, Riga, Bückeburg und Weimar 13 – von Gott spricht, dann im Blick auf die Frage, was die Rede von Gott für den Menschen und seine Bestimmung austrägt. Die Rede von Gott ist bei Herder in seltener Konsequenz an die 10 11 12 13 Die folgenden Ausführungen verdanken Anregungen der Diplomarbeit von Tina Bellmann, Herders theologische Anthropologie, Halle 2012. Vgl. auch: Jens Heise, Johann Gottfried Herder zur Einführung, Hamburg 22006, 83–87. Vgl. Wolfhart Pannenberg, Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie, Göttingen 1962; ders., Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983. Pannenberg, Mensch, 9. Vgl. hierzu ausführlich Martin Keßler, Johann Gottfried Herder – der Theologe unter den Klassikern. Das Amt des Generalsuperintendenten von Sachsen-Weimar (Arbeiten zur Kirchengeschichte 102/I–II), Berlin 2007. 50 Klaus Scholtissek Rede vom Menschen gebunden: Gottesbild und Menschenbild hängen bei Herder sehr eng, untrennbar zusammen. Wie eng Gottes- und Menschenbild bei Herder ineinandergreifen, zeigt sich sehr deutlich in seiner Auslegung der biblischen Schöpfungserzählungen. Doch zuerst geht es um einen kurzen Blick auf die philosophische Anthropologie Herders. 2.1. Der Mensch als zur Freiheit berufenes Mängelwesen In seiner „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“ (aus dem Jahre 1772) zeigt Herder auf, dass der Mensch ein wesentlich durch Entwicklung bestimmtes Wesen und ein Mängelwesen ist: Der entscheidende Unterschied zwischen Mensch und Tier besteht in der Instinktarmut des Menschen. Dieser Mangel des Menschen im Vergleich zu den Tieren ist jedoch sein Vorteil. Hier wurzelt für Herder die Freiheit des Menschen. In der fehlenden totalen Instinktsteuerung liegt der Grund für seine Kulturfähigkeit: anders als das Tier ist der Mensch frei, sich zu seiner umgebenden Welt zu verhalten. Die menschliche Sprache hat nach Herder genau in diesem Freiheitsvermögen des Menschen ihren Ursprung. Mit Hilfe der Sprache kann der Mensch sich ohne Instinktsteuerung auf Erkenntnisgegenstände richten und sich ein reflexives Wissens hierzu und über sich selbst aneignen. Die menschliche Sprache wird zum Vermittler zwischen Welt und Mensch. Sie filtert, sortiert aus der Vielzahl der Sinneseindrücke – Herder nennt sie einen „Ozean von Empfindungen“14. Anders als die Tiere verfügen Menschen über eine zusätzliche Fähigkeit: die „Besonnenheit“. Besonnenheit ist bei Herder die Fähigkeit des Menschen zur reflexiven Auseinandersetzung und systematischen Einordnung von Sinneseindrücken. Gleichzeitig gehört zur Besonnenheit des Menschen auch seine grundsätzliche Fähigkeit zum Denken, die wiederum ein „Bedürfnis, kennenzulernen“ erzeugt, einen „kognitiven Appetit“ (Jürgen Trabant15). Herder setzt hier wie in seinem Gesamtwerk voraus, dass die Kommunikation mit der Außenwelt des Menschen grundlegend von den Wahrnehmungen seiner Sinne geprägt wird: Die menschlichen Sinneswahrnehmungen werden ernst genommen, sie sind das „Material“, durch das der einzelne Mensch seine umgebende Welt wahrnimmt und sie sich aneignet. Herders Wahrnehmungslehre, seine Ästhetik, geht von der ursprünglichen sinnlichen 14 15 Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, in: Johann Gottfried Herder, Werke. 10 in 11 Bänden, hg. v. Günter Arnold u.a., Frankfurt am Main 1985–2000 (= FHA), hier: I, 722. Jürgen Trabant, Vom tierhaften zum menschlichen Menschen: Herders Betrachtungen über die Evolution der Sprache bedeuteten eine revolutionäre Abkehr von der Bibel, in: Der Tagesspiegel vom 16.09.2009; vgl. auch Siegfried J. Schmidt, Die Sprache als „Charakter der Vernunft“ und „Werkzeug der Wissenschaften“ bei Johann Gottfried Herder (1744–1803), in: ders., Sprache und Denken als sprachphilosophisches Problem von Locke bis Wittgenstein, Den Haag 1968, 36–65. Ein „hohes Bild“ vom Menschen. Herders Impulse für die Diakonie heute 51 Wahrnehmung (gr. aisthesis) aus. Er betont – im Gegensatz zu Descartes -, dass die sinnlichen Erfahrungen des Menschen der Logik und Reflexion vorausgehen. 16 Diese Wahrnehmungslehre verstärkt bei ihm die Betonung der Individualität des Menschen, der jeweils seine eigenen Erfahrungen hat und sich diese subjektiv und damit individuell aneignet. Herder betont hierbei den individuellen, „nach vorne offenen“ Entwicklungsprozess jedes Menschen, der auf Bildung und Selbstbildung angelegt ist. Gleichzeitig und ohne Widerspruch betont Herder die Einbindung des Menschen in das Menschengeschlecht; der Mensch ist kein Einzelkämpfer, sondern ein in die Menschheit eingebundenes Individuum, dass nicht jeweils neu bei einem absoluten Nullpunkt menschlicher Entwicklung beginnt, sondern in der Familie, in seiner Sozialisation insgesamt, Menschen trifft, die ihm auf dem Weg individueller Aneignung der Sinneswahrnehmungen assistieren. 17Nach Herder ist der Mensch sich selbst „Zweck und Ziel“. Er hat „freien Raum, sich an vielem zu üben“18. Damit schließt die Instinktungebundenheit des Menschen auch eine originäre Bestimmung von menschlicher Bildung und Ethik mit ein. Darauf ist später zurück zu kommen. Der hier in aller Kürze angesprochenen philosophischen Anthropologie korrespondiert bei Herder seine theologische Anthropologie, die sich insbesondere in seiner Auslegung der Schöpfungserzählungen zeigt. Hier wird gut erkennbar, wie eng Gottes- und Menschenbild bei ihm ineinandergreifen. 2.2. Der Mensch in den Schöpfungserzählungen der Bibel (1 Mose 1–3)19 Die Genesisauslegung Herders ist im Kontext der zeitgenössischen Kritik an der herkömmlichen Schriftauslegung zu verstehen. Vor zehn Jahren, am 8. Dezember 2003, dem 200. Todestag Herders, hat Rudolf Smend, in der Herderkirche in Weimar unter dem dem Titel „Herder und die Bibel“ einen Festvortrag gehalten, in dem er Herders Schriftauslegung in die Geistesgeschichte seiner Zeit einordnet und profiliert.20 Die zeitgenössische Religionskritik 16 17 18 19 20 Vgl. Hans Adler, Die Prägnanz des Dunklen. Gnoseologie, Ästhetik, Geschichtsphilosophie bei Herder (Studien zum Achtzehnten Jahrhundert 13), Hamburg 1990, 100: „Den Sinnen zu trauen und sie als Bedingung der Erfahrung anzuerkennen und zu untersuchen, das ist Herders anticartesianische These, die er immer wieder und wieder vorträgt.“ Diese Aussage wird in der marxistischen Herder-Interpretation zu Unrecht als Ansatzpunkt für die prinzipielle Unterordnung des Individuums unter das Kollektiv ausgewertet; vgl. Heinz Stolpe, Aufklärung, Fortschritt, Humanität: Studien und Kritiken, Berlin/Weimar 1989. Herder, Abhandlung, FHA I, 716. Vgl. Herder, Über die ersten Urkunden des menschlichen Geschlechts. Einige Anmerkungen, in: Johann Gottfried Herder, Werke (= FHA V). Rudolf Smend, Herder und die Bibel. Festvortrag in der Stadtkirche St. Peter und Paul am 18. Dezember 2003, in: Martin Keßler/Volker Leppin (Hg.), Johannes Gottfried Herder. Aspekte seines Lebenswerkes (Arbeiten zur Kirchengeschichte 92), Berlin 2005, 1–14. Zur biblischen Grundlegung christlicher Diakonie vgl. den Überblick bei Klaus Scholtissek, Neutestamentliche Grundlagen der Diakonie, in: Armut und 52 Klaus Scholtissek formulierte grundlegende Einwände gegen theologische Grundüberzeugungen, gerade dann, wenn sie die herrschende politische und kirchliche Ordnung legitimierten und sanktionierten, gerade dann, wenn sie den Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit (wie Immanuel Kant Aufklärung definierte) behinderten oder ganz und gar verschlossen. In dieser Kontroverse argumentiert Herder nicht apologetisch, sondern konstruktiv und kreativ. Dabei leitet ihn ein eminent theologischer Impuls: Wenn es überhaupt Offenbarung Gottes21 in der Schöpfung und der Geschichte der Menschheit gibt, dann ist diese für Herder nur denkbar, wenn sie für den Adressaten der Offenbarung, den Menschen, grundsätzlich zugängig ist, das heißt: über seine Sinne und seine Sprache menschlich verständlich ist: „Menschlich muß man die Bibel lesen, denn sie ist ein Buch durch Menschen für Menschen geschrieben: menschlich ist die Sprache, menschlich die äußeren Hilfsmittel, mit denen sie geschrieben und aufbehalten ist, menschlich endlich ist ja der Sinn, mit dem sie gefasst werden kann, jedes Hilfsmittel, das sie erläutert, so wie der ganze Zweck und Nutzen, zu dem sie angewandt werden soll. Sie können also sicher glauben, je humaner (im besten Sinne des Wortes) Sie das Wort Gottes lesen, desto näher kommen Sie dem Zweck seines Urhebers, der Menschen zu seinem Bilde schuf, und in allen Werken und Wohltaten, wo er sich uns als Gott zeigt, für uns menschlich handelt.“22 Ein Paradebeispiel für Herders Schrifthermeneutik ist seine Auslegung der Schöpfungserzählungen in Gen 1–3 mit ihrer den damaligen Zeitgenossen weitgehend unmittelbar verständlichen Poesie.23 Die Schöpfungserzählungen der Bibel deutet Herder als „ein Lied auf Tage und Sabbat“24, in dem der Mensch das Thema des sechsten Tagewerks ist. Schon diese Qualifizierung setzt einen erkennbaren Akzent gegen eine überzogene anthropozentrische Lektüre der Schöpfungserzählungen. Gen 1,27–28 lautet nach der Übersetzung von Martin Buber und Franz Rosenzweig: „Gott sprach: Machen wir den Menschen in unserem Bild nach unserem Gleichnis! Sie sollen schalten über das Fischvolk des Meeres, den Vogel des Himmels, das Getier, die Erde all, und alles Gerege, das auf Erden sich regt. Gott schuf den Menschen in seinem Bilde, im Bilde Gottes schuf er ihn, männlich, weiblich schuf er sie. Gott segnete sie, Gott sprach zu ihnen: 21 22 23 24 Armenfürsorge. Protestantische Perspektiven (Kultur und Bildung 5), hg. v. Ralf Koerrenz/Benjamin Bunk, Paderborn 2013 (im Druck); vgl. weiterführend auch: ders., „Ein Beispiel habe ich Euch gegeben …“ (Joh 15,13). Die Diakonie Jesu und die Diakonie der Christen in der Fußwaschungserzählung des Johannesevangeliums (Manuskript). Vgl. hierzu weiterführend Thomas Zippert, Bildung durch Offenbarung. Das Offenbarungsverständnis des jungen Herder als Grundmotiv seines theologisch-philosophisch-literarischen Lebenswerkes (MThS 39), Marburg 1994. FHA I, 145. Vgl. Christoph Bultmann, Die biblische Urgeschichte in der Aufklärung. Johann Gottfried Herders Interpretation der Genesis als Antwort auf die Religionskritik David Humes (BhTh 110), Tübingen 1999. Herder, Über die ersten Urkunden des Menschlichen Geschlechts. Einige Anmerkungen, FHA (s. Anm. 14) V, 9–178, hier: 37. Ein „hohes Bild“ vom Menschen. Herders Impulse für die Diakonie heute 53 Fruchtet und mehrt euch und füllet die Erde und bemächtigt euch ihrer! schaltet über das Fischvolk des Meers, den Vogel des Himmels und alles Lebendige, das auf Erden sich regt!“25 Inhaltlich bestimmt Herder die Gottebenbildlichkeit des Menschen als verpflichtendes Geschenk des Schöpfers: Mit der Schöpfung durch Gott erhält der Mensch in abgeleiteter Weise Anteil an Gottes Kreativität. Zwar kann der Mensch niemals selbst zum Kreator im engeren Sinne werden, aber er kann das vom Schöpfer in ihn gelegte Potential „verschönern“, „weiterschaffen“, „erweitern“: Gottebenbildlichkeit ist „die Verpflichtung zum Weiterschaffen kraft der ihm eingeborenen Kunst, zum ‚Verschönern‘ und Erweitern des ursprünglichen Schöpfungswerks“26. Diese theologische Bestimmung der Gottebenbildlichkeit des Menschen liegt nun ganz auf der Linie des Herderschen Ansatzes einer philosophischen Anthropologie: Die Fähigkeit des Menschen zu Freiheit und Kreativität, zu Selbstbestimmung und Kulturgestaltung wurzelt in seiner eigenen Kreatürlichkeit, sie ist die Mitgift des Schöpfers an sein menschliches Geschöpf. Dabei gilt zugleich für Herder: Jeder Mensch bleibt in seinen Begabungen und Möglichkeiten begrenzt, er kann sich nicht selbst erschaffen, er ist fehlbar, manipulierbar und er ist endlich in jeder Hinsicht. Er kann und darf sich nicht selbst absolut setzen. Hier gibt es eine kreatürliche Grenze: „Was man von der allgemeinen Vollkommenheit, von der Reinigheit und Würde der menschlichen Natur spricht, mag im Allgemeinen wahr sein; wo existiert aber das Allgemeine in Einem Menschen? Niemand ehrt das Ideal der Menschheit mehr, als die Bibel, da sie es ja sogar zum Nachbilde Gottes erhebt; aber eben weil sie es so ehret, so suchet sie nicht die Schwachheiten, Mängel und Krankheiten unseres Geschlechtes zu verschleiern und zu verschönen, da diese ja wahrlich nicht Bild Gottes in uns sind; vielmehr weggetan, geheilt, übermannt werden müssen, wenn je das hohe Bild in Zügen unserer einzelnen Natur lebend und herrschend erscheinen soll.“27 Herder spricht mithin nicht von einer absoluten, sondern von einer theonomen Autonomie des Menschen und er weiß sehr genau um die menschliche Schuld, das menschliche Versagen, die menschlichen Grenzen und seine Erlösungsbedürftigkeit: „Im Unterscheid aber zu den Allmachtsideen so mancher Aufklärer sind Herders Bestimmungen der menschlichen Autonomie und Freiheit deutlich zurückhaltender. Nicht ein vollkommen souveränes, unumschränkt Herrschendes, sich zu sich selbst ermächtigendes Wesen, das keine Götter neben, geschweige denn über sich duldet, ist der Herdersche Mensch, sondern ein Wesen, das 25 26 27 Martin Buber/Franz Rosenzweig, Die fünf Bücher der Weisung. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig (10. verbesserte Auflage der neubearbeiteten Ausgabe von 1954), 5 Bde., Stuttgart 1992, hier: I, 11. Gerhard von Hofe, Herders „Hieroglyphen“-Poetik, in: Brigitte Poschmann (Hg.), Bückeburger Gespräche über Johann Gottfried Herder 1988. Älteste Urkunde des Menschengeschlechts (Schaumburger Studien 49), Rinteln 1989, 190–209, hier: 204. Herder, Briefe, das Studium der Theologie betreffend, in: Johann Gottfried Herder, Theologische Schriften (Johann Gottfried Herder, Werke, Bd. 9/1, hg. v. Christoph Bultmann/Thomas Zippert, Frankfurt 1994, 446 (= FHA IX,1). 54 Klaus Scholtissek seine Subjektauftrag von einer anderen höheren Instanz innerhalb einer von ihm selbst ursprünglich nicht geschaffenen Gesamtordnung übertragen bekommen hat.“28 Herders Auslegung von Gen 1,27–28 koinzidiert in der Kernaussage mit der modernen historisch-kritischen Auslegung dieses Passus29: Danach steht im Hintergrund der Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen die altorientalische Königsideologie, nach der der König aufgrund seines Amtes ein Bild Gottes ist und als sein Mandatar göttliche Aufgaben übernimmt: Bewahrer der Ordnung, Aufrechterhalter des Kosmos gegenüber dem Chaos, Schützer der Lebensordnung, Anwalt der Schwachen und Beschützer der Armen. Indem diese Königsideologie in Gen 1 auf den Menschen, auf jeden (!) Menschen, übertragen wird, wird sie gleichsam demokratisiert: Jeder Mensch ist ein Mandatar Gottes, dem vielfache Verantwortung vor Gott für die Bewahrung und Sicherung der guten Schöpfung Gottes und seiner Ordnung für das soziale und individuelle menschliche Leben übergeben ist. 3. Impulse Herders für die sozialdiakonische Arbeit heute 3.1. Bildung bei Herder und heute Rainer Wispert schreibt im Jahr 2005: „Johann Gottfried Herder … ist als einer der großen Gründungsväter der geschichtlichen Bildungsidee in Europa zu sehen, entwickelt er doch, angeregt durch Humanismus und Aufklärung, die Idee des Zusammenspiels von Individualund Gattungsgeschichte wie kein anderer vor ihm: So deutet er die Geschichte der Menschheit als Bildungsgeschichte, verbindet die Bildung der Gattung mit der Bildung des Individuums, bestimmt die Bildung des Einzelnen als universalgeschichtliche Selbstbildung, macht den geschichtlich gebildeten Einzelnen zum Subjekt der Geschichte und charakterisiert die Schule als Ort der Vorbereitung des Einzelnen auf dessen Subjektaufgabe in der Geschichte.“ 30 Die Bildung eines jeden Menschen ist bei Herder ein zentrales Anliegen, das sein ganzes Werk wie eine Grundmelodie durchzieht. Wie versteht Herder Bildung und wie kann heute daran angeknüpft werden? Herders Bildungsverständnis wurzelt in seinem Menschenbild: Der Mensch ist von seinem Schöpfer ins Leben gerufen, er ist Gottes Kreatur – und eben nicht Schöpfer seiner selbst. Und: Der Mensch ist selbst frei und befähigt zur Kreativität, er ist beauftragt, nach dem Vor-Bild seines Schöpfers als mündiges Subjekt Verantwortung zu übernehmen. Aus beiden Bestimmungen des Menschen – Kreatürlichkeit und Kreativität – ergibt sich bei Herder eine enorm produktive Spannung. Bildung setzt bei seiner ganzheitlichen 28 29 30 Rainer Wispert, Geschichte und Schule bei Johann Gottfried Herder, in: Johannes Gottfried Herder. Aspekte seines Lebenswerkes, 353–367, 356. Vgl. hierzu Christian Frevel/Oda Wischmeyer, Menschsein. Perspektiven des Alten und Neuen Testaments (NEB. Themen 11), Würzburg 2003, 50–52; Christian Frevel, Art. Anthropologie, in: HGANT 22009, 1–6; ders., Art. Ebenbild, a.a.O., 132–135. Vgl. Wispert, Geschichte, 353 f. Ein „hohes Bild“ vom Menschen. Herders Impulse für die Diakonie heute 55 Wahrnehmungslehre an: Menschen lernen durch die vielfältigen Sinneseindrücke, die auf sie zukommen. Menschen lernen ganzheitlich. Menschen lernen individuell und nicht durch eine wie auch immer geartete Bevormundung: Zum spannungsvollen Verhältnis von Lehren und Bilden in der Schule schreibt Herder einmal: „ … seine Gedanken kann mir der Lehrer nicht eingeben, eintrichtern, meine Gedanken kann, will und muß er durch Worte wecken; also dass sie meine nicht seine Gedanken sind“31. Die Schule ist für Herder der Ort, „wahre Humanität (zu lernen)“32. Von Herder zu lernen, heißt deshalb, der modernen Gefahr zu widerstehen, (1) Bildung auf bestimmte Funktionen zu verkürzen und (2) Bildung nach einem einzigen kollektiv gültigen Standard zu organisieren: (1) Zur ersten Gefahr, Bildung auf bestimmte Funktionen zu verkürzen: Wenn heute über Arbeitsmarktchancen für schwer vermittelbare Jugendliche und junge Erwachsene gesprochen wird, dann heißt das Zauberwort employability = Beschäftigungsfähigkeit. Und in der Tat: Daran mag es bei manchen Arbeitsplatzsuchenden mangeln. Und daraus ergibt sich dann auch die Aufgabe, mit geeigneten Maßnahmen gegenzusteuern. Aber Bildung ist wesentlich mehr als „Produktion“ von Beschäftigungsfähigkeit, von Passgenauigkeit für die Bedarfe einer globalisierten Wirtschaft. Bildung im Sinne Herders führt jeden Einzelnen auf individuellen Wegen zu Selbstwertgefühl, zu einer angemessenen Selbsteinschätzung, zu Wissen und Teilhabe an den Früchten der menschlichen Kulturgeschichte, zur kompetenten Selbststeuerung und zur Übernahme und Gestaltung von Verantwortung für andere Menschen, sei es in der eigenen Familie, im Freundeskreis, in der jeweiligen Wohnort-Kommune, sei es für nahe oder ferne Dritte, sei es für weltweite und bis heute unerledigte Herausforderungen (Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung). (2) Zur zweiten Gefahr, Bildung nach einem einzigen kollektiv gültigen Standard zu organisieren: Bildungswege sind im Sinne Herders vielfältig und an den Möglichkeiten der einzelnen Individuen zu messen: Sie können und dürfen nicht kollektiv vom Staat vorgegeben werden. Dies widerspräche der durchgehenden Subjektorientierung des Herderschen Bildungsbegriffs. Herder betont darüber hinaus die Gegenseitigkeit menschlichen Lernens auf der Basis der Gleichheit und Freiheit: „[D]ie gegenseitig-wohltätigste Einwirkung eines Menschen auf den Andern Jedem Individuum zu verschaffen und zu erleichtern, nur dies kann der Zweck aller menschlichen Vereinigung sein“33. Dem in Umrissen angesprochenen umfassenden Bildungsauftrag ist Diakonie heute verpflichtet: − sei es, dass sie durch ihre Beratungsangebote Eltern und Erziehende befähigt, ihre pädagogische Aufgabe passgenau, also subjektbezogen wahrzunehmen, 31 32 33 FHA IX, 2, 811. A.a.O., 700. Herder, 25. Brief § 7 (= FHA 7, 125). 56 Klaus Scholtissek − sei es, dass sie Kindern in ihren Kindertagesstätten originäre Erfahrungsräume anbietet, die es ihnen ermöglichen, ihre eigenen Sinneserfahrungen positiv in die Entwicklung und Bildung ihrer Persönlichkeit einfließen zu lassen, − sei es, dass sie Schulen in freier Trägerschaft leitet, die Bildung in einem umfassenden und ganzheitlichen Sinn vermitteln, − sei es, dass sie im Verbund mit den Arbeitsagenturen Menschen unter Berücksichtigung und Entfaltung ihrer individuellen Möglichkeiten auf dem Weg in den ersten Arbeitsmarkt begleitet, − sei es, dass sie den christlichen Glauben in den konkreten Diensten lebt, ihn mitteilt und teilt und den einzelnen Menschen damit über die reine Funktionalität im globalen Warenwirtschaftssystem hinaushebt, − sei es, dass sie ihr sozialpolitisches Mandat ausübt, indem sie gesellschaftliche bzw. politische Ursachen für Missstände freilegt und hartnäckig Lobbyarbeit für Menschen mit Hilfe- und Förderbedarfen betreibt. 3.2. Humanität als Kriterium der staatlichen Ordnung Was bei Herder für die Schule gilt, das gilt bei ihm auch im größeren Maßstab für die staatliche Ordnung: „Schule ist die kleinste soziale Einheit in der Gesellschaft, die zwar die eigenen Kräfte und Anlagen der Jugendlichen ausbilden, aber zugleich und vor allem auf das Wirken in den Gemeinwesen vorbereiten soll. Menschenbildung ist bürgerschaftliche Bildung.“ 34 „Humanität ist unsere res publica“35 – in diesem Merksatz fasst Herder den Maßstab für jede staatliche Ordnung zusammen – für die res publica, wörtlich übersetzt: die „öffentliche Sache“, das „Gemeinwesen“, das jeden angeht. Harro Müller-Michaels interpretiert diesen Ansatz bei Herder: „Das Vermögen, andere zu verstehen, sich mit ihnen auszutauschen, von ihnen zu lernen, gemeinsam mit ihnen zu handeln, an einem Gemeinwesen zu arbeiten, das die sozialen Fertigkeiten weiter stärkt, wird zum Fundament für die Erziehung zur Humanität.“ 36 Herder bezieht sich für sein Verständnis der res publica auf Montesquieu und sein Lob des „Gemeingeistes (public spirit)“ für „der Stadt Bestes“ und schreibt dann: „… wir arbeiten zusammen für uns und unsere Kinder“ zum Wohle aller: „Die Zeit der Solipsorum geht zu Ende; zu Einem gemeinen Besten arbeiten wir Alle.“37 Herder wendet sich mit dieser Zeitansage gegen diejenigen, die (wörtlich) „sich selbst allein“ (lat. solus ipse) in den Mittelpunkt 34 35 36 37 Harro Müller-Michaels, Humanitas ist unsere res publica – Konzepte der Humanität in einer Reihe von Reden und Briefen, in: Herder Jahrbuch Herder Yearbook 9, Heidelberg 2008, 99–107, hier 100. Herder, Von der Integrität und Scham einer Schule (Juli 1794), in: FHA IX, 2, 700. Müller-Michaels, Humanitas, 101. Herder, 78. Brief (= FHA VII, 521). Ein „hohes Bild“ vom Menschen. Herders Impulse für die Diakonie heute 57 stellen. Dagegen setzt Herder in Anspielung auf Jer 29,7 die Orientierung an „der Stadt Bestem“, dem „gemeinsamen Besten“, d.h. dem Gemeinwohl. Mit seinem Menschen- und Gottesbild und mit seinem daraus abgeleiteten Bildungsbegriff liefert Herder beachtliche Impulse für eine staatliche Ordnung bzw. für ein Gemeinwesen, − das durch bürgerschaftliches, zivilgesellschaftliches Engagement möglichst jeden mündigen Bürgers, jeder mündigen Bürgerin, geprägt ist, − das durchgehend subsidiär angelegt ist, − in dem sich freie und private Träger, Vereine, Stiftungen und Verbände – zusammen mit staatlichen Institutionen – für das Gemeinwohl und die Daseinsvorsorge einsetzen. Bei Herder ist keine dogmatische Vorgabe zu finden, wie das Gemeinwesen im Einzelnen auszusehen habe. Und genau darin besteht ein gewichtiger Vorteil: Die Organisation des Gemeinwesens ist von einer „nach vorne offenen“ Entwicklung geprägt, sie hat Prozesscharakter, der allerdings von grundlegenden anthropologischen Voraussetzungen ausgeht und geprägt wird. Für Herder gibt es keine verführerische geschlossene politische Gesamtvision, die ihrem Wesen nach ein einschränkender menschlicher Entwurf, letztlich mit innerer Konsequenz eine freiheitsfeindliche Ideologie darstellt, die die Menschen doch nur ins Unglück stürzt. Dafür gibt es schon viele, zu viele Beispiele – auch in unserer nahen Geschichte. 3.3. Humanität als universales Kriterium Herder ist kein nationaler oder gar nationalistischer Denker, auch wenn er gelegentlich so verstanden und so gebraucht bzw. mißbraucht wurde. Die hohe Wertschätzung nationaler Kulturzeugnisse – übrigens aller „Völker“ – bei Herder hat einen anderen Grund: „Herders kulturtheoretisches Programm setzt radikaler als andere Autoren auf die Partikularität von Kulturen, auf ihr Recht, in ihrer Besonderheit zu existieren und ihre Potentiale vollständig und unbedrängt von kolonialen, absolutistischen und kultur- bzw. religionsmessianischen Bedrohungen auszuleben.“38 Die neuere Forschung erkennt bei Herder einen transkulturellen Humanitätsbegriff: „Es gelingt Herder ansatzweise, seine Kulturtheorie aus politischen, sozialen, kulturellen, ethnischen, religiösen, nationalen und rassistischen Verengungen zu lösen, die die Kulturtheorie vor und nach ihm immer wieder erfahren hat.“39 In der Sache ist Herder – trotz starker gegenseitiger Animosität und Kritik – Kant sehr nahe: Auch bei ihm gilt, dass der Mensch 38 39 Bernd Fischer, Herder heute? Überlegungen zur Konzeption eines transkulturellen Humanitätsbegriffs, in: Herder Jahrbuch Herder Yearbook 8, Heidelberg 2006, 175–193, hier: 184. Fischer, Herder heute, 175–193, hier 176. Vgl. auch Anne Löchte, Johann Gottfried Herder. Kulturtheorie und Humanitätsidee der Ideen, Humanitätsbriefe und Adrastea, Würzburg 2005. 58 Klaus Scholtissek niemals zum Zweck gemacht werden darf, sondern immer Selbstzweck ist. So beschreibt Herder Menschlichkeit in den Humanitätsbriefen als Befähigung „zum erbarmenden Mitgefühl des Leidens seiner Mitmenschen, zur Teilnahme an den Unvollkommenheiten ihrer Natur, mit dem Bestreben, diesen zuvorzukommen, oder ihnen abzuhelfen“40. Herder denkt – auch hier geprägt von seinem Menschen- und Gottesbild einerseits und der auf Universalität drängenden Aufklärung andererseits – Menschenwürde und Menschenrechte universal. In seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit schreibt er: “[D]enn unverjährbar sind die Rechte der Menschheit.“41 Für Herder geht es in allen seinen Ausführungen zum Menschen um die gesamte Oikumene, wörtlich: die gesamte bewohnte Welt. 4. Ausblick: Quo vadis – wohin gehst du – Diakonie? Ein „hohes Bild“ vom Menschen – was heißt das für sozialdiakonische Arbeit heute? Herder erinnert nachdrücklich an die Basis, an die Ressourcen, Potenziale und Ziele diakonischer Arbeit: Diakonie ist soziale Arbeit von Menschen für Menschen. Dabei ist es entscheidend, wie der Menschen gesehen wird: Ist er das begabte Geschöpf eines liebenden Gottes? Ist er sein eigener Gott? Ist er ein in sich selbst verliebter Narziß, der sich immer nur um sich selbst dreht? Oder ist er – wie Albert Camus den Menschen beschrieben hat – ein einsames Subjekt, das aus moralischer Empörung über die tagtäglichen Ungerechtigkeiten einen schier aussichtslosen Kampf gegen das Unrecht führt (vgl. seine Darstellung des Sisyphos)? Mit den biblischen Schöpfungserzählungen und mit Herder lassen sich Menschen als Mandatare verstehen, als Sachwalter Gottes in seiner guten Schöpfung. Beides gehört zum Menschen und macht ihn einzigartig: Kreatürlichkeit und Kreativität. (a) Menschen sind und bleiben endliche und fehlbare Geschöpfe. Sie erschaffen sich nicht selbst. Damit sind Grenzen gesetzt, an denen Menschen sich reiben mögen. Im Kern ermöglicht diese Einschätzung jedoch die Anerkennung der eigenen Grenzen vor Selbsttäuschung, Maßlosigkeit und Größenwahn, gnadenlosem Perfektionismus und im Extremfall auch vor der Auslese, der Eugenik. Zur Anerkennung menschlicher Grenzen gehört auch die Anerkennung und das Wissen um menschliche Schuld, von der niemand frei ist – nach klassischer kirchlicher Lehre gab es nur einen einzigen Menschen, der frei war von Schuld: Jesus von Nazareth. In der Anerkennung menschlicher Grenzen liegt auch eine große Entlastung – gerade für Mitarbeitende und Verantwortliche in der sozialen Arbeit: Wir leben eben (noch) nicht im 40 41 Herder, Briefe zu Beförderung der Humanität (2 Bde.), hg. v. Heinz Stolpe, Berlin/Weimar 1971, I, 141. Vgl. Fischer, Herder heute, 175–193, hier 185 f. Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 2 Bde., Berlin/Weimar 1985, hier: II, 219. Ein „hohes Bild“ vom Menschen. Herders Impulse für die Diakonie heute 59 Paradies, wir können es auch nicht durch unserer Hände Arbeit herbeiführen. Wir brauchen und dürfen unsere eigenen Ansprüche und die, die wir an andere herantragen, nicht in unerreichbare Höhe schrauben, um dann regelmäßig daran zu scheitern. (b) Gleichzeitig gilt: Jeder Mensch, wirklich jeder (!) Mensch, kann im Rahmen seiner je individuellen Möglichkeiten kreativ sein, schöpferisch tätig sein. Dazu bedarf es vielfältiger Bildungsangebote und -wege, die jeden einzelnen darin unterstützen, seine Potentiale und Talente zu entfalten, die jeden einzelnen darin unterstützen, Verantwortung für sich selbst und für andere zu übernehmen. Die UN-Menschenrechtskonvention macht sehr zu Recht die Passgenauigkeit für den einzelnen Menschen zum Maßstab aller Inklusionsschritte: „Bei allen Maßnahmen, die Kinder mit Behinderungen betreffen, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“ (Art. 7 Absatz 2 der UNMenschenrechtskonvention). Einer der leitenden Grundbegriffe sozialer Arbeit heißt seit vielen Jahren Teilhabe (= Partizipation). Dieses Wort beschreibt zunächst einmal einen formalen Vorgang: Ein Mensch erhält Anteil an einem gesellschaftlichen Gut: Bildung, Arbeit, Kultur. Und er hat ein Menschenrecht auf diese Teilhabe. Mit dem biblischen, dem jüdisch-christlichen Menschenbild gibt es auch eine inhaltliche Bestimmung dieses Teilhabeprozesses: Vermittels der Teilhabe an Bildung, Arbeit und Kultur verwirklicht jeder einzelne Mensch – nach je eigenem Maß – die ihm aufgetragene Kreativität, Verantwortung zu übernehmen für die Schöpfung, Verantwortung zu übernehmen für die eigene Bildung und die Bildung anderer, für das Gemeinwesen, für Menschen, die in vielfacher Hinsicht auf Hilfe und Assistenz angewiesen sind. Im Lichte des jüdisch-christlichen Menschenbildes zeigt sich das grundlegende Menschenrecht auf gesellschaftliche Teilhabe eingebunden und eng verwoben mit einem ethischen Auftrag, der sich aus einem Plan und Willen des Schöpfers ergibt: als Geschöpf inmitten der Schöpfung für die Heilung der Schöpfung zu dienen. Klaus Scholtissek, Dr. theol. habil., ist Sprecher der Geschäftsführung der Diakoniestiftung Weimar Bad Lobenstein gGmbH und Privatdozent für das Fachgebiet Neues Testament der Theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Arbeiterpredigten Von einem Dilemma diakonischer Homiletik Walter Göggelmann Einleitung Diakonisch predigen – was heißt das? Benachteiligte Menschen(gruppen) zum Thema der Predigt machen und sich mit dem Wort der Predigt ihnen selbst zuwenden? Kein Geringerer als der „Vater der inneren Mission“, Johann Hinrich Wichern (1808–1881), gibt das Anliegen 1848 auf dem Wittenberger Kirchentag, als sich hinter vielen „sozialen Fragen“ bereits eine große „Soziale Frage“ am Horizont abzuzeichnen beginnt, der Homiletik seines Jahrhunderts als diakonische Aufgabe mit auf den Weg: „Wo ist die Predigt seines (sc. Gottes) Wortes an unsere Armen? Wo sind die Armen in unseren Predigten und in unseren Gottesdiensten?“ Als Antwort auf diese Frage genügt es eben nicht, wenn „das Evangelium in die Kirchengebäude eingesperrt ist.“ „Von den Dächern“ ist es zu predigen! 1 Es reicht nicht einmal, wenn man die Angelegenheiten der Armen auf die Kanzeln bringt, ihnen selbst ist – wo auch immer! – das Evangelium zu predigen. Mehr als zwei Jahrzehnte wird es dauern, bis er selbst in Buckau bei Magdeburg vor Industriearbeitern einen ersten Versuch zur Einlösung dieses Versprechens wagt.2 Sind doch die Industriearbeiter in dieser Zeit in den neuen Industrierevieren die von der schlimmsten Armut befallene neue soziale Schicht. Noch einmal fast zwei Jahrzehnte – bis zum Jahr 1888 – werden vergehen, bis der „soziale Pastor“ Friedrich Naumann (1860–1919) Wicherns im erweckten Luthertum verwurzelten homiletischen Anlauf innerer Mission durch einen kulturprotestantisch geprägten, bereits weitgehend zum Predigtgenus ausgereiften Versuch „Arbeiterpredigt“ fortführen wird.3 In der Folgezeit entwickelt sich das Genus mit Schwerpunkt im bereits stark industrialisierten Sachsen und mit Ablegern im industriell aufholenden Württemberg sowie in Nürnberg noch etwa eineinhalb Jahrzehnte weiter bis ins erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts hinein. Besonders „soziale Pastoren“ aus verschiedenen theologischen Lagern machen, als sich die „Soziale Frage“ schwerpunktmäßig als Industriearbeiterfrage zu erkennen gibt, die „Arbeiterpredigt“ zu ihrer Aufgabe, geben ihr Ziele und Konturen und einen festen „Sitz im Leben“. 1 2 3 Vgl. Johann Hinrich Wichern, Sämtliche Werke I, hg. v. Peter Meinhold, Hamburg 1958, 30, 227; vgl. weiter III/2, Hamburg 1958, 160 f. Johann Hinrich Wichern, „Predigt vor Fabrikarbeitern“, gehalten am 3.2.1870 in Buckau bei Magdeburg; Manuskript im Archiv des Rauhen Hauses Hamburg, Bestand 61 H a, Nr. 105. Vgl. Friedrich Naumann, Arbeiterpredigt, gehalten am 13.5.1888 in Wilkau/Niederhaßlau, in: Friedrich Naumann, Werke I, hg. v. Walter Uhsadel, Köln-Opladen 1963, 56–67. Arbeiterpredigten. Von einem Dilemma diakonischer Homiletik 61 Aus den Ansätzen der Inneren Mission herausgewachsen, folgt dieses homiletische Anliegen einerseits der sozialistischen Arbeiterbewegung als Teil einer christlichen Gegenbewegung, um das Programm „christlich-sozial“ in größerer Breite aufzunehmen. Andererseits wird es dann aber auch die Entwicklungen an sich vorbei- und weiterziehen lassen, als „das ChristlichSoziale“ die Fesseln der Christlich-Sozialen Bewegung sprengt, um in einer durch das Programm „Klassenkampf“ geprägten Industriegesellschaft sozialpolitisch die Partei der Industriearbeiter zu ergreifen. Die dem sozialkonservativen Kontext der Christlich-Sozialen Bewegung entstammenden Arbeiterpredigten entstehen in respektvollem Abstand zu den Diskussionen des Evangelisch-Sozialen Kongresses im Dunstkreis des „sozialen Pastors“ Friedrich Naumann (1860–1919), besonders aber des sächsischen Pfarrers Ludwig Weber (1846–1922) und seiner Evangelischen Arbeitervereine und schließlich des Theologen und späteren Reichstagsabgeordneten Paul Göhre (1864–1928). Alle drei sind bezeichnenderweise nicht mehr von den Kanzeln der Industrieregionen zu vernehmen. Der theologische wie der politische Neuansatz der Religiösen Sozialisten um Christoph Friedrich Blumhardt (1842–1919), der Schweizer Theologen Hermann Kutter (1863–1931) und Leonhard Ragaz (1868–1945) ist für diese Predigten und ihre Prediger theologisch wie sozialpolitisch noch in weiter Ferne.4 Die diakoniegeschichtliche Reichweite der Arbeiterpredigten ist inhaltlich begrenzt durch die Anliegen der Inneren Mission und deren ordnungstheologische Gesellschaftsbilder, die Skepsis gegen alle empirische Sozialanalyse, die Front gegen „den Sozialismus“ in toto und besonders durch das Ziel sozialer Harmonie. Am deutlichsten aber grenzen sie sich gegen alle Richtung Sozialpolitik und eine entsprechende Einmischung weisenden Anliegen ab: Das ist Sache des Staates! Mit dem Evangelium der Liebe und des Friedens eine das bestehende Staats- und Gesellschaftssystem weiter entwickelnde Sozialreform begleiten – das sind die äußersten inhaltlichen Grobkonturen ihres homiletischen Anliegens. Wohin nun begeben sich damit diese Predigten – wessen Predigten: die der Kirche oder die der Inneren Mission? – auf diesem ja durch den noch gar nicht recht entwickelten „vierten Stand“ mit seinen massenhaften Nöten und „den Sozialismus“ dicht besiedelten Boden? Wie verstehen sich die „Arbeiterpredigten“ selbst? Als Versuche sozialer Diakonie allemal! Aber eben dies nach verschiedenen Seiten hin zu präzisieren – das wollen sich die folgenden Überlegungen zur Aufgabe machen. Deren erste Schicht ist also historisch sozial-deskriptiv: Wie weit kann die Innere Mission der deutschen evangelischen Kirche an der Basis der Gesellschaft den radikalen Systemveränderungen folgen, und inwieweit verschließt sie sich – auch in ihren Predigten – diesem 4 Zur Gesamtentwicklung des Anliegens „christlich-sozial“ vgl. Günter Brakelmann, Die soziale Frage des 19. Jahrhunderts, Witten 21964, bes. 162 ff., 175 ff., 183 ff.; Walter Göggelmann, Christliche Weltverantwortung zwischen sozialer Frage und Nationalstaat, Baden-Baden 1987, 65 ff., 173 ff.; ders., Christlich-soziale Bewegung, in: RGG4, Bd. II, Tübingen 1999, Sp. 269–272. 62 Walter Göggelmann Problemkreis? Inwieweit also ist „Arbeiterpredigt“ überhaupt in der Lage, sich der Alltagswirklichkeit ihrer Zielgruppe anzunähern und sie Wicherns Anliegen entsprechend wenigstens vor dieser Zielgruppe zu formulieren: „Wir sind an eurer Seite und versuchen, euer Problem zu verstehen!“? Damit aber könnte Predigt gar nicht anders, als der Entwicklung der seit der Eisenacher Gründung 1876 Partei gewordenen Sozialdemokratie zu folgen – kritisch auf jeden Fall, aber in welcher Art von kritischer Distanz, mit wie viel Berührungsängsten und mit wie viel Solidarität vor allem mit der gemeinsamen Zielgruppe? Kann da das Ziel aller Arbeiterpredigt die Eingliederung der Arbeiter als eines „vierten Standes“ in die bestehende Ständegesellschaft sein? Eine Entscheidung an dieser Stelle aber könnte der überfälligen Diskussion enge Grenzen setzen, ja, sie auf vielen Feldern fast blockieren. Diese Frage erweist sich sehr rasch als Frage nach dem Verhältnis der Arbeiterpredigten zur Christlich-Sozialen Bewegung insgesamt. Was sind unter den Voraussetzungen dieses Fragehorizontes überhaupt „Arbeiterpredigten“? „Das sind für Arbeiter bestimmte und an sie gerichtete Predigten“, definiert 1905 der Herausgeber eines so titulierten Bandes.5 Aber wo und wie an Arbeiter gerichtet? Denn die Predigten sind zwar eindeutig durch ihre Zielgruppe definiert, aber der „Sitz im Leben“ solcher als Genus ausgewiesener Predigten entscheidet ja in hohem Maß mit über Ziele und Zielfelder! Damit ist – in der nächsten Tiefenschicht – die Frage nach dem diakonischen Stellenwert und dem diakonischen Selbstverständnis solcher Predigt gestellt: Als Evangelium der Hoffnung für eine Gruppe gesellschaftlich Benachteiligter definiert sich solche Predigt dann innerhalb eines Gesamtanliegens sozialer Diakonie.6 Diese Predigt will sich an eine klar definierte Zielgruppe richten. Doch wodurch ist diese selbst in den Predigten schwerpunktmäßig definiert? In erster Linie durch ihre Bedürftigkeit oder auch durch ihr Gewicht im Zusammenhang gesellschaftlicher Spannungen? Predigt will also „hingehen“7, hinaus – aus dem Kirchengebäude oder dem Raum der Kirche? Doch wie weit hinaus kann solche Predigt gehen und mit welchem Ziel? Sprache, Bilder, Alltagsbeispiele, bewusst eingesetzte oder als selbstverständlich vorausgesetzte Muster als Formen der Verdeutlichung wie überhaupt alle Spuren einer vorausgesetzten Lebenswelt können sicher manche Aufschlüsse geben. 5 6 7 Vgl. Friedrich Julius Winter (Hg.), Arbeiterpredigten. Die evangelische Predigt an der Schwelle des 20. Jahrhunderts II, Leipzig und Dresden 1905 (AP). Vgl. zu diesem Grundanliegen von Predigt Gerhard K. Schäfer (Hg.), Die Menschenfreundlichkeit Gottes bezeugen. Diakonische Predigten von der Alten Kirche bis zum 20. Jahrhundert, Heidelberg 1991, 11, 24. Vgl. zur Formulierung Mt 28,19. Arbeiterpredigten. Von einem Dilemma diakonischer Homiletik 63 So erschließt dieser homiletische Fragenkreis die nächste, die theologisch-diakonische Tiefenschicht: Wie weit kann Predigt auf die Seite der Zielgruppe wechseln, sich ihrer traditionellen bürgerlichen Hüllen entäußern, also wirklich „hingehen“? Geht sie auf Arbeiter zu mit dem Ziel, diese „hereinzuholen“ in eine bürgerliche Kirche und eine bürgerlich dominierte Ständegesellschaft? Oder kann sie mit den Arbeitern gehen, anwaltschaftliche oder wenigstens moderative Funktion mit ergebnisoffenem Ausgang wahrnehmen? 8 Verstünde sie sich nur als Teil eines bürgerlichen Programms für Arbeiter, so würde sie eher Stoff für die Soziologie eines Segments des protestantischen Vereinswesens liefern. Und vollends als Apologie christlich-konservativer Sozialideale würde sich solche Predigt nicht nur in eine unlösbare Spannung zu ihrem „Sitz im Leben“, sondern zu ihrer Zielgruppe insgesamt begeben. Die homiletische Frage erweist sich somit als diakonisch-theologische wie als sozialethische Grundsatzfrage. Die folgenden Überlegungen möchten diese Blickrichtung an keiner Stelle aus den Augen verlieren. Durch diese Art der Aufgabenstellung legt sich folgende Gliederung nahe: Ein erster Abschnitt soll mit den wichtigsten Daten der politischen und sozialen Geschichte einen groben Rahmen für die Einordnung der Arbeiterpredigten abstecken. Dieser Rahmen als Vorgabe macht die differenziertere Aufgliederung von deren homiletischem Kontext in einem zweiten und Hauptabschnitt möglich: In welchen Wirkungsrahmen wollen sich die Arbeiterpredigten selbst eingeordnet wissen? Welchem Sitz im Leben sind sie zuzuordnen? Aus welcher geschichtlichen und heilsgeschichtlichen Zeitansage schöpfen sie ihr Selbstverständnis? An welche Zielgruppe sind sie ihrer Absicht nach und an welche sind sie faktisch gerichtet? Wie ist diese Zielgruppe definiert und verstanden? Welchem sozialen Kontext ist sie zuzuordnen, welchem soll sie sich einordnen? Von welchen biblisch-theologischen Ansätzen und von welchen ordnungstheologischen Zielvorstellungen erwarten die Predigten eine Lösung der anstehenden Probleme ihrer Zielgruppe? Welche Predigtziele in Bezug auf die Praxis des Glaubens und auf die Bilder von Kirche und Gesellschaft leiten die Predigten daraus ab? Wo und wie findet der Prediger für sich selbst und für die Ausdrucksformen seiner Predigten seinen Ort im Verhältnis zu der – angenommenen? – Lebenswirklichkeit seiner Hörer? Ein dritter Abschnitt will einigen Vermittlungsmustern von Glaubensverständnis und sozialer Wirklichkeit nachgehen an Hand von vermittelnden Begriffen: Welche Lösungsmuster entwickeln die Predigten zu den Problemkreisen von Teilhabe und Gerechtigkeit? Gelingt ihnen eine Ermutigung der Arbeiter zur Selbsthilfe? Wo und wie ziehen die Predigten die Grenzen zu politischer Interessenvertretung und sozialpolitischem Engagement? Welche Grenzverläufe zeichnen sich ab zu Formen von Anwaltschaft oder Parteilichkeit? Mit Überlegungen zur Thematik „Diakonische Homiletik und Sozialreform“ soll ein Schlussabschnitt die wichtigsten Ergebnisse dieser Überlegungen zusammenfassen. 8 Vgl. Schäfer, Menschenfreundlichkeit, 34. 64 Walter Göggelmann Wenn innerhalb der Überlegungen zum sozialen und zum homiletischen Kontext der Predigten in den Abschnitten II und III eine Entwicklung aufgezeigt werden soll, so folgt die Darstellung der Reihenfolge Wichern, Naumann, Ludwig Weber und dessen Einflussgebiet, behält sich aber stets die Ausblicke auf die weitere Entwicklung Friedrich Naumanns und der „jüngeren Christlich-Sozialen“ auf dem Evangelisch-Sozialen Kongress als politische Perspektive und als Vergleichskontext offen. Die der Untersuchung zu Grunde liegenden Predigten stellen als Quellen eine schmale Auswahl aus der Predigttätigkeit einer Zeit und einer Bewegung dar, deren Zeugnisse zum größten Teil verloren sein dürften. Als Arbeitsgrundlage sind sie jedoch durch den exemplarischen Charakter geeignet, den sie für sich in Anspruch nehmen können: Die wenigen gedruckten Beispiele ermöglichen immerhin den Blick auf die Entwicklung des ganzen Genus „Arbeiterpredigt“. Diese Entwicklung beginnt mit einer Predigt Johann Hinrich Wicherns „vor Fabrikarbeitern“ aus dem Jahr 1870. Sie weist noch kaum für die Prägung des Genus wirksame Züge auf, hat aber zweifelsohne eine Art von Initialcharakter. 9 Eine Predigt des „sozialen Pastors“ Friedrich Naumann aus seiner der Inneren Mission verpflichteten Entwicklungsphase aus dem Jahr 1888 weist bereits entwickelte und entwicklungsfähige Züge eines Predigtgenus auf und bietet damit der Untersuchung wichtige Ansatzpunkte für weiterführende Fragestellungen.10 Die interessantesten Materialien aber finden sich in der von Friedrich Julius Winter herausgegebenen Predigtsammlung. Diese eröffnet den Blick auf die Entwicklung eines etablierten Predigtgenus im Kontext der in dieser Zeit weitgehend von Ludwig Weber geprägten Evangelischen Arbeitervereine.11 Die Distanzierung dieser Predigten von der Entwicklung der Arbeit des Evangelisch-Sozialen Kongresses12 macht die Abgrenzung dieses Genus nach dieser Seite hin und auch schließlich sein Auslaufen in den Jahren vor 1910 auf deutschem Boden verständlich. Den Amtsbiografien der Prediger, die sich an dieses Genus heranwagen, geht, soweit diese für die Predigten relevant ist, eine kurze Übersicht am Ende der Untersuchung nach. Ob die Motivation der Prediger von ihrem Wirkungsort, ihrem Seelsorgebereich oder von einem ausgeprägten christlich-sozialen Anliegen her zu verstehen ist, lässt sich aus den Predigten kaum ersehen. Die Untersuchung geht von einem je nach Prediger, Ort und Kontext unterschiedlichen Mischungsverhältnis aller dieser Momente aus. „Arbeiterpredigten“ der „Religiösen Sozialisten“ stellen einen in der zeitlichen Einordnung und in der Zielsetzung und den theologischen und politischen Verortungen davon deutlich zu 9 10 11 12 Vgl. Wichern, Predigt vor Fabrikarbeitern, s. o. Anm. 2. Vgl. Naumann, Arbeiterpredigt; Göggelmann, Christliche Weltverantwortung, 65 ff. Vgl. Winter, AP. Vgl. u. Abschnitt I. Arbeiterpredigten. Von einem Dilemma diakonischer Homiletik 65 unterscheidenden Neuansatz dar. Ein Vergleich damit müsste Gegenstand einer eigenen Untersuchung sein. I. Eine Zeit des Umbruchs in Staat, Gesellschaft und Kirche Die Gründung des Deutschen Reiches 1871 und die französischen Reparationszahlungen nach dem deutsch-französischen Krieg lösen in vielen Regionen Deutschlands, auch im Königreich Württemberg mit seinem diesbezüglichen Aufholbedarf, einen kräftigen neuen Industrialisierungsschub aus. Die „Soziale Frage“ im Gefolge dieser Industrialisierungswelle gibt sich nun in aller Deutlichkeit schwerpunktmäßig als Industriearbeiterfrage zu erkennen.13 Ein erster Abschnitt soll nun an die relevanten staats- und gesellschaftspolitischen Daten erinnern und damit ein grobes zeitgeschichtliches Gerüst vorgeben. 1. Der „soziale Frühling“ Mit dem Gothaer Programm besiegeln 1876 die verschiedenen Strömungen „des Sozialismus“ ihren Zusammenschluss zur „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschlands.“ Das „Sozialistengesetz“ von 1878 markiert nur die defensive Seite der Reaktion des BismarckReichs. Mit der im Jahr 1881 beginnenden Sozialgesetzgebung und ihren Ansätzen für Schutzund Versorgungsrechte der Arbeiter geht das neue Reich in die Offensive, die von kirchlicher Seite durchgängig als „Staatsgesetz“ gewordene Nächstenliebe wahrgenommen wird. 14 Kaum zwei Jahre nach seiner Thronbesteigung entlässt Wilhelm II. seinen Kanzler Bismarck, hebt das Sozialistengesetz auf und ruft mit seinen „Februarerlassen“ 1890 einen „sozialen Frühling“ aus. Auf die Verdoppelung der sozialdemokratischen Mandate bei den Reichstagswahlen im selben Jahr reagiert der Kaiser postwendend mit einem deutlichen Signal: Er lädt zu einer ersten Internationalen Konferenz für Arbeitsschutz nach Berlin ein. 15 Bereits 1891 dämpft jedoch der Monarch durch sein Einschwenken auf die Linie des nach dem ultrakonservativen „Schlotbaron“ von der Saar Karl Ferdinand Freiherr von Stumm-Halberg (1836–1901) benannte Ära im Reichstag alle entsprechenden Erwartungen. Im Jahr 1895 gibt der Kaiser schließlich den anhaltenden Angriffen des Freiherrn im Reichstag nach und dokumentiert mit seinem Telegramm an Geheimrat Hinzpeter: „Stöcker hat geendet. Christlich-sozial ist Unfug. 13 14 15 Vgl. Gert Lewek, Kirche und soziale Frage um die Jahrhundertwende, dargestellt am Wirken Ludwig Webers, Neukirchen-Vluyn 1963, 9. Vgl. als Beispiel die Predigt von Hermann Mosapp in Stuttgart zum Reformationsfest 1893, in: Winter, AP, 66. Vgl. Jürgen Stein, Zwischen Thron und Arbeitswelt. Die evangelische Kirche und der Arbeitsschutz 1895– 1905, in: Theodor Strohm/Jörg Thierfelder (Hg.), Diakonie im deutschen Kaiserreich (VDWI 7), Heidelberg 1995, 60. Vgl. weiter: Traugott Jähnichen, Vom Industriearbeiter zum Industriebürger, Berlin 1993, 105. 66 Walter Göggelmann Soziale Pastoren sind ein Unding. Wer christlich ist, ist auch sozial“, sein endgültiges Einschwenken auf den sozialreaktionären Kurs.16 Damit ist der sozialpolitische Rahmen grob umschrieben, der auch den diakonischen Initiativen der Christlich-sozialen Bewegung17 an den Rändern der landesherrlich regierten Kirchen Spielräume und Grenzen absteckt. Die Christlich-soziale Bewegung begrüßt 1890 zwar einmütig die kaiserlichen Initiativen, kann und will aber dem sozialreaktionären Kurs des Kaisers jetzt nicht mehr folgen. Die „Arbeiterpredigten“ sind zwar zum großen Teil Gewächse der Folgezeit des „sozialen Frühlings“. Ihr Auslaufen nach dem Jahr 1905 aber hat seinen Grund vorwiegend in internen Abgrenzungen der Christlich-sozialen Bewegung selbst. Die von ganz oben vorgegebene Veränderung des sozialen Klimas im Deutschen Reich mag dabei in zweiter Linie eine Rolle spielen. 2. „Christlich-sozial“ – Zwischen Kirche, innerer Mission und Sozialpolitik Die durch diesen Kontext vorgezeichneten diakonischen Rahmenbedingungen sollen Gegenstand des nächsten Abschnitts sein. Eine wenig differenzierte Ablehnung gegenüber dem „revolutionären und atheistischen Sozialismus“ gehört nach 1848 zu den Geburtsmerkmalen aller im „Centralausschuss für innere Mission“ nach dem Wittenberger Kirchentag organisierten diakonischen Initiativen. Die meisten von ihnen sind dem Frömmigkeitshintergrund der Erweckungsbewegung und einem sozialkonservativen Gesellschaftsbild mit ordnungstheologischen Begründungen verpflichtet. Wichtige Differenzierungen im Verhältnis zum „Sozialismus“ verdankt die Christlich-soziale Bewegung 1877 – ein Jahr nach der Verabschiedung des Gothaer Programms der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschlands – dem märkischen Pfarrer Rudolf Todt (1839–1887). In seinem Buch „Der deutsche radikale Sozialismus und die christliche Gesellschaft“ hält er das biblische Liebesgebot neben die Forderungen „der Sozialisten“ und entdeckt dabei zahlreiche Forderungen, die auf diesem Hintergrund ihre Berechtigung haben. Gegen das Ziel der Revolution und den Atheismus der Sozialisten grenzt er sich in aller Form ab. Das Liebesgebot der Bibel – so Todt – erzwingt geradezu eine kritische Stellung gegenüber den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen, die große Teile der deutschen Bevölkerung in bitterer Armut festhalten, und gegen deren Sanktionierung als Gottesordnungen. Angesichts der Verhältnisse 16 17 Vgl. Klaus Erich Pollmann, Landesherrliches Kirchenregiment und soziale Frage, Berlin 1973, 160 f.; 261 f. Zur Christlich-sozialen Bewegung vgl. o. Anm. 4. Arbeiterpredigten. Von einem Dilemma diakonischer Homiletik 67 in den Fabriken fordert Todt eine theologische und anthropologische Neubewertung der Arbeit.18 Sein Pfarrerskollege, der Hofprediger Adolf Stöcker (1835–1909), stürzt sich, um die Arbeiter der Sozialdemokratie zu entreißen und sie zurück zu holen zu Kaiser und Kirche, in die öffentliche Auseinandersetzung und gründet 1878 bei der „Eiskellerversammlung“ in Berlin die „Christlich-soziale Arbeiterpartei“, um der „Partei der Verführung“ eine „Partei der Rettung“ mit sozialpolitischen Zielen entgegen zu setzen.19 Ab 1882 werden im Ruhrgebiet die ersten „Evangelischen Arbeitervereine“ gegründet. Als Gegenströmung gegen den Ultramontanismus in der katholischen Kirche haben sie Arbeiterbildung, sittliche Hebung, Kaisertreue und soziale Harmonie als Ziele in ihren Statuten. Stark bürgerlich-kleinbürgerlich dominiert, bekommen sie nie ein proletarisches Gepräge. Eine sozialpolitische Vertretung der Interessen der Arbeiter liegt ihrer Zielsetzung fern.20 1884 verfasst Theodor Lohmann (1831–1905), zuvor Ministerialrat und Bismarck-Berater bei der Sozialgesetzgebung, im Auftrag des Centralausschusses für innere Mission eine Denkschrift: „Die Aufgabe der Kirche und ihrer inneren Mission gegenüber den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kämpfen der Gegenwart“. Mit der darin enthaltenen Entlarvung des ökonomischen Liberalismus als Materialismus und einer differenzierteren Einschätzung der Sozialdemokratie skizziert er konkrete Forderungen an Staat und Kirche sowie an Arbeitgeber und Arbeitnehmer und andere in der Gesellschaft wirkende Kräfte. Mit dieser Verbindung von sozialpolitischen Grundsatzüberlegungen und konkreten Handlungsoptionen geht die innere Mission einen ersten wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer Stellungnahme zu sozialpolitischen Fragen.21 Friedrich Naumanns (1860–1919), des „sozialen Pastors“, noch ganz aus dem Kontext der inneren Mission herausgewachsene „Arbeiterpredigt“ ist insofern ein kirchlicher Meilenstein, als sie „hinausgeht“ und eine kirchliche Verpflichtung für Arbeiter in einem Industriegebiet als Zielgruppe wahrnimmt. Damit setzt sie im Namen der inneren Mission der deutschen evangelischen Kirche ein sozialpolitisches Zeichen. Dieses Zeichen wird unterstrichen durch ein eigenständiges klar konturiertes Predigtgenus und einen festen „Sitz im Leben“ beim Jahresfest eines Arbeitervereins.22 18 19 20 21 22 Vgl. Rudolf Todt, Der deutsche radikale Sozialismus und die christliche Gesellschaft, Wittenberg 1877, 44, 377, 381. Vgl. weiter Jähnichen, Vom Industrieuntertan, 85 ff. Vgl. Jähnichen, Vom Industrieuntertan, 88 f.; Walter Frank, Hofprediger Stöcker und die christlich-soziale Bewegung, Hamburg 21935, 38, 50; Lewek, Kirche und soziale Frage, 20. Vgl. Brakelmann, Soziale Frage, 186 ff. Dort finden sich auch Statuten und Statistiken aus den Jahren 1883– 1890. Vgl. weiter Stein, Zwischen Thron und Arbeitswelt, 57. Vgl. auch die Predigten von G.W. Winter 1901 in Dresden und von A. von Colditz 1900 in Chemnitz in: Winter, AP, 98 f., 119 ff. Vgl. Renate Zitt, Theodor Lohmanns Bedeutung für die Positionsbestimmung der inneren Mission, in: Theodor Strohm/Jörg Thierfelder (Hg.), Diakonie im deutschen Kaiserreich (VDWI 7), Heidelberg 1995, 75, 97 ff. Vgl. Naumann, Arbeiterpredigt, 56 ff. 68 Walter Göggelmann Der durch die kaiserlichen „Februarerlasse“ des Jahres 1890 ausgerufene „soziale Frühling“ scheint erstmals den aus der inneren Mission herauswachsenden christlich-sozialen Kräften am Rand der Kirche Gelegenheit zu einer Bündelung zu geben: Der erste „Evangelisch-soziale Kongress“ 1890 schafft einem Spektrum von Sozialkonservativen über Kathedersozialisten bis hin zu Freikonservativen und sozial aufgeschlossenen Nationalliberalen, von erweckten Lutheranern bis zu theologisch Liberalen eine gemeinsame öffentliche Diskussions- und Wirkungsebene. Der von Hofprediger Adolf Stöcker einberufene Kongress stellt sich laut Satzung die Aufgabe, „die sozialen Zustände unseres Volkes vorurteilslos zu untersuchen, sie an den Maßstäben der sittlichen und religiösen Forderungen des Evangeliums zu messen und diese für das heutige Wirtschaftsleben fruchtbarer und wirksamer zu machen als bisher“. 23 Das Ziel der Zusammenführung von Theologie und Nationalökonomie auf einer kirchenpolitisch neutralen Ebene greift Rudolf Todts Impulse auf, um sie sozialethisch wie sozialpolitisch bis zur Konkretion weiterzuentwickeln. Ein stolzes Ziel! Nun kann sogar der Preußische Oberkirchenrat die Pastoren zu sozialer Aktivität ermutigen. Der vom obersten preußischen Kirchenherrn Wilhelm II. ausgerufene „soziale Frühling“ macht‘s möglich! Im selben Jahr können sich in Erfurt die Evangelischen Arbeitervereine zu einem Gesamtverband zusammenschließen. Pfarrer Ludwig Weber fängt als Schriftführer an, um ab 1898 dem immer mächtiger werdenden Gesamtverband sein Gepräge zu geben. Dass sich an seinem sozialharmonistischen Kurs innerhalb des Gesamtverbandes die Geister scheiden und dass besonders am Verhältnis zu den Gewerkschaften und zur Sozialdemokratie in den Fragen der Interessenvertretung der Arbeiter und des Arbeitskampfes heftige Diskussionen entstehen und die verschiedenen Kräfte des Verbandes in Flügelkämpfe verwickeln werden, ist bald absehbar.24 In dieser Zeit konzentrieren sich in der Entwicklung des „sozialen Pastors“ und Vereinsgeistlichen für innere Mission in Frankfurt, Friedrich Naumann, geradezu die vorwärts drängenden Kräfte des Evangelisch-sozialen Kongresses: Das Evangelium des Friedens verlangt um des Liebesgebots willen in dieser Kampfgesellschaft die Parteinahme: Die soziale Perspektive „von unten her“ als Präzisierung des Programms „christlich-sozial“ muss – so Naumann – den gebündelten Kräften der Christlich-sozialen Bewegung die sozialethische und sozialpolitische Marschrichtung vorgeben.25 Die Entlastung der Erde von „Weh und Leid“ ist 23 24 25 Zitiert nach Paul Göhre, Die Evangelisch-soziale Bewegung, Leipzig 1896, 146. Vgl. Lewek, Kirche und soziale Frage, 83; Pollmann, Landesherrliches Kirchenregiment, 107; 110 f.; Gottfried Kretschmar, Der Evangelisch-Soziale Kongress. Der deutsche Protestantismus und die Soziale Frage, Stuttgart 1972, 18 f.; 22 f. Vgl. Lewek, Kirche und soziale Frage, 28 f. Vgl. dazu Göggelmann, Christliche Weltverantwortung, 69, 101, bes. 76 ff. Dort finden sich auch die entsprechenden Belegstellen. Arbeiterpredigten. Von einem Dilemma diakonischer Homiletik 69 „unmittelbare Religion“, die nicht mehr durch ein individualistisches Persönlichkeitsideal zu vermitteln ist.26 So ist die vom Theologen Paul Göhre (1864–1928) und dem Nationalökonomen Max Weber (1864–1920) auf dem Evangelisch-sozialen Kongress 1894 vorgetragene Auswertung der Landarbeiterenquete, einer die Lebensverhältnisse der Landarbeiter in den ostelbischen Gebieten mit Mitteln der frühen Sozialstatistik erkundende Befragung, nur der zündende Funke. Sie legt vor der Öffentlichkeit des Kongresses schonungslos die Mängel eines politischen und sozialen Systems offen und zeigt Adolf Stöckers und Ludwig Webers auf dem Kongress immer noch verbreiteter sozialharmonistischer Grundeinstellung die Grenzen auf. Das durch das sozialdemokratische Stichwort „Klassenkampf“ signalisierte Problem trennt von nun an auf dem Kongress diese „älteren“ von den durch Friedrich Naumann und Paul Göhre angeführten „jüngeren“ Christlich-Sozialen.27 So ist es nur konsequent, dass im selben Jahr 1894 auf der Delegiertenkonferenz der Evangelischen Arbeitervereine in Essen und mit dem „Gewerkverein christlicher Bergarbeiter“ in Dortmund die ersten christlichen Gewerkschaften entstehen. 1899 gibt es bereits einen Zusammenschluss mit dem Namen „Gesamtverband christlicher Gewerkschaften“.28 Seiner obrigkeitlichen Einbindung und seiner obrigkeitsorientierten Tradition entsprechend rudert der Preußische Oberkirchenrat bereits 1895 von seinen Aufforderungen an die Geistlichen zu sozialer Tätigkeit zurück: Die Sorge um der „Seelen Seligkeit“, nicht soziale Aktivität, sei Aufgabe der Geistlichen.29 Mit dem Austritt Adolf Stöckers aus dem EvangelischSozialen Kongress und der Distanzierung der Arbeitervereine von den Entwicklungen dort hat sich die Bündelung der christlich-sozialen Kräfte bis zu deren Spaltung entwickelt. Und 1897 gehen Adolf Stöcker und Ludwig Weber mit der Gründung der „Kirchlich-Sozialen Konferenz“ offen in Konkurrenz zum Kongress.30 Als 1904 ein erster „Christlich-Nationaler Arbeiterkongress“ „Waffenbrüderschaft“ schließt „zwischen den Evangelischen Arbeitervereinen und der christlichen Gewerkschaft“ und als mit dem Bergarbeiterstreik im Ruhrgebiet 1905 diese Verbände zur Stellungnahme aufgefordert sind, ist deutlich: Auf monarchisch-sozialkonservativem Boden ist eine Stellungnahme überhaupt nicht zu erreichen. Die „schonungslose Härte der sozialen Wirklichkeit“ hat dieser Zeit die Grenzen eines „friedlichen Ausgleichs der sozialen Gegensätze“ endgültig aufgezeigt.31 26 27 28 29 30 31 Vgl. Naumanns Debattenrede zu „Christentum und Wirtschaftsordnung“ auf dem Evangelisch-sozialen Kongress 1893, Werke I, 337. Vgl. weiter Jähnichen, Vom Industrieuntertan, 125. Vgl. Hermann Wahlhäuser, Adolf Stöckers Wirken auf dem Evangelisch-sozialen Kongress in: Theodor Strohm/Jörg Thierfelder (Hg.), Diakonie im deutschen Kaiserreich (VDWI 7), Heidelberg 1995, 362 f. Vgl. Jähnichen, Vom Industrieuntertan, 120. Vgl. zur Gesamtthematik M. Schneider, Die christlichen Gewerkschaften 1894–1933, Bonn 1982. Vgl. Stein, Zwischen Thron, 67. Vgl. Kretschmar, Der Evangelisch-Soziale Kongress, 27, 31; Lewek, Kirche und Soziale Frage, 84. So Lewek, Kirche und Soziale Frage, 77 f. 70 Walter Göggelmann Kann es da Zufall sein, dass die Stimmen derer, die bisher Johann Hinrich Wicherns Auftrag gemäß32 zu „den Arbeitern“ „hinausgegangen“ sind, um „dem Arbeiterstand“ das Evangelium zu predigen und ihm in einer christlichen Ständegesellschaft zu Selbstbewusstsein zu verhelfen, fürs Erste einmal zum Schweigen kommen? Eine Theologie der Gottesordnungen, und sei sie auch noch so offen für die „Neuen“ in der Gesellschaft, die die Industrialisierung im Kaiserreich in Massen neu hervorbringt, ist ebenso unfähig zur Erfassung und Einordnung des Phänomens selbst wie zur Wahrnehmung des Arbeits- und Familienalltags der betroffenen Menschen und erst recht nicht zur Solidarität des Evangeliums mit denen „da unten“. Damit sind für die „Arbeiterpredigten“ einige wichtige Orientierungspunkte einer homiletischen Topografie benannt. In diesem Kontext werden sie also als Versuch diakonischer Predigten ihren Ort finden müssen. II. Arbeiterpredigten als diakonische Predigten 1. Ihr „Sitz im Leben“ Arbeiterpredigten als „für Arbeiter bestimmte und an sie gerichtete Predigten“ sind also durch diese Zielgruppe klar definierte Kasualpredigten. Doch sie sind auch Predigten, die man „unserer Zeit schuldig ist“.33 Damit ist ihre diakonische Zielsetzung umschrieben, wenn auch noch nicht näher definiert. Johann Hinrich Wicherns entsprechendem Versuch aus dem Jahr 187034 ist deutlich die Unsicherheit des Predigers abzuspüren, der noch ohne diese Definition und ohne ihren an der Predigtpraxis gewachsenen „Sitz im Leben“ auskommen muss. Dieser „Sitz im Leben“, der ab Friedrich Naumanns „Arbeiterpredigt“ aus dem Jahr 1888 als klare homiletische Vorgabe vorauszusetzen ist, soll nun an diesem Beispiel sowie an den Beispielen der von Friedrich Julius Winter herausgegebenen Sammlung auf seine Chancen, Spielräume und Grenzen hin betrachtet werden.35 Friedrich Naumanns „Arbeiterpredigt“ ist gehalten am 13.5.1888 beim ersten Jahresfest des Evangelischen Arbeitervereins Wilkau/Niederhaßlau im Chemnitzer Industriegebiet. 36 Die Stiftungsfeste der Evangelischen Arbeitervereine in der Nähe von Chemnitz, aber dann auch in Stuttgart und Nürnberg sind der Winterschen Sammlung zufolge der feste Sitz im Leben dieser 32 33 34 35 36 Vgl. oben Anm. 1. So die Definition von F.J. Winter, dem Herausgeber der Sammlung „Arbeiterpredigten (vgl. oben Anm. 5) Einleitung, V–VI. Vgl. Wichern, Predigt vor Fabrikarbeitern, s. o. Anm. 2. Vgl. zu den Texten Naumann, Werke I, 56 ff. und die Sammlung von F.J. Winter vgl. oben Anm. 5 und 33. Vgl. Naumann, Arbeiterpredigt 56 ff Arbeiterpredigten. Von einem Dilemma diakonischer Homiletik 71 an eine Zielgruppe gerichteten Kasual- und Zeitpredigten zwischen 1892 und 1905.37 Somit sind ihre inhaltlichen Spielräume durch die Ziele − Vergewisserung einer evangelischen Arbeiterschaft in ihrem Selbstbewusstsein als neuer „Stand“, − Bildung eines evangelischen Arbeiterbewusstseins in Abgrenzung zu verbandskatholischen Initiativen und − ein dem organistischen Verständnis von Gesellschaft verpflichteter Sozialharmonismus, der besonders am Verhältnis von Arbeitgebern und Arbeitnehmern in Fabriken zu bewähren ist,38 vorgegeben. Zwar stilisiert zum Beispiel Hermann Mosapp in Stuttgart am Reformationsfest 1892 und auch in seiner Predigt bei einem entsprechenden Stiftungsfest die Evangelischen Arbeitervereine zum Beweis dafür, dass die evangelische Kirche „die schwierigen und verwickelten Fragen“ der gesellschaftlichen Umbrüche der Zeit zu lösen im Stande sei. 39 Doch ist hier wirklich verfasste evangelische Kirche im Sinne eines landesherrlich regierten Kirchentums am Werk oder eher ein sich als freies Vereinswesen unter dem großen Dach oder zumindest im Ausfallgebiet der Inneren Mission am Rand der Landeskirchen entwickelnder Verbandsprotestantismus, der auf eine detaillierte Verhältnisbestimmung zur „offiziellen Kirche“ bewusst und aus guten Gründen verzichtet? Ebenso sind die in dieser Weise aus der Inneren Mission heraus gewachsenen und meist von Pastoren gegründeten Evangelischen Arbeitervereine in einem Maß bürgerlich dominiert, dass Paul Göhres spitze Feder sie 1896 – sicher in bewusster Übertreibung! – als „Anhängselvereine der Konservativen Partei“ bezeichnen kann. 40 Pfarrer Ludwig Weber als langjähriger Vorsitzender des Gesamtverbandes indessen versteht sich stets als Vermittler zwischen einer in sozialer Harmonie fest gefügten Ständegesellschaft, ihrer Kirche und dem mit berechtigten Forderungen an dieses Gefüge herantretenden Arbeiterstand.41 So viel ist deutlich: Die Kirche mit ihrem institutionellen Predigtamt geht nicht „hinaus“ an den Ort der Arbeiter, allenfalls einzelne ihrer Pastoren. Ob die Evangelischen Arbeitervereine wirklich Arbeitervereine sind oder für Arbeiter bestimmte Vereine und ob sie an dieser Stelle die Aktionsräume von Kirche und die Aktionsräume von Arbeitern in der Kirche wirklich erweitern, ist zu fragen. Denn eben an dieser Schnittstelle kommen die brennenden gesellschaftlichen Zeitfragen zu liegen. 37 38 39 40 41 Vgl. als Beispiele die Predigten von Friedrich Meyer in Zwickau (Winter, AP, 13 f.), von Hermann Mosapp in Stuttgart (a.a.O., 49 ff.; 58 ff.), von Franz Költzsch in Chemnitz (a.a.O., 76 ff.). Vgl. zu den Statuten des Gesamtverbandes der Evangelischen Arbeitervereine Jähnichen, Vom Industrieuntertan, 89 ff.; Brakelmann, Evangelische Kirche, 186. Vgl. Mosapp (Stuttgart 1892), in: Winter, AP, 60. So Göhre, Evangelisch-soziale Bewegung, 118. Zur bürgerlichen Dominanz in den Arbeitervereinen vgl. Brakelmann, Soziale Frage, 186 f. Vgl. ebd. 72 2. Walter Göggelmann Zeitfrage(n) und Zeitansagen Doch wie verstehen sich die Arbeiterpredigten selbst in ihrer Zeit? Wo und wie wollen sie sich verstanden und verortet wissen? In welchen Kontext hinein platzieren sie ihre Zeitansagen? Die meisten dieser Predigten bewegen sich in einem bildungsbürgerlichen und durch erwecktlutherische Kirchenfrömmigkeit geprägten Umfeld. Die Variationsbreite ihrer Zeitansagen reicht von der unspezifischen hilflosen Klage über „tiefste Dunkelheit“ der Zeit bis zur offensiven Formulierung der Aufgabe, diesem Zustand nicht mit quietistischer Herzensfrömmigkeit zu begegnen, sondern „die besonderen Verhältnisse“ dieser kritischen Zeit „auf die Kanzel“ zu bringen. Für diese „kritische Zeit“ sind folgende Rahmenziele und mittel formuliert: − Nicht der Politiker, sondern der Seelsorger muss das letzte Wort haben.42 − Der religiöse und der soziale Boden dürfen in der Zeit nach Charles Darwin nicht mehr als Gegensätze gesehen werden. Das ist ein zentrales Zeiterfordernis.43 − Die Erfolge der Industrie sind doch nur „Blendwerk“, durch das man sich nicht täuschen lassen darf. Die Hauptkennzeichen der Zeit seien – so die Predigten durchgängig – letztlich die durch die Industrie entstehenden moralischen Schäden. Eben die Industrie sei es, die von ganz oben bis ganz unten in der Gesellschaft der Selbstsucht zur Dominanz verhelfe. Und Atheismus und Sozialdemokratie – fast schon ein festes Begriffspaar – sind für viele Prediger nur die offenkundigsten Beispiele dieses großen Schadens. „Mächtig ist der Feind, den’s gilt zu dämpfen“44, ist der Grundtenor vieler Predigten. Die sozialkonservative Angst vor allem, was das hergebrachte Ordnungsgefüge in Frage stellt, prägt die meisten Zeitansagen, allerdings ohne dass auch nur eine Predigt zu apokalyptischen Ausdruckmitteln greift. „Irdisch, menschlich, teuflisch“ markiert in der Ausdrucksweise die äußersten Grenzen.45 Das ist sicher eine bemerkenswerte Entwicklung im Verhältnis zu der Generation um 1848. Lichtblicke sehen die Arbeiterpredigten in der Sozialgesetzgebung als der Antwort des christlichen Deutschland auf die sozialen und auch die sozialdemokratischen Herausforderungen. Viele Zeitpredigten begrüßen sie geradezu als eine Wendemarke. 46 Der Rückgriff auf die heiligen Güter der Reformation, die in den verordneten Kampf für „evangelischen Glauben und treue Vaterlandsliebe“ die Tugenden des Kampfesmutes und der Tüchtigkeit einbringen, klingt dagegen allerdings eher wie eine Durchhalteparole. 47 42 43 44 45 46 Vgl. Christian Karl Kudwig Geyer (Nürnberg o.J.), in: Winter, AP, 42, 44; Ernst Schubert, Die Evangelischen Arbeitervereine im Revolutionsjahr 1848, Gießen 1913, unter: „Grundsätze für die Gegenwart“, 167, 170. So Mosapp (Stuttgart 1893), in: Winter, AP, 63; Meyer (Zwickau), in: Winter, AP, 22. Meyer (Zwickau o. J.), in: Winter AP, 14; vgl. 16; 22. Vgl. weiter Mosapp (Stuttgart 1892), in: Winter AP, 53. So Mosapp (Stuttgart 1892), in: Winter, AP, 63. Vgl. als – sicher repräsentatives – Beispiel Mosapp (Stuttgart 1893), in: Winter, AP, 66. Arbeiterpredigten. Von einem Dilemma diakonischer Homiletik 73 Der prophetische und kämpferische Optimismus des Chemnitzer Predigers Franz Költzsch im Jahr 1900 wirkt auf diesem Hintergrund wie ein ermutigender Lichtblick in der von den Arbeiterpredigten insgesamt recht düster gezeichneten Landschaft. Doch daneben ist auch das Gewissheit: „Wir stehen auf der Höhe der Zeiten … Wir in den Evangelischen Arbeitervereinen sind gewiss moderne Menschen durch und durch. Wir sind in der Lage zu sichten zwischen brauchbarem Altem und notwendigem Neuem.“ Erstmals werden den Evangelischen Arbeitervereinen in diesem Zusammenhang sogar ekklesiologische Prädikate wie die Teilhabe am dreifachen Amt des Christus, dem Propheten-, dem Priesterund dem Königsamt, zugesprochen. Damit sind die Evangelischen Arbeitervereine theologisch nicht randständig, sondern in der Mitte der Kirche angesiedelt. Denn ihre diakonische Aufgabe an der Zeit ist – Költzsch zufolge – wie die der Kirche insgesamt mitten in der Christologie verankert.48 Damit befindet sich der Prediger durchaus auf der Höhe des diakonischen Reflexionstandes der Zeit.49 Doch als einziger Prediger erkennt Friedrich Naumann die Arbeiter als Neuerscheinung in ihrer gesamtgesellschaftlichen Bedeutung. Sie selbst sind das Zeichen der neuen Zeit. Mit einem Ja zum technischen Fortschritt bis an die Grenze des Industrieoptimismus versucht seine Predigt bereits 1888, die Arbeiter zu einem entsprechenden Selbstbewusstsein und zur Solidarität unter einander zu ermutigen: „Ein neues Weltalter beginnt heraufzuziehen, die Zeit der Massenarbeit. Der aber, der die neue Zeit bauen hilft, ist der Arbeiter. Diese Ehre soll und wird ihm niemand nehmen.“50 Ob der Gemeindepfarrer in einem Industriegebiet diese soziale Prophetie samt ihrem optimistischen Unterton seinen Arbeitern in Wilkau-Niederhaßlau bei Chemnitz auch wird vermitteln können? Zweifel sind erlaubt! Viel auffälliger an dieser Predigt aber ist, dass sich ihre Zeitansage an der gesellschaftlichen Erscheinung der Arbeiter, mithin primär an der sozialen Empirie und nicht am heilsgeschichtlich gedeuteten Ablauf der Reich-Gottes-Geschichte festmacht. Vielmehr erscheint in diesem Zusammenhang die Reich-Gottes-Hoffnung eher – im kulturprotestantischen Sinne – als christlich-ethischer Lösungsansatz ins Spiel zu kommen.51 47 48 49 50 51 Vgl. ders. (Stuttgart 1893), ebd. .66. So Franz Költzsch (Chemnitz 1900), in: Winter, AP, 80 f., vgl. 79, 83, 86. Vgl. zur Diskussion um Diakonie als Teilhabe am triplex munus Christi auch Walter Göggelmann, Dem Reich Gottes Raum schaffen (VDWI 31), Heidelberg 2007, 139 ff. So Naumann, Werke I, 58. Vgl. zum Gesamtzusammenhang Göggelmann, Christliche Weltverantwortung, 99 ff. 74 Walter Göggelmann 3. Die Predigthörer als Zielgruppe a. Die Arbeiter und der Sozialismus Welche Spielräume in der Betrachtung und der Einschätzung „der Arbeiter“ selbst als Predigthörer und welches Maß an Differenzierungen finden sich in den Arbeiterpredigten? Dass in den Arbeiterpredigten nach Wichern der Gesichtspunkt der individuellen oder familiären Bedürftigkeit und der der einem patriarchalischen Gesellschaftsbild entstammenden sozialen Unmündigkeit beim Bild der Zielgruppe Arbeiter überwunden scheint, markiert einen deutlichen Fortschritt zum Versuch des „Vaters der Inneren Mission.“ 52 Durch die Evangelischen Arbeitervereine und den „Sitz im Leben“ dieser Predigten werden die Arbeiter als „Berufsstand“ und somit als gesellschaftliche Größe wahrgenommen – allerdings mit dem Ziel der Einordnung dieser Größe in eine – gegenüber der vorindustriellen Zeit ergänzungsbedürftige – Ständegesellschaft. Als Zeichen einer neuen Zeit und einer neuen Industriegesellschaft, die die agrarisch-handwerkliche Gesellschaft Zug um Zug ablösen wird, erkennt sie allerdings nur Friedrich Naumann: Die Arbeiter sind aktive Gestaltungskraft der „Zeit der Massenarbeit“.53 Einerseits wenden sich die Arbeiterpredigten also an eine durchaus als neu erkannte Zielgruppe, andererseits sind die Konsequenzen aus dieser Erkenntnis, von der genannten Ausnahme abgesehen, begrenzt durch die konservativen ständegesellschaftlichen Muster. Und dass der gewohnte Grundsatz „Geld regiert die Welt“, extreme soziale Ungleichheiten und dass moderne Industriearbeit „Sklavenketten“ schaffen, ist für Hermann Mosapp in Stuttgart 1892 nicht eine Frage einer neuen Sozialordnung, sondern eine Frage des Glaubens und der Moral. Als Prediger hält er deshalb mit aller Entschiedenheit dagegen mit der höheren Wertigkeit der Gleichheit aller vor Gott im Verhältnis zur Ungleichheit „in der sozialen Stellung.“54 Diese Merkmale sind typisch für das Genus „Arbeiterpredigt“. Die weitaus größere Sorge aber bereitet allen Predigern die Anfälligkeit der Arbeiter und die Gefährdung des noch in der Entwicklung begriffenen „Arbeiterstandes“ durch die sozialistische und atheistische Propaganda. Wenn „der Socialismus“ die Autorität Gottes in Frage stellt, gefährdet er eine auf dem Vaterprinzip aufgebaute Ständegesellschaft und damit eine Gottesordnung. Dies aber hat negative Rückwirkungen auf die Standwerdung der Arbeiter selbst. Dem Sozialismusbild der Arbeiterpredigten muss deshalb ein eigener Abschnitt gewidmet werden.55 52 53 54 55 Vgl. Wichern, Predigt vor Fabrikarbeitern.s. o. Anm. 2. So Naumann, Werke I, 58. Vgl. Mosapp (Stuttgart 1892), in: Winter, AP, 61. Vgl. u. II, 3 b. Arbeiterpredigten. Von einem Dilemma diakonischer Homiletik 75 Nicht an gläubigen Seelen mit einer „ewigen Bestimmung“ oder auch an Zweiflern sind die Predigten adressiert, sondern an Männern, die „eintreten für die Güter evangelischen Glaubens und treuer Vaterlandsliebe.“56 Und diese Männer sind angesprochen als Angehörige eines Berufsstandes, mit dem zusammen oder dem gegenüber ein entschiedenes Bekenntnis zu Gott und der gewachsenen Sozialordnung angesagt ist. Friedrich Julius Winter versteht die Ausgabe dieser Predigten durchaus vom Zweck einer Apologie her gegen die fatalistische Propaganda, „der Arbeiterstand als solcher habe der Kirche den Rücken gekehrt“ und sei „in seiner Gesamtheit oder doch in seiner großen Masse für sie, ihr Wort und ihren Dienst unerreichbar, verschlossen.“57 Oder geht es da auch noch um die Erhaltung einer kirchlichen Einflusssphäre, also eines kirchlichen Besitzstandes, der durch gesellschaftliche Umwälzungen,, durch„Sozialismus“ und „Atheismus“ in Gefahr erscheint? Eine solche Zielsetzung würde sich ja nahtlos in das Zielfeld „innerer Mission“ einfügen. Doch wie viel von den Belastungen der Arbeiter in ihrer Arbeitswelt und ihrer Familien in ihrer Lebenswelt können sich die Prediger selbst überhaupt vorstellen? Jesus würde heute – dessen sind sich die Prediger gewiss – Arbeiter in ihrer Lebenswelt aufsuchen und zu ihnen in ihrer Sprache reden wie einst zu den Fischern am See Genezareth. 58 Doch was heißt das konkret im Jetzt und Hier? Denn Sprache ist ja kein in Bezug auf Fragen der Empathie des Predigers neutrales Übermittlungsinstrument! Nur eine einzige Predigt in Winters Sammlung geht weit über solche gut gemeinten Zielprojektionen hinaus: In Cainsdorf in der Nähe von Zwickau wird 1896 in einem Gottesdienst für Arbeiter eine Kreuzigungsgruppe in Holzplastik eingeweiht. Und der Prediger Moritz Schenkel verbindet mit der Betrachtung dieser Plastik ein bis in die Mitte des Glaubens reichendes Verständnis der sozialen Frage: Die zwei Arbeiter links und rechts vom Kreuz sehen zum Gekreuzigten auf, der sie aus weit geöffneten Augen anblickt: „Arbeiter rechts, Arbeiter links und der gekreuzigte Arbeiter mitten inne.“59 Ein solches Arbeiterbild mit einer christologischen Entsprechung als Identifikationsangebot! Ob sich der Prediger wohl der Bandbreite der Impulse, ob er sich gar des möglichen Sprengstoffs bewusst ist, die sich mit dieser Interpretation verbinden könnten? b. Zum Sozialismusbild der Arbeiterpredigten Im Grund bleibt aber doch in den meisten dieser Arbeiterpredigten das Bild der Zielgruppe durchsichtig für die kirchlichen Ängste vor der sozialdemokratischen Verführung und noch viel 56 57 58 59 Vgl. Hermann Mosapp, Auf, Christenmensch, auf, auf zum Streit. Predigt zum Reformationsfest und Stiftungsfest des Evangelischen Arbeitervereins 1893, in: Winter, AP, 50. So Winter, AP, Einleitung, V. A.a.O., XI. So Winter, AP, 1, 5 ff. 76 Walter Göggelmann mehr vor der Verführbarkeit auch der evangelischen Arbeiter durch atheistische Propaganda – gerade weil die Angst, die Situation der Arbeiter selbst biete dieser Propaganda genügend Nährboden, nirgends bewusst gemacht wird. Dabei bietet die christlich-soziale Tradition im Sozialismusbild längst vor der Jahrhundertwende genügend differenzierte Ergebnisse einer an der Auseinandersetzung mit „dem Sozialismus“ geschulten Entwicklung an. Sie reicht von Johann Hinrich Wicherns Vorwehen der Apokalypse über Rudolf Todts versachlichende Unterscheidung zwischen berechtigten von den Sozialisten erhobenen Arbeiterforderungen und dem sozialistischen Atheismus; von Adolf Stöckers Bild des Sozialismus als eines kirchen- und staatspolitischen Gegners bis zu Friedrich Naumanns Bild des Sozialismus als einer häretischen säkularen Eschatologie mit daran anknüpfenden sozialpolitischen Forderungen: Vom „letzten Feind“ bis zum notwendigen Gesprächspartner kann „der Sozialismus“ buchstäblich alles sein 60 – für die homiletische Reflexion der Prediger ein breites Angebot an Anknüpfungspunkten. Natürlich spiegelt sich in den Arbeiterpredigten auch das ganze Spektrum an Schlagworten eines in kirchlichen Kreisen umgehenden undifferenzierten Sozialismus- und Arbeiterbildes: Partei der Unzufriedenen, aus der Unkultur der Selbstsucht geboren und „an den Fehlern und Mängeln der bürgerlichen Gesellschaft … groß geworden“; Partei des Hasses; eine Saat des Hasses und der materialistischen Verführung; Verführung zum Fatalismus: „Lasset uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot!“61 Das vorgegaukelte Paradies auf Erden, die zum säkularen Materialismus pervertierte Eschatologie mit ihren eindimensionalen Hoffnungen ist den Predigern ein besonderer Dorn im Auge: Hoffnungen auf allerletzte Dinge, die allein Gott vorbehalten sind, werden in ein von menschlichen Allmachtsphantasien herzustellendes Diesseits gezogen. Die heiligsten christlichen Hoffnungen liegen da im materialistischen Schmutz! Und wo alle Hoffnungen mit dem Ziel der Gleichheit in der „sozialen Stellung“ verbunden werden, droht daraus eine „Zwangsanstalt für gefesselte Geister“, gar „ein geistiges Siechtum für die Menschheit“ zu werden, von den dadurch freigesetzten Gewaltpotentialen ganz zu schweigen! Die heiligsten Güter, die „Freiheit unseres evangelischen Glaubens“, „Haus und Herd“ stehen bei dieser „Weltanschauung des Unglaubens, der Gottesleugnung“ auf dem Spiel: „Umsturz der gesamten Gesellschaft, Abschaffung des Privateigentums, Zukunftsstaat, gewaltsame Revolution“ sind dabei nur einige Beispiele aus der breiten Palette der Reizworte. Fazit: „Wo uralte gottgeheiligte Ordnungen gewaltsam umgestürzt werden sollen, wo die 60 61 Vgl. zu der entsprechenden Entwicklung Lewek, Kirche und soziale Frage, 21 f.; Naumann, Werke I, 112 ff.; Brakelmann, Die soziale Frage, 188. Vgl. in den „Arbeiterpredigten“: A. Colditz (Chemnitz 1900), in: Winter AP, 123; G.W. Winter (Coswig 1901), in: Winter AP, 99; D. Meyer (Zwickau o.J.) in: Winter AP, 20; F. Koeltsch (Chemnitz 1900), in: Winter AP, 79 ff. Vgl. Mosapp (Stuttgart 1893), in: Winter, AP, 70, 74; Koeltzsch (Chemnitz 1900), in: Winter, AP, 80; Meyer (Zwickau o.J.), in: Winter AP, 14, 22. Arbeiterpredigten. Von einem Dilemma diakonischer Homiletik 77 gottgesetzte Obrigkeit verdrängt werden soll, wo über Religion und Christentum gespottet und gelacht wird, da kann ein Christ nicht dabei sein.“ 62 Wäre die Sozialdemokratie nur eine Bewegung für „eine andere Verteilung von Arbeit und Besitz“, so wäre sie mit den der Obrigkeit zur Verfügung stehenden politischen Mitteln zu bekämpfen.63 Doch hier ist „der Fürst dieser Welt“ am Werk. Und wo in den „entscheidenden Zeiten im Reiche Gottes“ der Satan zum letzten Kampf antritt, ist der heilige Krieg dagegen höchste Christenpflicht.64 Ohne diese letzte Spitze kommt offensichtlich sozialkonservative Arbeiterpredigt einfach nicht aus! Ganz zu Recht sieht der christliche Sozialkonservatismus in der sozialistischen Herausforderung eine Systemfrage an das Bündnis von Kirche und Obrigkeitsstaat, von patriarchalischer Ordnung und Ständegesellschaft, eine Infragestellung aller Theologie der Gottesordnungen. 65 Das Ganze einer gewachsenen Ordnung der vorindustriellen Zeit samt der darin fest integrierten Kirche, nicht nur kirchliche Besitzstände, stehen da auf dem Spiel. Nur eine einzige an der Lektüre von Rudolf Todts Buch über den Radikalen Sozialismus und die christliche Gesellschaft orientierte Predigt, die wenigstens zu differenzieren weiß zwischen berechtigten sozialpolitischen Forderungen und Atheismus, zwischen Bemühungen um soziale Gerechtigkeit und einer mit geistig-geistlichen Mitteln zu bekämpfenden atheistischen Weltanschauung, 1892 von Friedrich Dibelius in Dresden66 gehalten, fällt da geradezu aus dem Rahmen der von der Winterschen Sammlung umfassten Predigten heraus. Insgesamt aber ist es, von dieser Ausnahme abgesehen, die sozialkonservative Front, an der die Arbeiterpredigten in den Evangelischen Arbeitervereinen ihre homiletischen Potentiale konzentrieren. Wie viel Spielraum aber lässt diese Kampffront solchen Predigten überhaupt noch für die Arbeits- und Lebenswirklichkeit der Predigthörer – soweit sie überhaupt Arbeiter sind!? c. … und die Welt der Arbeiter selbst? Wie viel davon kennen die Prediger überhaupt; wie viel aus eigener Anschauung, wie viel vom Hörensagen, wie viel auch nur aus den in sozialkonservativen Kirchenkreisen bekannten, oft durchaus ambivalenten Bildern und Klischees, wie viel nur aus der in eben diesen Kreisen überall präsenten Sozialismuskritik? In welche Nähe zu dieser „Welt der Arbeit“ wagen sich die Predigten, falls sie zu einer solchen Nähe überhaupt in der Lage sind? Denn sie wäre ja Voraussetzung für allererste Schritte auf dem Weg der Solidarität oder gar einer Anwaltschaft! Wie viel von Johann Hinrich Wicherns Aufgabenzuschreibung für alle Predigt der Zeit: 62 63 64 65 66 Vgl. Mosapp (Stuttgart 1892), in: Winter, AP, 52, 61 f., 63 ff. A.a.O., 54. Vgl. a.a.O., 53. Vgl. dazu auch Lewek, Kirche und soziale Frage, 47. Vgl. Dibelius (Dresden 1892), in: Winter, AP, 93 ff. 78 Walter Göggelmann „Angelegenheiten der Arbeiter auf die Kanzel“, und „den Armen das Evangelium“, können die Arbeiterpredigten von ihren Voraussetzungen her selbst realisieren?67 In Wicherns „Predigt vor Arbeitern“ selbst findet sein Anliegen – zweiundzwanzig Jahre nach dem Wittenberger Kirchentag! – keinen Niederschlag. Und in Friedrich Naumanns „Arbeiterpredigt“ rückt der Arbeitsalltag der Arbeiter ins Licht eines „Segens der Arbeit“ 68, einer Begeisterung für den technischen Fortschritt und insgesamt eines – kulturprotestantischen? – Fortschrittsoptimismus, an der Schwelle eines neuen Zeitalters zu stehen.69 Am auffälligsten ist für die Prediger – da wohl am augenfälligsten! – die Beobachtung: Die Welt der Arbeit der Männer in den Fabriken und Zechen und an den Hochöfen ist von der Gesetzgebung immer noch viel zu wenig geschützt. Die Arbeitswelt der Frauen der Arbeiter, die als Fabrikarbeiterinnen, Wäscherinnen und Dienstmädchen für Hungerlöhne arbeiten, sucht der Leser/Hörer in den Arbeiterpredigten vergebens. Arbeiter als Predigthörer werden in den für sie bestimmten Predigten wohl auch die matteste Andeutung einer Kenntnis ihrer Arbeitsund Lebenswelt durch den eigenen Augenschein des Predigers vermissen. Der Kontext der Kohle-, Stahl- und Textilindustrie ist ihre Arbeitswelt. Die Arbeitswelt der Pastoren ist, wiewohl räumlich nur ein paar Steinwürfe davon getrennt, die Kirche und die Gemeinde. Und die Viel-Kinder-Familien in viel zu kleinen Wohnungen in Massenwohnquartieren der Industriereviere, meist zusätzlich belastet durch überlange Arbeitszeiten und nicht ausreichende Entlohnungen, sind mit der Idyllisierung eines christlichen Hausstandes in Biedermaiermanier, mit dem „Gottessegen der christlichen Familien“ und den Kindern als „Stolz“ und „Vergnügen“ der „Arbeiterschaft“70 meilenweit entfernt von der erlebten Lebenswirklichkeit der Arbeiter. Wo doch – so Friedrich Naumann – gerade auf der Arbeit der Arbeiter ein vielfacher Segen liegt! Das Erleben von Arbeit als Segen, nicht als Fluch, als Freude, nicht als Last, ist für die Arbeiter Pastorenpostulat, das ihnen den Zugang zu der Verheißung, die der Schöpfer auf die Arbeit gelegt hat, eher versperren als öffnen dürfte!71 Die Prediger indessen begegnen einem entsprechenden Problemempfinden mit vielfältigen Moralismen: Gemessen am Arbeitsalltag in den Fabriken und Zechen zerdehnen sie das Verständnis von Arbeit als „Beruf“ im Sinne von Luthers Katechismen. 72 Sie wettern zwar gegen die Einschätzung der Arbeit als „rein dingliche, von der menschlichen Persönlichkeit und ihrem welterhabenen ewigen Wert abgelöste“ Funktionalität. 73 Doch sind die Arbeiter wohl 67 68 69 70 71 72 73 Zu Wicherns Forderungen vgl. o. Anm. 1. Vgl. Wichern, Predigt vor Fabrikarbeitern, s.o. Anm. 9. Vgl. Naumann, Werke I, 64 f. So Naumann, „Arbeiterpredigt“, in: ders., Werke I, 64 ff. A.a.O., 59. So zum Beispiel Winter, AP, Einleitung, VIII f. A.a.O., VII. Arbeiterpredigten. Von einem Dilemma diakonischer Homiletik 79 nicht die rechten Adressaten, die dieses Verständnis von Arbeit und die dahinter stehende Wirklichkeit zu verantworten haben. Die Arbeiter werden ihre Not haben mit den Mustern einer geistlichen Überhöhung ihrer Arbeit durch Identifikationsangebote mit der Arbeit des Schöpfers oder gar des Christus – sein Leiden am Kreuz ist „Blutarbeit“74 –, nicht weniger auch mit der Deutung von Arbeit als einer durch göttliche Pädagogik vorgesehenen Disziplinierung oder auch – mit ekklesiologischen Anleihen – ihrer Bedeutung für die Gemeinschaft.75 In einem sind sich die Prediger einig: Arbeit ist Christenpflicht. Sie dient dem Fortschritt, insbesondere auch dem Fortschreiten des Reiches Gottes.76 So trägt sie „in die tiefste Dunkelheit Licht“.77 Selbst wo die auf dem Boden der Industrie wachsende „Selbstsucht“ gegeißelt wird, „die den für Gott geschaffenen Menschen nur als Arbeitskraft benutzte und schätzte“ 78, ist die Ebene der moralisierenden Spiritualisierungen nicht verlassen, auch wenn die Vorwürfe einmal ausnahmsweise den Blick auf die Fabrikherren lenken. Für das Erleben der betroffenen Industriearbeiter dürften alle diese um Sinngebung bemühten Kontexte durch den Zweckkontext ihrer Arbeit einfach zugedeckt und daher unzugänglich sein: Arbeit als Beruf im Sinne Luthers, erlebt an dem Ort, an den einen Gott gestellt hat, ist von den Arbeitern in den Kohle- und Stahlrevieren so einfach nicht erlebbar. Ihre Arbeit wird gehandelt als Marktware unter den Bedingungen der Trennung von Kapital und Arbeit. Und die sozialen Folgen dieser industriegesellschaftlichen Grundstruktur treffen ihre Familien. Sind da die Blicke der „christlich-sozialen“, in einem bürgerlich-christlichen Milieu sozialisierten Prediger verengt durch einfaches Nichtwissen, oder ist die mangelnde soziale Empirie auch eine Folge der Blickverengung durch Gesellschaftsbilder und Wertvorstellungen einer vorindustriellen Zeit? Wie und wo soll da Kirche und ihre Predigt, wie soll da Innere Mission eine neue Schicht in der Gesellschaft verstehen, die selbst der deutlichste Indikator dieser gesamtgesellschaftlich wirksamen Zeitenwende ist? Traugott Jähnichen stellt allen diesen Predigern, insbesondere Friedrich Naumann, der dieses Stichwort in die diakonische und sozialethische Diskussion gebracht hat, die Frage nach der Perspektive „von unten her“ und mahnt auch für alle diakonische Predigt die Betrachtung vom „Standpunkt der Bedrängten“ her als alternativenlos ein.79 Darin wäre dann aber auch ein Auswahlprinzip für biblisch-theologische Anknüpfungspunkte enthalten. 74 75 76 77 78 79 Vgl. Moritz Schenkel (Cainsdorf 1896), in: Winter, AP, 2, 4 ff. Vgl. Winters Erntedankpredigt in: Winter, AP, 112. Vgl. a.a.O., 113 f. So Geyer (Nürnberg o.J.), in: Winter, AP, 45. So Meyer (Zwickau o.J), in: Winter, AP, 22. Jähnichen, Vom Industrieuntertan, 126; vgl. zum Gesamtproblem Göggelmann, Christliche Weltverantwortung, 76 ff. 80 4. Walter Göggelmann Biblisch-theologische „Lösungsansätze“ Welcher theologischen Tradition die Prediger mit ihren Deutungs- und Lösungsmustern auch zuneigen – als protestantische Prediger fühlen sie sich auf biblischem Ur-Boden am sichersten. Ob sie dabei einer schöpfungstheologisch oder christologisch begründeten Ordnungstheologie verpflichtet sind oder in der Tradition des Kulturprotestantismus der Gesellschaft zu ihrem Fortschritt verhelfen wollen durch Zuführung christlicher Humanitäts- oder Kulturpotentiale – die biblischen Anknüpfungspunkte und Analogien sind sich erstaunlich ähnlich: Wer – wie Friedrich Naumann – Arbeit als Teilhabe an Gottes Schöpferhandeln versteht oder für die biblische Achtung von Arbeit die Gestalt Esaus aus den biblischen Vätergeschichten80 bemüht – die protestantische Tradition von Luthers Katechismen und das seither jedem Konfirmanden ansozialisierte Arbeitsethos hat er allemal auf seiner Seite.81 Die Gleichheit der Menschen vor Gott und der unendliche Wert der Einzelseele/Persönlichkeit, ungeachtet aller gesellschaftlich bedingten Ungleichheiten, gründet sich ebenso auf biblischem Boden und hat dazu noch das Persönlichkeitsideal der Kulturprotestanten auf ihrer Seite.82 Der Dienst an der Menschheit und die Akzentuierung der sozialen Bedeutung von Arbeit wirken ebenfalls wie – manchmal fast aus Begründungsnot entstandene – Traditionsstücke.83 Dieser Zug erfährt eine ekklesiologische Konzentration im eucharistisch abgetönten Bild der Tischgemeinschaft von Arbeitern und mit Arbeitern und soll durch solche Aufwertung wohl der Abwertung der Industriearbeiter als Personen durch den Arbeitsmarkt entgegenwirken. 84 Am wenigsten werden Industriearbeiter als Predigthörer sich in der christologisch-soteriologischen Spiritualisierung des Arbeitsbegriffs wiederfinden. Nicht nur, dass da dem Gekreuzigten der Satz in den Mund gelegt werden kann: „Ich habe mit die große Blutarbeit auf den Schlachtfeldern von Sedan verrichtet.“! Er, der Gekreuzigte, der „Blutarbeiter““, der „gekreuzigte Arbeiter“, ist der, der „am meisten für die „Arbeiter gearbeitet“ hat. Er, dem sie „Arbeit“ gemacht haben „mit ihren Sünden“85 , hat sie, seine besonderen Arbeiter-Brüder, mit seinem Rettungswerk an erster Stelle gemeint. „Aufschauen“ auf Jesus, das „Urbild“ des Arbeiters, in allen Lebenslagen, ist somit Trost und Pflicht eines jeden evangelischen Arbeiters. Darin besteht der wichtigste Teil seines „Lohns“, der mehr ist als alle irdische Entlohnung. 86 Doch kann man damit einem System, das die Arbeit der Arbeiter zur reinen Marktware macht, wie der Propaganda der Sozialdemokraten, die diesen „Arbeitsverhältnissen“ den Ruf 80 81 82 83 84 85 86 Vgl. zum biblischen Kontext Gen 24, 19 ff.; 25, 25. Vgl. Naumann, Werke I, 58 f. Vgl. Jähnichen, Vom Industrieuntertan, 144 f. Vgl. Schenkel (Cainsdorf 1896), in: Winter, AP, 9 f. Vgl. Mosapp (Stuttgart 1893), in: Winter, AP, 66; Naumann, Werke I, 60 f. Vgl. den Anklang an Jesaia 43, 24. Vgl. Schenkel (Cainsdorf 1896), in: Winter, AP, 2 ff., 8 ff., 12 ff. Arbeiterpredigten. Von einem Dilemma diakonischer Homiletik 81 nach Revolution entgegensetzen, Begriff und soziale Praxis der Industriearbeit entwinden – durch spiritualisierende Überhöhung?! Nicht auf dieser unerlösten Welt! Johann Hinrich Wicherns Predigt „vor Arbeitern“ kann nur auf die Pfingstgeschichte und die in ihr liegende Verheißung verweisen. Gott allein wird es vorbehalten sein, sein Reich vom Himmel zu bringen und damit die von einer seufzenden Menschheit so sehnlich erwartete „Umwälzung aller Zustände“ endgültig herbeizuführen. 87 Welche politischen Konsequenzen aus einer solchen „Umwälzung der Welt durch Gott“ gezogen werden können, will man den „sozialen Sinn der Botschaft Jesu“ und „die Revolution der Welt durch Gott“ wirklich ernst nehmen, das mag im Vorausblick auf Leonhard Ragaz und die „Religiösen Sozialisten“ nur angedeutet sein.88 Sollten wirklich Industriearbeiter unter den Hörern der Predigten sein, so wird sie sicher die Armenorientiertheit der Botschaft Jesu, soweit sie in den Predigten überhaupt angedeutet ist, am meisten zum Aufhorchen bringen.89 Alle wohlgemeinte Spiritualisierung wird bei ihnen angesichts ihres Arbeitsalltags wohl eher auf Unverständnis treffen. Sicher sind nicht alle genannten Impulse aus der biblischen und der christlichen Tradition insgesamt als gezielte Moralismen zu verstehen, die der sozialdemokratischen Propaganda im öffentlichen Kampf um die Arbeiter entgegen geworfen werden sollen. Dass sie allerdings vielfach entsprechende Missverständnisse geradezu nahelegen, ist nicht zu bestreiten. Eine Grundsatzfrage an alle solche biblisch-theologisch begründeten Lösungsversuche bleibt: Kann solche Predigt biblisch-theologische Motive überhaupt fruchtbar machen, wenn sie sie nicht auf Schritt und Tritt an der Alltagswirklichkeit der Hörer bewährt? Dazu müsste sie diese aber wenigstens ansatzweise durch eigenen Augenschein kennen und nicht „den Arbeiter“ und seine soziale Wirklichkeit nur durch die Brille bürgerlich-konservativer oder die bürgerlichliberaler Gesellschaftsbilder sehen. Führt da – auch im Hinblick auf die Wirkungskraft der biblischen Botschaft selbst – überhaupt ein Weg vorbei am Realismus der Not, am Wechseln der Seite und am Lesen der Bibel aus der Perspektive „von unten her“?90 5. Predigtziele Vom Umgang mit eben dieser Frage hängen unter anderem auch die Ziele der jeweiligen Predigt ab. Welche Kräfte zur Lösung der drängenden sozialen Probleme werden vom christlichen Glauben erwartet? Welche Rolle kann Gemeinde und Kirche spielen? Und vor 87 88 89 90 Vgl. Wichern, Predigt vor Fabrikarbeitern (s.o. Anm. 9). Vgl. als Beispiele Leonhard Ragaz, Die Gleichnisse Jesu, Bern 1944, 8 f.; ders., Die Bergpredigt, Bern 1945, 9. Vgl. Jähnichen, Vom Industrieuntertan, 144 f. A.a.O., 126. Zum Stichwort „von unten her“ vgl. Göggelmann, Christliche Weltverantwortung 76 ff. 82 Walter Göggelmann allem: Welche Bilder von Elementen des sozialen Ordnungsgefüges werden als normativ, welche als entwicklungsfähig betrachtet? Die Ebenen, die die Ziele der Arbeiterpredigten miteinander verbinden müssen, sind ihren Ansätzen und Höhenlagen nach recht unterschiedlich. Jede einzelne davon hat ihre Schwierigkeiten, mit den Problemen der Zeit Schritt zu halten. Werden da die Arbeiterpredigten homiletische Vermittlungsebenen erreichen können, die sie als Predigtgenus auszeichnen und/oder die mit ihrem „Sitz im Leben“ in unmittelbarer Verbindung stehen? Das soll nun an einzelnen Predigtzielen exemplarisch erörtert werden. a. Bestehen im weltanschaulichen Kampf Der Kampf, der uns verordnet ist, ist ein Glaubens- und Weltanschauungskampf. Die „heiligen Güter der Reformation“ gilt es zu verteidigen: „die Freiheit unseres evangelischen Glaubens.“ Darwinismus und Ultramontanismus91 stehen gegen Glauben, Kirche und Vaterland. Ob diese bildungsbürgerliche Höhenlage wohl zielführend sein kann im Sinne eines arbeitergerechten Predigtziels? Auch Friedrich Naumanns Beteuerung: „Eure beste Altersversorgung ist der christliche Glaube“92, lässt angesichts der konkreten Not in den Arbeiterfamilien alle notwendige Konkretion vermissen und ist an dieser Stelle mehr als missverständlich. Und Friedrich Dibelius` Bekenntnis der Arbeiter zu Christus, der „uns auch durch die Wirren unserer Zeit hindurch zu einer heilsamen Neugestaltung des sozialen Lebens helfen“ werde93, ist mindestens so wenig griffig wie die These, dass „wahrer Fortschritt, wahre Freiheit nur möglich ist auf dem Boden des Evangeliums“94 und dass „sittliche Freiheit“, „angeregt vom Geiste praktischen Christentums“, der einzige Weg ist zum Ziel „einer religiösen und sittlichen Erhebung unseres Volkes von innen heraus.“ Haben da Rousseau und Voltaire das Philosophengewand abgestreift und den Talar des kulturprotestantischen Predigers übergezogen?95 b. Sittliche Gesichtspunkte im Arbeitsleben Dass solche gerade im Arbeitsleben eine bestimmende Rolle spielen müssen, soll dieses nicht allein in wirtschaftsliberaler Manier gerechtfertigter Gewinnsucht ausgeliefert sein, ist seit den 91 92 93 94 95 So Mosapp (Stuttgart 1893), in: Winter, AP, 50 f.; 53 f. So Naumann, Werke I, 87. Dibelius (Dresden 1895) in: Winter, AP, 88. So Mosapp (Stuttgart 1892), in: Winter, AP, 66. Vgl. Colditz (Chemnitz um 1900), in: Winter, AP, 121 f. Arbeiterpredigten. Von einem Dilemma diakonischer Homiletik 83 Kathedersozialisten auch christlich-sozialer Konsens.96 Ob diese Forderung in ihrer Allgemeinheit für einen Arbeiter als Predigthörer auch nur ein für ihn nachvollziehbares Zielfeld eingrenzen kann, bleibt so lange eine Frage, als er von der Kanzel auch die moralische Mahnung vernimmt, die „evangelischen Arbeiter sollen von allen die fleißigsten, treuesten und geschicktesten sein.“97 Das Gewand ihrer evangelischen Identität sei das „schlichte Magdgewand alltäglicher Pflichterfüllung.“98 Haben sie dann überhaupt etwas gehört, was über das als fordernder Arbeitsalltag Erlebte und Erlittene hinausreicht? c. Kirche und Arbeiter „Die evangelische Kirche ist allein imstande, die soziale Frage zu lösen“, bleibt so lange eine vollmundige Beteuerung eines Predigers, als er als einzigen Beweis dafür die bloße Existenz der Evangelischen Arbeitervereine ins Feld führen kann.99 Ist so dem Ziel, die evangelischen Arbeiter mit sozialem Selbstbewusstsein auszurüsten, auch nur einen Schritt näher zu kommen? Vollends wird Franz Koeltzsch` Beteuerung, die Chemnitzer Arbeiter seien durch ihren Evangelischen Arbeiterverein nun schon ein Jahrzehnt am prophetischen, am priesterlichen und königlichen Mittleramt Christi beteiligt,100 weit über den Horizont der Arbeiter unter den Hörern hinaus reichen. Natürlich dürfen „der religiöse und der soziale Boden keine sich ausschließenden Gegensätze sein“, doch das Mahl der Arbeiter, selbst als gemeinsames Abendmahl in der Gemeinde gefeiert, ist wohl kaum in der Lage, die Tragfähigkeit dieses Anspruchs zu vermitteln.101 Wenn nur die evangelischen Arbeiter treu zu ihrer Kirche halten! Ist da der Dienst der Predigt an Arbeitern oder kirchlicher Selbstanspruch dominantes Predigtziel? Zu Recht warnt Friedrich Julius Winter, der Herausgeber der Arbeiterpredigten, in der Einleitung seiner Sammlung vor einer Selbstüberschätzung der Kirche in der Zielrichtung ihrer Predigt: Die Kirche kann „die sogenannte Arbeiterfrage nicht von sich aus lösen.“ Denn längst ist diese ja – weit über den Horizont der „Arbeiterpredigten hinaus – keine moralische Einzelfrage mehr. Sie ist tief verflochten in das in rascher Entwicklung befindliche technische und wirtschaftliche Leben. Wenn Kirche nicht an dieser Stelle anzusetzen und ihre Botschaft in die Konkretionen dieser Zeit hinein zu buchstabieren vermag, verhallt ihr „Zeugnis von der jenseitigen Welt und … von dem einzigartigen Wert der Menschenseele“ 96 97 98 99 100 101 Vgl. Lewek, Kirche und Soziale Frage, 53. Vgl. Koeltzsch (Chemnitz 1901), in: Winter, AP, 85. So Winter (Dresden 1901), in: Winter, AP, 102 f. Vgl. Mosapp (Stuttgart 1892), in: Winter, AP, 60. Vgl. Koeltzsch (Chemnitz 1901), in: Winter, AP, 79 ff. Vgl. zu dieser christologischen Denkfigur im Zusammenhang diakonischer Predigt Göggelmann, Reich Gottes, 139–142. Vgl. Mosapp (Stuttgart 1892), in: Winter, AP, 61; a.a.O. (Stuttgart 1893) 66. 84 Walter Göggelmann ungehört.102 Es muss hinzugesetzt werden: Und wenn „brüderliche Liebe“ nicht das Gewand patriarchalischer Hilfe abstreifen und das Gewand einer neuen Teilhabe an den Gütern der Gesellschaft anlegen kann, droht ihre Predigt, das Ziel zu verfehlen. d. Soziale Muster Das – auch durch Umfang und Intensität der homiletischen Anstrengungen und die Differenziertheit der Argumentation hervorgehobene – dominante Ziel der Arbeiterpredigten scheint die Vergewisserung der Hörer in den sozialen Bildern und Mustern zu sein. Oft will es erscheinen, als sei die Angst vor Umsturz und Revolution, vielleicht vor sozialen Systemveränderungen überhaupt, repräsentiert durch die Sozialdemokratie als die „Partei des Umsturzes“, die deutlichste Triebkraft der Arbeiterpredigten. Das Ziel, das Johann Hinrich Wichern 1848 aller Inneren Mission vorgegeben hat, die desintegrierten „Massen“ den „jedesmaligen christlichen Ämtern“ wieder erreichbar zu machen, das heißt: sie für Obrigkeit und Kirche zurück zu gewinnen, 103 zieht sich auch noch ein halbes Jahrhundert nach Wittenberg wie ein roter Faden durch alle Arbeiterpredigten hindurch. „So sollen denn Christen eine heilige Scheu haben, alte Ordnungen ohne weiteres aufzulösen, die ihren Vätern heilig waren; es muss vielmehr der Christen Aufgabe sein, die alten Ordnungen mit neuem Geist und Leben zu erfüllen“, das heißt: bei Wort und Sakrament und täglicher Arbeit dem „König und Kaiser und aller Obrigkeit, die er uns zu seiner Stellvertretung gesetzt hat“, mit Wort und Wandel „rechten Zeugenmut zu beweisen.“104 Also: „Deutsches evangelisches Volk, bleib deinem Gott, deinem Glauben und deiner Kirche treu“, trau ihnen die Kraft zu, die Zustände dieser Welt zu bessern.105 Lass dir damit die Aufgabe angelegen sein, „die Säulen der Kultur: Vaterland, staatliche Ordnung, Familie, Glauben und Sitte zu stützen und zu wahren.“106 Dass bei dieser Zielsetzung die soziale Besitzstandwahrung von Staat und Kirche im Mittelpunkt steht, nicht zuerst das Wohl der Arbeiter und ihrer Familien, ist als Verdacht mehr als naheliegend. Wo aber hat da die Frage nach sozialer Gerechtigkeit ihren Platz? Gerechtigkeit für alle – das muss sein! Das ist durch alle Arbeiterpredigten hindurch Konsens. Aber „was ist das“? Reicht dafür die Beteuerung der kirchlichen Predigt, vor Gott seien alle Menschen gleich, und das Wissen darum sei allemal das höhere Gut im Verhältnis zu allen Formen der sozialen Ungleichheit? Reicht da von staatlicher Seite her die Entwicklung 102 103 104 105 106 Vgl. F. J.Winter, Arbeiterpredigten II, Leipzig und Dresden 1905, Einleitung, XIII. Vgl. Wichern, Sämtliche Werke I, 180. Franz Dibelius (Dresden 1895), in: Winter, AP, 93, 96. Vgl. weiter Mosapp (Stuttgart 1892), in: Winter AP, 61. So Mosapp (Stuttgart 1893), in: Winter, AP, 64 f. So Meyer (Zwickau o. J.), in: Winter, AP, 21 f. Arbeiterpredigten. Von einem Dilemma diakonischer Homiletik 85 erster Schutz- und Versorgungsrechte durch die Bismarcksche Sozialgesetzgebung? Zwar betont Ludwig Weber in aller Form, damit solle nicht allen gewachsenen Rechtsverhältnissen in der Gesellschaft Rechts- und Moralschutz gegeben werden. Vielmehr sollen auf dem Boden des bestehenden christlichen Staates und im Sinne des biblischen Menschenbildes Persönlichkeitsrechte auch der Angehörigen schutzbedürftiger gesellschaftlicher Gruppen tatsächlich auch unter den Schutz des Rechts gestellt werden. Und damit soll die dringend nötige gesellschaftliche Aufwärtsentwicklung vorangetrieben werden.107 Dem durch die Reformation und ihre Wirkungsgeschichte kulturell qualifizierten Deutschland – auch das ist durch alle Arbeiterpredigten hindurch Konsens – ist es zuzutrauen, dass darin Gottes Gnade und Vaterlandsliebe auch in der sozialen Frage den entscheidenden „Fortschritt in der Veredelung menschlicher Verhältnisse“ bewirken. 108 Ob ein Prediger selbst wohl zwei Jahrzehnte nach der Erfindung des Elektromotors durch Robert Bosch samt dem darauf folgenden Industrialisierungsschub an diese Verbindung von patriarchalischem Sozialbild und kulturprotestantischem Optimismus glauben kann?109 Denn bei dem allem ist ja festzuhalten: „Die Ungleichheit der Welt kommt von Gott.“ In der Mannigfaltigkeit der Gaben und dem „Unterschied der Güter“ liegt ja der „Reiz des Daseins“, der erst den Fortschritt ermöglicht. Eine seiner Wurzeln ist ja die „Gegenseitigkeit …, die in jedem Organismus herrschen muss.“ „Ungleichheit ist auf der Welt, und sie ist von Gott geordnet.“ Nur die „Abgründe der Ungleichheit“ sind zu bekämpfen. 110 Durch den „Unterschied der Stände“ nimmt Gott Arme und Reiche in seine „harte, aber auch heilsame Schule.“ Also: Weg mit dem Neid, weg mit dem Stolz!111 Müssen solche Gesellschaftsbilder nicht angesichts der Massennot in den Industriequartieren um Zwickau und Chemnitz und auch teilweise im Neckartal um Stuttgart wie sozialkonservative Leitfossilien wirken, ausgegraben, um bröckelnde Sozialstrukturen zu unterfangen und sie gar mit der Weihe kirchlicher Predigt zu versehen? e. Die christliche Familie und der Evangelische Arbeiterverein Die Beschwörung der Familie als des durch die Schöpfung vorgegebenen Grundbausteins aller Sozialität gehört zum Grundbestand eines sozialkonservativen Gesellschaftsbildes. Die Beschreibung eines Betriebs der „Großindustrie“ in der Struktur eines „Familien-Betriebs“ mit dem Fabrik-Patriarchen als fürsorglichem Vater und den Arbeitern als seinen gehorsamen Kindern bleibt nach Johann Hinrich Wicherns „Predigt vor Arbeitern“ dann doch glücklicher107 108 109 110 111 Vgl. Ludwig Weber, Sozialer Führer, Barmen 1912. So Meyer (Zwickau o. J.), in: Winter, AP, 24. Vgl. auch Lewek, Kirche und soziale Frage, 476. So Mosapp (Stuttgart 1893), in: Winter, AP, 70 f. So Dibelius (Dresden 1895), in: Winter, AP, 91 f. 86 Walter Göggelmann weise aus den gedruckten Arbeiterpredigten verschwunden. 112 Doch weiter beschworen wird die Förderung der christlichen Arbeiterfamilie als Lösungsansatz der Sozialen Frage. Als einer Mischung aus Luthers status oeconomicus und biedermeierlicher Idylle kommt ihr dabei geradezu eine Schlüsselrolle zu. Friedrich Naumanns „Arbeiterpredigt“ lässt wirklich keinen Zug dieser idealtypisierenden patriarchalischen Familienidylle aus und versucht obendrein noch, den Evangelischen Arbeitervereinen die „Erhaltung“ solchen „rechten gottwohlgefälligen Familienlebens“ als besondere Aufgabe ans Herz zu legen.113 „Haus und Herd“ als „heilige Güter“114 sind doch aber längst durch die Arbeitsverhältnisse, unter denen alle Glieder der Arbeiterfamilien um das Überleben kämpfen, überholt! Und doch kann Friedrich Naumann titeln: „Der Segen des Arbeiterstandes ist die Familie.“ 115 Auf diesem christlichen Ur-Boden wird sich „der unchristlichen Arbeiterbewegung … eine christliche entgegenstellen.“116 Gestützt auf das religiöse Leben in der Familie, das die Evangelischen Arbeitervereine „heben“ sollen, können sich die Arbeiter in einer Ständegesellschaft zur Sozialreife als „Stand“ entwickeln.117 Und wenn sie sich an der Basis der Ständepyramide fest etabliert haben, wird auch die wirtschaftliche „Hebung“ nicht auf sich warten lassen. 118 Und die überkommene – nicht etwa die überfällige – Ständegesellschaft hätte damit ihre Integrationsund ihre Entwicklungsfähigkeit als christliche Sozialform unter Beweis gestellt. Das und nicht weniger erwarten sich neben Friedrich Naumanns „Arbeiterpredigt“ von 1888 auch die Predigten der Winterschen Sammlung von den Evangelischen Arbeitervereinen. Daran sind ihre Predigtziele ausgerichtet. Um dieser Bewegung immer neuen Schub zu geben, sind deren Jahresfeste Gelegenheiten für homiletisch-diakonische Anstrengungen, im ArbeiterVolk diese Sozialmuster zu befestigen. Dabei könnten die Evangelischen Arbeitervereine ja durchaus auch Modelle genossenschaftlicher Selbsthilfe in sich aufnehmen. Solche Netzwerke innerer Stabilität könnten durchaus als Meilensteine auf dem Weg der Standwerdung dienen. Dabei würden sie – darin sind sich Friedrich Naumann und Ludwig Weber durchaus einig – nicht nur die „Gleichberechtigung“ der Stände voran bringen, sondern auf dem Weg dahin einem Verbandskatholizismus nach Kolpingschem und Kettelerschem Muster einen selbstbewussten Verbandsprotestantismus entgegensetzen.119 Um jedes einzelnen dieser Ziele willen würde sich – will man in den Denkmustern dieser Predigten bleiben – Arbeiter-Predigt durchaus lohnen! 112 113 114 115 116 117 118 119 Vgl. Wichern, Predigt vor Fabrikarbeitern s. o. Anm. 2. Vgl. Naumann, Arbeiterpredigt, 56 ff., bes. 64 f. Vgl. Mosapp (Stuttgart 1892), in: Winter AP, 51 f. Naumann, Werke I, 62. A.a.O., 56. Vgl. Meyer (Zwickau o. J.), in: Winter, AP, 23. Vgl. auch Naumann, Arbeiterpredigt, 57. Vgl. a.a.O., 64; Lewek, Kirche und soziale Frage, 104 f. Arbeiterpredigten. Von einem Dilemma diakonischer Homiletik f. 87 Soziale Harmonie Das wichtigste und dominanteste Ziel aller Arbeiterpredigten aber ist das der Harmonie zwischen Arbeitgebern und Arbeitern. Es ist fast schon unverwechselbares Charakteristikum dieses Predigtgenus. Weil alle auch in ihrem Miteinander – also auch Arbeitgeber und Arbeiter – „für die Ewigkeit bestimmt“ sind, pilgern sie – des die Geschichte tragenden Fortschritts gewiss – durch die Zeit „vorwärts, aufwärts“, haben sie Verständnis für die Anliegen der jeweils anderen Seite: die Fabrikherren für die berechtigten Forderungen der Arbeiter und die Arbeiter für den Druck des Marktes und der Konkurrenz.120 So kann Arwin Ottokar von Colditz beim Evangelischen Arbeiterverein in Zwickau um Verständnis für die Leistung deutscher Unternehmer werben, die deutsche Arbeit und deutsche Produkte auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig gemacht haben. Daraus leitet er sogar auf direktem Weg „ein friedliches Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern“ als Vereinszweck der Evangelischen Arbeitervereine ab. Eine „sozialnormierte Liebe“ soll „in echt evangelischer und echt deutscher Gesinnung“ den Ausgleich schaffen, mit dem die praktische Caritas der Inneren Mission überfordert ist.121 Und Friedrich Meyer in Zwickau bemüht aus der Ekklesiologie gespeiste Gemeindemuster für das Konfliktfeld der Industrie: „Nach Gottes Willen gehören Arbeiter und Arbeitgeber zusammen, einander verbunden zu gegenseitigem Dienste als Glieder eines Ganzen.“122 6. Fragen a. Zum Ort der Arbeiterpredigten Wie weit reichen aber solche ekklesiologisch motivierten Idealprojektionen? Sollen sie etwa das sozialpolitische und das kirchenpolitische Konzept der Evangelischen Arbeitervereine tragen? Selbst wenn man sich die Vereine als eine Art von „Fachgenossenschaften“ vorstellt, 123 so haben sie doch über moralische Postulate hinaus keinerlei Durchsetzungskraft. Denn was können solche an sozialkonservativen Organismusvorstellungen orientierte Zielprojektionen einer durch Konkurrenz und Gewinnstreben auf der einen und Armut und Machtlosigkeit auf 120 121 122 123 Meyer (Zwickau o. J.), in: Winter, AP, 2) scheint Rudolf Todts, Rad. Sozialismus 371; 381, Unterscheidung zwischen berechtigten Arbeiterforderungen und Revolution in der Beurteilung der Sozialdemokratie zu kennen. So Colditz (Chemnitz o.J.) in: Winter, AP, 124 f. Meyer (Zwickau o.J.), in: Winter, AP, 23. Zu den biblischen Bezügen vgl. Röm 12; 1 Kor 12. So Colditz (Chemnitz um 1900), in: Winter, AP, 24. 88 Walter Göggelmann der anderen Seite gespaltenen Gesellschaft an Konfliktlösungspotentialen und -mustern zuführen? Durch das Eigentum an den Produktionsmitteln sind die Machtverhältnisse zugunsten der Betriebs- oder der Kapitaleigner geklärt, während das Arbeitsrecht zugunsten der Arbeiter durch die Bismarcksche Sozialgesetzgebung noch auf geringe Ansätze von Schutzund Versorgungsrechten beschränkt ist. Und selbst als eine Art von Fachgenossenschaften vorgestellte Evangelische Arbeitervereine tragen allenfalls die vorausgesetzte soziale Harmonie, niemals aber Kampf- und Konfliktsituationen. Und selbst als „Fachgenossenschaften“ müssten sie sich nach ihrer Legitimation fragen lassen. Von ihrer Entstehungsgeschichte her haftet ihnen jedenfalls der Geruch von Konstrukten an, die ihre Muster aus der Ekklesiologie entliehen haben und die von ihrem Charakter her niemals zu Interessenverbänden weiter zu entwickeln sind. Und Interessenverbände sind vollends nicht in einer von diesem Sozialbild vorausgesetzten Ständegesellschaft vorgesehen.124 Die Bewegung der Evangelischen Arbeitervereine hat sich im Kontext der ChristlichSozialen Bewegung125 das diakonische Ziel gesetzt, die Industriearbeiter bei ihrem Bemühen um soziale Identität in der Entwicklung der Industriegesellschaft zu unterstützen. Die in diesem Zusammenhang entstandenen Arbeiterpredigten sind der homiletische Versuch einer geistlichen Initiierung und Begleitung von notwendigen Veränderungen innerhalb der bestehenden Gesellschaft. Doch so lange nicht nur die evangelischen Kirchen selbst, sondern auch ihre der gesellschaftlichen Entwicklung zugekehrte Christlich-Soziale Bewegung nicht über das notwendige sozialanalytische Instrumentarium verfügen, das diese Entwicklung zur Industriegesellschaft als nicht umkehrbare Systemveränderung mit noch nicht absehbarem Ausgang erkennt; solange Kirche und Diakonie die sozialen Aufgabenstellungen auf die Reintegration in ein vorindustrielles Gesellschaftssystem und allenfalls dessen Weiterentwicklung beschränken, sind sie noch nicht einmal an den Rändern der Sozialen Frage angelangt. Denn mit den Bildern eines gegliederten und harmonisch ineinander wirkenden Organismus ist weder die Quantität der in Gang befindlichen Veränderungen zu erkennen noch die kreative Kraft zu entwickeln, die auf diese Veränderungen mit innovativen Modellen reagieren kann. Schließlich geht es dabei auch um nicht weniger als um eine Neudefinition von Gerechtigkeit und Teilhabe in diesem neuen industriegesellschaftlichen Kontext. An dieser Stelle wäre die sozialethische Kompetenz von Diakonie in einer die hergebrachten Sozialbilder hinter sich lassenden Qualität gefragt. Dazu aber kann weder die Theologie Reflexionsmuster noch die Kirche Sozialmuster beitragen. Das aber stellt auch ganz neue Anforderungen an diakonische Predigt bezüglich ihrer Ziele, ihrer Ausdrucksmittel und besonders ihrer kontextuellen Neuorientierung: Zu wie viel 124 125 Vgl. Wahlhäuser, Adolf Stöckers Wirken, 374. Vgl. zur Thematik Göggelmann, Christlich-Soziale Bewegung, in: RGG4, Bd. II, Tübingen 1999, Sp. 269– 272. Arbeiterpredigten. Von einem Dilemma diakonischer Homiletik 89 Solidarität mit den Adressaten ihrer Predigt wird sie fähig sein? Wo werden die Prediger selbst ihren Standort wählen im Verhältnis zu ihrer Zielgruppe Arbeiter – falls sie überhaupt eine Wahl haben!? b. Zum Prediger und seinem Ort Auf Grund der spärlichen gedruckten Zeugnisse lässt sich wohl vermuten, dass sich nur wenige Pastoren zum Predigtdienst in den Arbeitervereinen bereit finden. Als „Sozialer Pastor“ zu gelten, ist schließlich nicht ganz ohne Beigeschmack, auch wenn im „Sozialen Frühling“ 1890 von allerhöchster Stelle aus dazu ermutigt wird. Die Vermutung, manche dieser Pastoren seien nur deshalb gerne „ein bisschen christlich-sozial“, greift sicher zu kurz. Viel näher liegt die Vermutung, dass ihr Engagement für die Besserstellung der Arbeiter und die Erhaltung der Arbeiter für ihre Kirche ehrlich ist und dass die Evangelischen Arbeitervereine für sie mit ihren sozialkonservativ geprägten Reformanliegen als einziger Zugang zu den kirchlich ansprechbaren Arbeitern empfunden werden. Denn auf welcher Ebene sonst wären Sozialreform und Sozialharmonie zu verbinden und den Arbeitern selbst mitzuteilen? Diese Aufgabenstellung der Arbeiterpredigt im festen Kontext der Evangelischen Arbeitervereine definiert aber auch weitgehend den Ort der Prediger, die solche Predigt vollziehen. Ob sie, die diese Predigt wagen, nun die Arbeiter ins Kirchengebäude einladen oder ihre Predigt an einen Ort „außerhalb“ tragen – ihre Rolle müssen sie finden im Spannungsfeld zwischen der biblischen Botschaft und der notvollen sozialen Wirklichkeit ihrer Hörer. Als Prediger sind sie zuerst einmal Gegenüber. Zu wie viel Nähe zu ihren Arbeiter-Hörern aber lassen sie sich von der biblischen Botschaft ermutigen oder gar nötigen? Mit der Botschaft von dem vom Himmel gekommenen Gottesreich, mit dem Gott durch die Menschwerdung Jesu Christi die Welt erobert, und mit der Mahnung, „aus dem Schlaf“ zu erwachen und „auf Gott zu hören“, versucht Wichern, eine Botschaft aus einer anderen Welt in die Lebenswelt der Arbeiter zu tragen, jedoch ohne seinen Hörern Hilfestellung bei der Vermittlung beider „Welten“ geben zu können.126 Und die Wiederholung der zum Axiom gewordenen Forderung nach sozialer Harmonie als einziger christlicher Möglichkeit macht die Hörer zu einer Zielgruppe, die ein Lehrer von seinem Sozialbild überzeugen will ohne jede Möglichkeit zu einem partnerschaftlichen Austausch. Vielleicht wäre eine solche Bereitschaft von Predigern, wenigstens für einen Augenblick die Perspektive zu wechseln und hinaus und hinüber zu gehen zu „ihren“ Arbeitern, insgesamt eine überzogene Erwartung an das pastorale Rollenverständnis im zu Ende gehenden 19. Jahrhundert. 126 Vgl. Wichern, Predigt vor Fabrikarbeitern s. o. Anm. 2. 90 Walter Göggelmann So werden die Arbeiterpredigten zu dem Ort, an dem der Rollenkonflikt der „Sozialen Pastoren“ in der Christlich-Sozialen Bewegung Berufswirklichkeit wird. Sie wollen/sollen − den Arbeiterstand von der atheistischen und revolutionären Sozialdemokratie fernhalten und − die Arbeiter in der Treue zu Kaiser und Kirche erhalten. − Das soll gefördert werden durch die Predigt von − der Gleichheit aller Menschen vor Gott, ungeachtet aller sozialen Ungleichheiten, und von − der sozialen Harmonie auf dem Hintergrund eines organistischen Gesellschaftsbildes und von einer − gottgegebenen hierarchisch in Stände gegliederten Gesellschaft. Wie aber soll dies vermittelt werden an eine um ihre soziale Besserstellung, um Gerechtigkeit und Teilhabe und insgesamt um ihre soziale Identität ringende neue Schicht am Boden der gesellschaftlichen Pyramide? Sind da die Pastoren die Apologeten eines vorindustriellen Gesellschaftsbildes oder die Seelsorger und die Prediger für Benachteiligte? Die Entwicklung auf dem Evangelisch-Sozialen Kongress zwischen 1890 und 1894 wirkt unter anderem auch wie eine einzige Diskussion um die gesellschaftspolitische Verallgemeinerung dieses Rollenkonflikts. 127 Oder – mit anderen Worten – wie muss sich ein Prediger fühlen, wenn er die totale Unvollziehbarkeit seiner Predigtinhalte bei den Hörern voraussetzen muss – falls er dafür überhaupt eine Grundsensibilität besitzt! Flüchtet er, falls seine bürgerlich-kirchliche Brille diese Perspektive nicht sowieso ausblendet, in moralistische Mahnungen und Beteuerungen allgemeiner Art? Am aussagekräftigsten in Bezug auf den Ort des Predigers im Verhältnis zu seinen Hörern und auf seine eigene Verortung als Person dürften seine Sprache und die von ihm eingesetzten Bildmaterialien sein. Bewegt er sich mit ihnen ganz in seiner eigenen Lebenswelt oder ist da wenigstens ein Stück Offenheit zu der seiner Hörer? Wenn Arbeit als „treue Mitarbeit an Gottes Schöpfung“, gar als „Angeld der ewigen Seligkeit“128 Sinngebung und Hoffnung vermitteln soll, könnte das nicht als bloße Vertröstung auf den Himmel missverstanden werden – wie es im Übrigen die „glaubenslosen Sozialdemokraten“ behaupten? Auch wenn Friedrich Naumann auf dem Boden bleibt und der christlichen Arbeiterfamilie dreifachen Segen und der Arbeit eine Verheißung „für Zeit und Ewigkeit“ zuspricht129, zielt er damit nicht direkt vorbei an der Wirklichkeit der Arbeiterfamilien, die immer noch nicht durchgängig vor den unmenschlichen Arbeitszeiten aller Familienmitglieder, auch der Kinder, geschützt sind? Die Sprache ist es, die die Bilder transportiert. Und die Bilder identifizieren den Prediger bei seinen Arbeiter-Hörern als einer anderen Lebenswelt zugehörig. 127 128 129 Vgl. dazu Jähnichen, Vom Industrieuntertan, 126 f., 130 f., 162. Vgl. Mosapp (Stuttgart 1893), in: Winter, AP, 72 f. Naumann, Arbeiterpredigt, 61 f., 64. Arbeiterpredigten. Von einem Dilemma diakonischer Homiletik 91 Vollends sind Johann Hinrich Wicherns Bilder und Gleichnisse für die Rettung der Seelen: vom armen Vater, der zum Wohltäter wird; vom verirrten Wanderer, dem ein Licht in der Finsternis Rettung verheißt; von einer vom Feuer eingeschlossenen Familie, die ein „Wagemutiger“ rettet; von einem beherzten Schwimmer, der Schiffbrüchige rettet, eher Anleihen bei der bürgerlichen Erweckungspredigt, als dass sie bei der Zielgruppe Arbeiter auf irgendeine Art und Weise eine Hoffnung auf „Rettung“ transportieren könnten. 130 Wie sollen schließlich die biblischen Bilder von den aufeinander angewiesenen Brüdern Esau und Jakob als Gleichnis für die Untrennbarkeit des Segens von Gottes Wort, von Berufsarbeit und Lebensgütern,131 der Verweis auf die Hilfe durch den Priester, Propheten und König Christus,132 der Einsatz der geistlichen Waffen in der Schlacht um göttliche Güter und Ordnungen durch die Evangelischen Arbeitervereine in Orientierungshilfen in der sozialen Wirklichkeit der Arbeiter umsetzbar sein? Ja, „es steht geschrieben“ - alles!133 Aber damit ist zum Beispiel Hermann Mosapps, des Stuttgarter Predigers, christlich-soziale Vision, wie sich Fabrikherren mit Arbeitern an einen Tisch setzen134 – eucharistische Assoziationen sind durchaus beabsichtigt! – noch nicht einmal in die Nähe des für Arbeiter Denkbaren gekommen. Biblische Predigtsprache, salbungsvoll-bilderreiche Kirchensprache – das kann bei ArbeiterHörern ja nur Fremdheitserlebnisse hervorrufen! Aber die Prediger mit dieser ihrer kirchlichbildungsbürgerlichen Sprache, die ja ein Teil ihrer selbst ist, bringen sich und eine Sprach- und Lebenswelt mit, aus der sie sich nicht lösen können. Werden sie selbst nicht für die Arbeiter unter den Hörern Fremde bleiben, die in ihre Welt zu kommen suchen – mit guten Ratschlägen und Versprechungen aus ihrer Welt – und wieder gehen? Was aber hilft? Ein eigener Abschnitt soll nun die verschiedenen „Hilfen“ – eine Art Entwürfe für Brücken zur sozialen Wirklichkeit –, wie sie die Christlich-Soziale Bewegung auch durch die Arbeiterpredigten, teilweise auch zwischen deren Zeilen, der sozialen Welt der Arbeiter zuführen will, kurz beleuchten. III. Teilhabe und Gerechtigkeit Jeder Schritt zu mehr Teilhabe, der der flächigen Not Territorium abringt: Gotteshilfe, Staatshilfe, Selbsthilfe – was steht an erster Stelle? –; jede Lösung, wo und wie auch immer, 130 131 132 133 134 Vgl. Wichern, Predigt vor Fabrikarbeitern s. o. Anm. 2. Vgl. Naumann, Arbeiterpredigt, 58. Vgl. Franz Koeltzsch (Chemnitz 1900), in: Winter, AP, 83 f., 86. Vgl. Mosapp (Stuttgart 1892), in: Winter, AP, 55 ff. Vgl. a.a.O., 66. 92 Walter Göggelmann wird sozialpolitisch relevante Dimensionen einschließen müssen. Das heißt zu allererst: Gotteshilfe allein darf nicht zu einem – im Übrigen leeren! – Versprechen werden! Nun aber ist eine Arbeiterpredigt kein sozialpolitisches Programm, nicht einmal eine Agitationsrede, sondern eine Rede im gottesdienstlich-liturgischen Kontext. Was aber lässt dann eine Arbeiterpredigt zwischen biblischer Botschaft, Hoffnung und Ermutigung an Raum zur Umsetzung in hilfreiche Konkretionen zu? Sie kann die Adressaten kennen, ihre Nöte verstehen, offen sein für die darin enthaltenen Lücken an sozialer Gerechtigkeit und Teilhabe. Vor allem kann sie diese Lücken in aller Deutlichkeit benennen. Und sie kann Mut machen und Wege aufzeigen zur Hilfe. So könnte sie ein prophetisches Wächteramt in Solidarität mit den Betroffenen wahrnehmen. Wie könnte sie sonst den Anspruch erheben, diakonische Predigt zu sein?135 Längst ist ja die Soziale Frage – zumindest in ihrem allergrößten Teil – als Industriearbeiterfrage erkannt. Somit ist sie also die Frage nach der Teilhabe einer ganzen sozialen Schicht am gesellschaftlichen Leben; sie ist damit zur elementaren Frage nach Gerechtigkeit geworden. Das heißt: Das, was Industriearbeiter durch ihre Arbeit zum Leben und Funktionieren von Gesellschaft beitragen, kann nicht durch die Schutz- und Versorgungsrechte aufgewogen sein, zu denen Bismarcks Sozialgesetzgebung die ersten Schritte macht. Das Umfeld und die Bedingungen von Industriearbeit bedürfen einer rechtlichen Regelung, damit Arbeiter nicht rechtlose Objekte des Arbeitsprozesses und ihre Arbeit ausschließlich fremddefinierte Marktware sind. Das heißt für Staat und Gesellschaft: Das Zusammenspiel ihrer Kräfte ist nicht mehr nur durch Ergänzung vorindustrieller Sozialstrukturen zu regeln. Auch nicht eine Revolution ist angezeigt, sondern eine Reform, die Rechte und Pflichten aller am gesellschaftlichen Leben Beteiligten umfasst, eine Reform der Gesellschaft am Haupt und an allen Gliedern. Sind die „Sozialen Pastoren“ und die ihrer Kollegen, die „Arbeiterpredigten“ wagen, also fähig, die Aufgabe der Neugestaltung, die ja alle und somit auch sie selbst betrifft, an ihrem Teil selbst zu erkennen, sie zu benennen und sie an dem ihnen möglichen Teil mitzutragen? Oder binden sie sich gerade mit ihrer Arbeiterpredigt an das Gesellschaftsbild der Restauration und entfernen sich damit immer weiter von der sozialen Wirklichkeit gerade derer, die sie erreichen wollen?136 Die nächsten Abschnitte möchten diesen Aspekt in den Arbeiterpredigten unter den Problemstellungen Teilhabe, Selbsthilfe, Interessenvertretung, Parteilichkeit und Anwaltschaft beleuchten. 135 136 Zu diesen Kriterien vgl. Schäfer, Menschenfreundlichkeit Gottes, Einleitung, 11, 20, 24, 28. Vgl. als besonders plakatives Beispiel die Arbeiterpredigt von Colditz, (Chemnitz 1900), in: Winter, AP, 124, 126 f. Arbeiterpredigten. Von einem Dilemma diakonischer Homiletik 1. 93 Teilhabe So viel steht für alle Arbeiterpredigten selbst außer jeder Diskussion: Das Streben nach Ausgleich der Härten zwischen Reich und Arm ist berechtigt und daher keinesfalls zu ignorieren. Auch ist die über alle nationalen Grenzen hinweg reichende „Weltverbrüderung aller Unzufriedenen“ – das soll wohl eine Umschreibung des Internationalismus der Sozialdemokratie sein! – in sich selbst noch nicht gefährlich, soweit sie nicht Religionsersatz oder Ersatzreligion sein will.137 Dieser Fortschritt in der Frage berechtigter Forderungen wie in der Beurteilung „des Sozialismus“ insgesamt ist für sozialkonservative Prediger beachtlich. Und auch das Identifikationsangebot einer einzigen Predigt mit dem leidenden Christus könnte sogar manchen Arbeiter aufhorchen lassen.138 Aber es geht eben auch um Lohn, Arbeitszeit und Arbeitsschutz. Und es geht um die soziale Anerkennung und Identität als Arbeiter in einem gesellschaftlichen Gefüge, sollen sie nicht nur an dem teilhaben, was in der Gesellschaft an Mühen und Lasten aufgegeben ist. Spiritualisierungen reichen dazu ebenso wenig aus wie die Vermeidung der größten Härten. Denn der Teilhabeproblematik einer ganzen Gesellschaftsschicht ist nicht mit Härtefallregelungen beizukommen. Und patriarchalisches Rettungshandeln, wie es sich Johann Hinrich Wicherns Predigt noch als „Hilfe“ vorstellt, bleibt dann unter den um 1900 gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen, auch wenn sie mit der Würde eines Gleichnisses für Gottes Rettungshandeln bekleidet ist, einfach weit hinter der Problemstellung zurück.139 Sie weicht – wie überhaupt jede Verbindung von Caritas und Spiritualisierung – der unausweichlichen sozialpolitischen Konkretion aus. Im Kontext der Geschichte der Christlich-Sozialen Bewegung heißt das: Sogar der Zuspruch der Teilhabe an Gottes Schöpferhandeln durch Industriearbeit – Friedrich Naumanns homiletisches Wagnis von 1888140 – ist noch in einer solchen Spiritualisierung gefangen und meidet jede sozialpolitische Konsequenz. Wenn die Arbeiterpredigten und vor allem die Pastoren, die sie halten, nicht ab dem Evangelisch-Sozialen Kongress 1894141 mit Naumann den Weg der „jüngeren Christlich-Sozialen“ zu den sozialpolitischen Forderungen nach uneingeschränkter Koalitionsfreiheit der Arbeiter, christlichen Gewerkschaften, Schiedsgerichten auf paritätischer Grundlage und Arbeitsgerichten mitgehen können, laufen sie Gefahr, dem sozial progressiven Teil der evangelischen Arbeiterbewegung und denen, die sie vorantreiben, hinterher zu schauen.142 Ob sich in diesem Fall Arbeiterpredigt von ihrem Ansatz und von ihrem Sitz im Leben her selber falsifiziert, bleibt als Frage stehen. Ob die entsprechenden Beispiele nicht mit ihren 137 138 139 140 141 142 So Dibelius (Dresden 1895), in: Winter, AP, 94. Vgl. Schenkel (Cainsdorf 1896), in: Winter, AP, 1 ff. Vgl. Wichern, Predigt vor Fabrikarbeitern s. o. Anm. 2. Vgl. Naumann, Arbeiterpredigt, 59. Vgl. oben, 7; vgl. unten 31 und Anm. 154. Vgl. zu dieser Entwicklung Lewek, Kirche und soziale Frage, 53, 61. 94 Walter Göggelmann vielfach moralistischen und ihren an kirchlicher Bestandswahrung orientierten Akzentuierungen zu homiletischen Relikten eines sozialkonservativen Diakonieverständnisses werden, das die moderne Erscheinung des Arbeiters nach einem sozialkonservativen Bild gestalten will, statt mit ihm zusammen Industriegesellschaft zu gestalten, ist die weitergehende Frage. 2. Selbsthilfe „Gotteshilfe, Staatshilfe, Selbsthilfe“ haben sich die Evangelischen Arbeitervereine bei der Gründung ihres Gesamtverbandes 1900 auf die Fahnen geschrieben. 143 Also: Selbst sind die Arbeiter! Zur Gründung von „Assoziationen evangelischer Arbeiter“ fordert Friedrich Naumanns „Arbeiterkatechismus“, eine Art von sozialpolitischem Handbuch für evangelische Arbeiter, im Jahr 1889 auf.144 Doch was können die Evangelischen Arbeitervereine, der Kommunikationsrahmen der Arbeiterpredigten, zur Selbsthilfe der Arbeiter beitragen? Was sind sie in dieser Hinsicht ihrem Selbstverständnis schuldig? Woher beziehen sie strukturelle Anregungen und Muster, die auch sozialpolitisch relevant werden können? Kirchen und Kirchengemeinden haben keine strukturellen Modelle als Hilfen anzubieten. Sind sie doch in der Zeit des landesherrlichen Kirchenregiments als hierarchisch strukturierte Sektionen eines kleinstaatlichen Ordnungsgefüges konzipiert. „Nicht alles darf der Arbeiter vom Staat erhoffen“, mahnt Georg Wilhelm Winters Arbeiterpredigt 1901 in Dresden. Zusammen stark sein – beispielsweise gegen Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit – dazu können Evangelische Arbeitervereine Baugenossenschaften, Unterstützungskassen und Versicherungen gründen. Es ist gut, wenn sich wenigstens eine Arbeiterpredigt so in die Konkretionen wagt.145 Insgesamt aber bleiben solche Andeutungen Raritäten. Bei Victor Aimé Huber (1800–1898) und bei Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818– 1888) wäre ja das Wesen genossenschaftlicher Selbsthilfe vom Zentralverband bis zur kleinen Genossenschaft vor Ort zu erlernen. Auch wenn die Modelle für Besitzende offen bleiben – hier ist christliche Liebe in die kleine Münze alltäglicher Selbsthilfe für Nichtbesitzende übersetzt und auf sozialpolitisch effektive Weise zum Rechts- und Strukturmodell auf Gegenseitigkeit entwickelt.146 143 144 145 146 Vgl. Colditz, (Chemnitz 1900), in: Winter, AP, 118 f. Der „Arbeiterkatechismus“ ist als 1. Band eines Pendants zur sozialdemokratischen „Berliner Arbeiterbibliothek“ konzipiert, abgedruckte Werke V, Schriften zur Tagespolitik (hg. v. Theodor Schieder, Köln/Opladen 1964). Vgl. zu Details Göggelmann, Christliche Weltverantwortung, 69. Vgl. Georg Wilhelm Winter (Dresden 1901), in: Winter, AP, 104 f. Vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866, München 31995, 245 ff.; Michael Klein, Leben, Wirken und Nachwirkung des Genossenschaftsgründers Friedrich Wilhelm Raiffeisen, Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte 122, Köln 1997. Arbeiterpredigten. Von einem Dilemma diakonischer Homiletik 95 Doch solange sich Evangelische Arbeitervereine auch als eine Art von religiösen „Fachgenossenschaften“ gegen die Flut des Materialismus147 oder als Horte und Fördervereine für „gottwohlgefälliges Familienleben“148 verstehen sollen, sind die von Huber und Raiffeisen entwickelten Potentiale genossenschaftlicher Selbsthilfe für Arbeiter kaum im Blick. Nicht einmal in die Nähe des vom Vater des Gesamtverbandes der Evangelischen Arbeitervereine Ludwig Weber vorgegebenen Ziels, „den Arbeiterstand in seinem Streben nach Hebung des ganzen Standes gegenüber den anderen Ständen und seiner Selbstachtung, aber auch seines Verantwortungsgefühls durch unsere Mitarbeit“ zu unterstützen, wagen sich die Arbeiterpredigten.149 Wahrscheinlich wäre ihnen das schon ein homiletisches Zuviel an sozialpolitischer Konkretion! Doch ohne gesetzlich verbriefte uneingeschränkte Koalitionsfreiheit als sozialpolitische Grundlage bleiben alle Versuche zur Selbsthilfe leicht im vorpolitischen Stadium des guten Willens stecken. Was sind also Evangelische Arbeitervereine, der Lebenszusammenhang der Arbeiterpredigten, unter dem Gesichtspunkt der Selbsthilfe? Wer ergreift die Initiativen zu ihrer Gründung, und wer trägt ihre Organisation? Wirklich die Arbeiter selbst? Sonst sind sie ja in der Gefahr, eher der kirchlichen Besitzstandswahrung als der Selbstorganisation und der Selbsthilfe der Arbeiter zu dienen. Wenn diese Vereine sich aber nicht auch zu Plattformen der Selbsthilfe und zu Übungsfeldern der Selbstorganisation der Arbeiter entwickeln können, sind sie dann nicht selbst eher sozialkonservative Relikte, im Grunde spätgeborene Kinder einer vorindustriellen Gesellschaft? Können die Predigten bei den Stiftungsfesten der Evangelischen Arbeitervereine überhaupt in der Lage sein, sich den Fragen, den Nöten und den Interessen der Arbeiter im Angesicht des Evangeliums zu stellen? Ist ihr durchgängiger Akzent auf sozialer Harmonie dann nicht eher eine Entwicklungsblockade als ein Impuls zur Selbsthilfe? 3. Auf dem Weg zur Interessenvertretung Wer aber vertritt die Interessen der Arbeiter in der staatlichen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit? Können dabei die Evangelischen Arbeitervereine und die bei ihren Stiftungsfesten gehaltenen Predigten überhaupt eine Rolle spielen? Während Ludwig Webers Freunde weiterhin von sozialem Frieden und Harmonie predigen und der Preußische Oberkirchenrat im Klima der „Ära Stumm“ 1895 die „Sozialen Pastoren“ 147 148 149 So Colditz (Chemnitz 1900), in: Winter, AP, 124. Vgl. Naumann, Arbeiterpredigt, 62 ff. Zitiert nach Lewek, Kirche und soziale Frage, 50. 96 Walter Göggelmann anweist, sich um „Seelenseligkeit“, nicht um Sozialpolitik zu kümmern, 150 ist die Entwicklung in raschen Schritten weitergeeilt – den Evangelischen Arbeitervereinen davon? Und was 1893 von Theodor Lohmann als eine Art von Sozialprogramm in die Verhandlungen des EvangelischSozialen Kongresses eingebracht wird, wird dort zum Kompromissprogramm weichdiskutiert – „als Anhalt für Vorträge und Diskussionen“! Über wirtschaftliche Probleme wie die Kapitalkonzentration aufzuklären, ist ein wichtiges Anliegen. Doch die „welterneuernden Kräfte des Christentums“ für „das Wirtschaftsleben der Gegenwart“ wirksam werden zu lassen151 – was heißt das? In welche Richtung weist in diesem Zusammenhang die von Friedrich Naumann vorgegebene Perspektive „von unten her“?152 Die Ereignisse des Jahres 1894 lassen Entscheidungen unausweichlich werden: In Essen wird als sozialpolitische Kampforganisation der „Gewerkverein christlicher Bergarbeiter“ gegründet, und das auf der Delegiertenkonferenz der Evangelischen Arbeitervereine! Ihm folgt dann Anfang 1899 in Mainz die Gründung des Gesamtverbandes christlicher Gewerkschaften.153 Und die Vorstellung der Ergebnisse der „Landarbeiterenquete“ durch Max Weber und Paul Göhre auf dem Evangelisch-Sozialen Kongress 1894 beginnt die ChristlichSoziale Bewegung zu spalten in „ältere“ und „jüngere“ um Adolf Stöcker und Ludwig Weber auf der einen und Friedrich Naumann und Paul Göhre auf der anderen Seite. Unter Naumanns Führung sehen sich „die Jüngeren“ gezwungen zur offenen Parteinahme – und zwar für die Seite der Not! Christliche Sozialethik kann sich ihren sozialpolitischen Konsequenzen nicht mehr entziehen: Um sozialen Frieden beten und zwischen den Fronten stehen wollen wie die Arbeiterpredigten, ist unter diesen Voraussetzungen keine Möglichkeit mehr!154 1899 tritt dann Christoph Blumhardt, um sich mit der Arbeiterbewegung zu solidarisieren, in die Sozialdemokratische Partei ein und gewinnt 1900 sogar ein Landtagsmandat im Königreich Württemberg. Er, dessen Reich-Gottes-Erwartung Diesseits und Jenseits umspannt, findet im sozialpolitischen Vorwärtsdrang der Sozialdemokratie die gesellschaftliche Entsprechung zur Dynamik des Reiches Gottes: Die Verwirklichung gesellschaftlicher Gleichheit, die Überwindung der Alleinherrschaft des Kapitals, die Neuordnung der Arbeitsverhältnisse entsprechen Jesu Kritik des Mammons und seinem Gebot der Feindesliebe. Weil die evangelischen Kirchen den Kontakt zur Arbeiterschaft verloren haben, wagen in der Schweiz die Theologen Hermann Kutter (1863–1931) und Leonhard Ragaz (1868–1945) eine Neuinterpretation der Sozialdemokratie: Auch durch die atheistische Sozialdemokratie kann Gott sein Gericht an der bürgerlich-kirchlichen Welt vollziehen und sein Reich voranbringen. Ragaz ruft 1903 in Bern gar öffentlich zur Solidarisierung mit den streikenden Bauarbeitern auf: 150 151 152 153 154 Vgl. zum Gesamtzusammenhang Stein, Zwischen Thron und Arbeitswelt, 67. Vgl. Brakelmann, Evangelische Kirche und soziale Frage, 189. Vgl. zum Gesamtzusammenhang Göggelmann, Christliche Weltverantwortung, 73, 76 ff. Vgl. Brakelmann, Die soziale Frage, 186 f. Vgl. Jähnichen, Vom Industrieuntertan, 120; vgl. weiter Michael Schneider, Die christlichen Gewerkschaften 1894–1933, Bonn 1982, 72. Arbeiterpredigten. Von einem Dilemma diakonischer Homiletik 97 Genossenschaftliches Eigentum an Produktionsmitteln, Miteigentum der Arbeitnehmer an Betrieben, Demokratisierung des Arbeitsbetriebs … – die „Religiösen Sozialisten“ wissen als Prediger, warum und wo sie kämpferisch Position zu beziehen haben. Wo Gott selbst die Welt revolutioniert, ist auch das Verhältnis von Revolution und Sozialreform neu zu bestimmen! 155 Wo das Kapital und pures Gewinnstreben allein die Arbeits- und Machtverhältnisse bestimmen, ist eine Sozialstruktur vorgegeben, die ein eindimensionales Verständnis des „Evangeliums des Friedens“ zu einem für die betroffenen Arbeiter höchst destruktiven Moralkonzept verkommen lässt. Idealtypisiernde Spiritualisierungen ohne sozialpolitische Konsequenzen laufen sich unter diesen Umständen an der sozialen Wirklichkeit tot. Will Predigt überhaupt – insbesondere bei der Zielgruppe der Arbeiter – ihrer diakonischen Aufgabenstellung gerecht werden, so ist sie gefragt: Mit wessen Augen sieht sie, wessen Stimme erhebt sie? Wie nimmt sie Arme und Bedürftige wahr: als Subjekte oder als bloße Objekte im gesellschaftlichen Prozess? Wie nimmt sie selbst ihr prophetisches Wächteramt, wie nimmt sie Stellvertretung und Anwaltschaft wahr, wie ihr das als Wagnis vom „Evangelium des Friedens“ her aufgegeben ist?156 Die „Arbeiterpredigten“ bewegen sich nicht einmal im Vorfeld dieser Fragestellungen. 4. Soziale Gerechtigkeit Die Frage: Was ist soziale Gerechtigkeit, die den Arbeitern gerecht wird, die ihr Auskommen sichert und die sie auf eine ihrer Arbeitsleistung angemessene Weise an der Gesellschaft teilhaben lässt, ist den Arbeiterpredigten und den Evangelischen Arbeitervereinen, die sich zu den „älteren“ Christlich-Sozialen in der Christlich-Sozialen Bewegung zählen, durch die gesellschaftliche Entwicklung davongeeilt. Die Fragen nach Gerechtigkeit, die eine dergestalt in Fronten aufgespaltene Arbeitswelt aufgibt, lassen sich beim besten Willen nicht mehr mit Predigtbeispielen aus der Vorstellungswelt eines sozialen Organismus und dem Gebot zum harmonischen Zusammenwirken zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern beantworten. Nicht dass die Arbeiterpredigten die Frage der sozialen Gerechtigkeit für ihre Zielgruppe ausklammern würden! Doch in welcher Gestalt ist sie gestellt und in welchen Kontext ist sie eingelassen? Die Antwort darauf entscheidet ihrerseits wieder über Stellenwert, Zielrichtung und sozialpolitische Wirkungsmöglichkeiten. Mit den Evangelischen Arbeitervereinen verstehen sich die Arbeiterpredigten − als „unerschrockene … Verfechter wohlbegründeter Ansprüche“, 155 156 Vgl. Jähnichen, Vom Industrieuntertan, 159 ff. Vgl. bes. Ragaz, Gleichnisse Jesu, 10; ders., Bergpredigt Jesu, Bern 1945, 9 ff. Zu diesen Kriterien vgl. Schäfer, Diakonische Predigt, in: Menschenfreundlichkeit Gottes, Einleitung, 20, 28, 34. 98 Walter Göggelmann − als „unermüdliche Warner vor Hass- und Umsturzgelüsten“, − als „Vertreter des Evangeliums, auch im gesellschaftlichen Leben“, kurzum − als „Beweis …, dass wahrer Fortschritt, wahre Freiheit nur möglich ist auf dem Boden des Evangeliums.“157 Das heißt von den sozialpolitischen Konsequenzen her zum Beispiel: Volles Organisations- und Koalitionsrecht der Lohnarbeiter, Tarifgemeinschaften, gleichberechtigtes Zusammenwirken der beiderseitigen Organisationen (sc. von Arbeitgebern und Arbeitnehmern) bei Lohn- und Arbeitsverträgen.158 Doch wie ist das gedacht? Dazu müsste man „die alten Ordnungen mit neuem Geist erfüllen“, zum Beispiel den veralteten Innungen „eine neue zeitgemäße Bedeutung geben.“159 Alle diese spärlichen Ansätze bewegen sich noch im Rahmen des den Arbeiterpredigten vorgegebenen Gesellschaftsbildes. Gedacht aber ist in hergebrachten Ordnungsstrukturen einer vorindustriellen Gesellschaft, in denen zum Beispiel Arbeit und Familie noch nicht unterschiedlichen Orten zuzuordnen sind; in denen Innungen die Belange von einzelnen Handwerken vertreten und Stände die gesellschaftliche Balance und damit Gerechtigkeit garantieren.160 Gerechtigkeit ist demzufolge eine faktisch „von oben“ gewährte – zum Beispiel auch durch weitere Schutz- und Versorgungsrechte. Unter diesen Voraussetzungen lassen sich zwar kleinere gesellschaftliche Gewichtsverschiebungen ausgleichen, Veränderungen der gesellschaftlichen Gesamtstruktur aber, wie sie der in vollem Gang befindliche Veränderungsprozess den Arbeitern täglich abverlangt, sind durch die den Arbeiterpredigten eigene Axiomatik weitgehend ausgeklammert: Besitzstände und Machtverhältnisse stehen im Grundsatz nicht zur Diskussion. Durchaus intendierte Weiterentwicklungen innerhalb der gegebenen Strukturen aber setzen gegenseitiges Verständnis aller am Arbeitsprozess Beteiligten, die christlichen Tugenden von Verständnis und Nächstenliebe, Loyalität und ein allen Seiten gemeinsames Bedürfnis nach sozialer Harmonie voraus. Das alles fügt sich auch durchaus in die Struktur und Logik des durch den Obrigkeitsstaat gesetzten Rahmens ein. Kein Wunder, dass alle Ansätze genossenschaftlicher Selbsthilfe, die auch nur den leisen Verdacht einer Entwicklungsfähigkeit in die Richtung einer kämpferischen Interessenvertretung aufkommen lassen, ganz offensichtlich einem homiletischen Generalverdacht unterliegen: Sie könnten wohl nach Sozialdemokratie riechen! Gerechtigkeit in der sozialpolitischen Form eines Ausgleichs von Besitzständen kann also nur eine „von oben“ gewährte, niemals aber eine „von unten“ erstrittene sein. 161 An dieser 157 158 159 160 161 So Mosapp (Stuttgart 1892), in: Winter, AP, 66. Vgl. Ludwig Weber, Soziale Praxis 1905, Sp. 1000. So Dibelius (Dresden 1895), in: Winter, AP, 93. Vgl. ebd. Vgl. weiter Naumann, Arbeiterpredigt, 56 ff. Vgl. Winter, AP, Einleitung, 13; Colditz, (Chemnitz 1901), in: Winter, AP, 12 f. Arbeiterpredigten. Von einem Dilemma diakonischer Homiletik 99 Stelle lassen sämtliche Arbeiterpredigten ihre Arbeiter-Hörer mit diesem im Arbeits- und Familienalltag existentiell erlebten Widerspruch allein. Dass Arbeiter durch Kampforganisationen neue Rechte erstreiten könnten; dass sich in diesem Zusammenhang Gewichte, Machtverhältnisse und Strukturen verändern ließen oder gar müssten, ist an keiner Stelle im Blick. Dass Arbeiterpredigt gefragt sein könnte nicht nur nach Sozialmoral innerhalb der bestehenden Stände- und Besitzordnungen, sondern nach einer Diakonie als anwaltschaftlicher Parteinahme auf der Seite der Benachteiligten, weil sich Gesellschaft beim besten Willen nicht mehr als zusammenwirkender Organismus darstellen lässt, offenbart die Systemgrenzen einer Zielgruppenpredigt, die solche Axiome voraussetzt. IV. Arbeiterpredigt – Diakonische Predigt? Die Schrift an der Wand der Gesellschaft und der Kirchen ihrer Zeit sehen die „Sozialen Pastoren“ und die „Arbeiterpredigten“ sehr wohl: Großindustrie – Arbeiter – Sozialdemokratie – Atheismus – Umsturz – Revolution … Die Arbeiterpredigten nehmen die Stichworte auf, und sie deuten die ihnen entsprechenden Erscheinungen als Menetekel. Dabei machen sie die sozialen Veränderungen durchaus am eigenständigen Phänomen der Industriearbeiter fest. Die Wahl dieser Zielgruppe für ihre Predigt verdient Beachtung in der Geschichte der Predigt als diakonischer Anstrengung. Dabei stehen die Arbeiterpredigten in einer doppelten Front: Die Abgrenzung gegen Atheismus und Umsturz in Form eines eindeutigen christlichen Zeugnisses versteht sich für die Arbeiterpredigten von selbst als zentrales Predigtziel. Nach der anderen Seite hinnehmen sie Profil an als Teil der christlichen Bewegung zur Sozialreform, die vorindustrielle Sozialromantik wie alles, was nach „Reaktion“ riecht, deutlich hinter sich lassen will. 162 Auf dem Boden der bestehenden Ordnung wollen sie stehen, um diese Ordnung zum menschenmöglichen Maß an Gerechtigkeit und Menschlichkeit weiter zu entwickeln. Wo es um die Arbeitswelt in der Großindustrie und die Nöte der Arbeiterfamilien geht, sind sie – im Rahmen ihres Gesellschaftsbildes – durchaus offen für soziale Empirie und auch für notwendige Veränderungen der Perspektive. In der Beurteilung „des Sozialismus“ sind sie durchgängig der Differenzierung Rudolf Todts zwischen berechtigten Forderungen und Atheismus verpflichtet.163 Sozialreform ist ihr sozialpolitisches Zielfeld: Teilhabe der Industriearbeiter an den durch die Gesellschaft produzierten Erträgen und ein der Arbeitsleistung angemessener sozialer Einfluss. 162 163 Vgl. Weber, Sozialer Führer, 57. S.o. Anm. 18. 100 Walter Göggelmann Doch wie weit ist der für die Arbeiterpredigten vorstellbare Spielraum? Wie weit reichen ihre Zielvorstellungen über die Vermeidung von Härten und über einzelne Schutz- und Versorgungsrechte der Bismarckschen Sozialgesetzgebung hinaus? Auf dem Boden des „christlichen Staates“ wollen sie stehen. Dem menschenverachtenden Arbeitsalltag der Großindustrie wollen sie das christliche Menschenbild und den himmelschreienden Besitzunterschieden die Gleichheit der Menschen vor Gott entgegensetzen. Konservative Sozialreformer wollen sie sein – die Sozialen Pastoren und die Prediger der „Arbeiterpredigten“. Der Boden, auf dem sie theologisch stehen, reicht vom erweckten Luthertum bis zum Kulturprotestantismus.164 Von ihrer sozialen Orientierung her sind sie bildungsbürgerlich, kirchlich, ständestaatlich, sozialharmonistisch. Kathedersozialistische Schutz- und Versorgungsrechte für Industriearbeiter markieren ihre sozialpolitischen Grenzen nach der einen, die Beanspruchung ständestaatlich organisierter Vertretungen für die Arbeiter die Grenzen nach der anderen Seite.165 Das alles muss bei ihnen für die Hoffnung auf eine soziale und kulturelle Aufwärtsentwicklung des „Arbeiterstandes“ und der gesamten Gesellschaft ausreichen. 166 Die Arbeiterpredigten haben also vollen Anteil an den großen Fragestellungen nach der Belastbarkeit des ständischen Gesellschaftsbildes der Sozialkonservativen mit der Wirklichkeit der frühindustriellen Zeit in Deutschland und eines sozialharmonistischen Ansatzes mit der Wirklichkeit der Zielgruppe der Arbeiter.167 Von den Arbeitern selbst jedoch, die unter den Kanzeln sitzen – oder sind das in den Evangelischen Arbeitervereinen vielfach doch sozial engagierte Pastoren, Lehrer und kleine Beamte? -, werden diese Predigten wohl eher als Apologien christlich-konservativer Sozialideale wahrgenommen werden. Und die sozialreformerischen Einzelzüge werden – zumal von ihrem Gewicht in den Predigten her – daneben eher blass erscheinen. Ob Predigt so überhaupt bei ihrer Zielgruppe ankommt, also als Versuch diakonischer Homiletik wahrgenommen wird, bleibt eine ernstliche Frage, auch wenn die Wahrnehmung der Arbeiter als Ansprechpartner und Zielgruppe durch diese Predigten gebührend zu würdigen ist. Gedacht sind sie sicher als Hilfe für die Arbeiter zur Integration in Ständestaat und bürgerliche Kirche. Doch ob die Industriearbeiter sich mit diesem Ziel ernstlich identifizieren oder wenigstens auseinandersetzen wollen? An dieser Stelle stehen diese Predigten an einem Scheideweg. Als Arbeiterpredigten stellen sie Grundsatzfragen für die Orientierung diakonischer Predigt in einem gesellschaftlichen Umfeld der raschen strukturellen Veränderungen. 164 165 166 167 Vgl. als Beispiele Meyer (Dresden o.J.), in Winter, AP, 19 ff. auf der einen und Naumanns „Arbeiterpredigt“ (56 ff) auf der anderen Seite. Vgl. oben Anm. 158. Vgl. oben Anm. 162. Vgl. dazu auch Göggelmann, Christliche Weltverantwortung, 58 ff. Arbeiterpredigten. Von einem Dilemma diakonischer Homiletik 101 So soll in einem Schlussabschnitt an Hand von einigen Stichworten nach Chancen, besonders aber nach dem Dilemma der Arbeiterpredigten als eines Versuchs diakonischer Homiletik gefragt werden: 1. Wollen sie die Arbeiter hereinholen in eine bestehende Ordnung aus Kirche und Staat, oder wollen sie hinausgehen in die Welt der Arbeiter und sich mit diesen zusammen auf den Weg machen zu einer Gesellschaft, in der Industriearbeiter ihre Identität finden: Wer sind, wo stehen, was brauchen die Arbeiter? Das aber würde eine gänzlich neue Ortsbestimmung der Predigt selbst bedeuten. Sie könnte sich nicht mehr auf dem festen Boden eines gegebenen gesellschaftlichen Ordnungsgefüges bewegen, sondern müsste das Risiko eines gemeinsamen Weges mit ihrer Zielgruppe eingehen, als verstehende Begleiterin, vielleicht auch als Anwältin, solidarisch neue Ziele entwickeln, die von ihren Stoßrichtungen und von ihren Mitteln her von selbst das Risiko einer Einmischung in die Sozialpolitik beinhalten würden. 2. Die Arbeiterpredigten wollen unter den Feldbedingungen der durch die Industrialisierung vorgegebenen Systemveränderungen dem gesellschaftlichen Prozess das Evangelium des Friedens zuführen. Und sie bemühen sich, auf der Seite der Benachteiligten anzusetzen. Doch ermessen sie die volle Tragweite der Systemveränderungen gerade in Bezug auf die Zielgruppe der Predigt? Sind sie sich im Klaren darüber, dass die Massen der Industriearbeiter selbst die Zeichen einer neuen Zeit und einer neuen Gesellschaft sind, deren Konturen sich noch nicht in ihrer vollen Schärfe abzeichnen? In welchem Maß verfügen die Predigten und die Prediger selbst über die dazu notwendigen empirischen Erkenntnismittel? Und in welchem Maß stellt ihnen die Exegese des Neuen Testaments die Mittel zu einem entsprechenden Verständnis des Evangeliums zur Verfügung? Was fordert dann aber das „Evangelium des Friedens“ in diesem gesellschaftlichen Kontext? 3. So bedeutet bereits der „Sitz im Leben“ der Arbeiterpredigten, die Zuordnung zu den Evangelischen Arbeitervereinen und ihren Festen, die Begrenzung der homiletischen Wirkungsmöglichkeiten: Die Vereine selbst mit ihrem Ziel der Einordnung eines Arbeiterstandes in eine neue Ständegesellschaft und in eine bürgerlich geprägte Kirche und der sozialen Harmonie sind die Vorgaben für alle übrigen Predigtziele. Diese Vorgaben aber schränken den Blick für die Tragweite der gesellschaftlichen Entwicklungen ebenso wie für die Bedürfnisse und die Anliegen der Zielgruppe in einem Maß ein, dass bereits das Projekt „Arbeiterpredigt“ selbst von ihrem Ansatz her eben diesem Grunddilemma unterliegt: Man kann nicht die Arbeiter in Schutz nehmen wollen gegen das System eines von der Person abgelösten Verständnisses von Arbeit und sie dabei gleichzeitig integrieren wollen in eine Ständegesellschaft, deren Profitanten eben damit ihre Gewinne machen. Und vor allem kann man unter diesen Voraussetzungen nicht auch noch den Arbeitern soziale Harmonie predigen! 102 Walter Göggelmann 4. So nehmen die Prediger ihre Zuflucht zu – teilweise der Wirkungsgeschichte von Luthers Katechismen entliehenen – idealtypisierenden Spiritualisierungen: Arbeit als Teilhabe an Gottes Schöpferhandeln; der Arbeitsplatz als der von Gott verordnete Ort; Gott als Arbeiter; Jesus als Arbeiterkind und als leidender Arbeiter; die christlich-patriarchalische Familie als unverbrüchliche Gottesordnung … Die Zuordnung der Arbeiter innerhalb des Gemeinwesens ist alten Mustern meist ekklesiologischer Provenienz verpflichtet. Diese die Konkretionen der Industriearbeit und die Belastungen der Arbeiterfamilien mit ihrer weitgehenden Recht- und Schutzlosigkeit nicht aushaltenden Spiritualisierungen tragen keine Botschaften des Evangeliums mehr zur Zielgruppe der Arbeiter. Auf der anderen Seite würde jede diese Spiritualierungen überwindende Konkretion in den Predigten diese der Gefahr einer Parteinahme aussetzen, die der „Sitz im Leben“ der Arbeiterpredigten ja gerade der vorgegebenen sozialharmonistischen Zielsetzung wegen vermeiden muss. 5. Eine weitere Grundsatzentscheidung im Zusammenhang mit dem Sitz im Leben der Predigten, die diese zu vermeiden suchen, betrifft ihr Bild von Kirche: Ist ihr primäres Predigtziel die (Wieder-) Gewinnung der Arbeiter für eine in einem christlichen Ständestaat etablierte bürgerliche Kirche, oder wollen sie die Arbeiter ermutigen, in einer für sie offenen Kirche ihren Platz zu finden? Mit anderen Worten: Kirchliche Eigeninteressen stehen gegen die Interessen einer Zielgruppe – für diakonische Predigt ein herber Konflikt! 6. Caritas, Rettung und soziale Harmonie auf der einen und die Frage nach wirtschaftlicher und sozialer Gerechtigkeit und Humanität in der Arbeitswelt auf der anderen Seite lassen den Zielkonflikt zur Zerreißprobe für die Arbeiterpredigten werden angesichts einer „Welt des rücksichtslosen wirtschaftlichen Interessenkampfes“.168 Die Botschaft: Alle sind auf einander angewiesen bei aller wirtschaftlichen und sozialen Unterschiedlichkeit, transponiert aus der Ekklesiologie entliehene Maßstäbe und Bilder169 in ein vielfach durch Klassenkämpfe gekennzeichnetes gesellschaftliches Umfeld. So ist Predigt nach ihrer Position gefragt: Die Außenposition des Wissenden einzunehmen wie betend und ausgleichend dazwischen zu stehen, falsifiziert sich als Positionsbestimmung bereits vom Ansatz her: Wäre damit doch automatisch die Entscheidung für eine Parteinahme für die Seite der wirtschaftlich Stärkeren getroffen! 7. Nochmals: Hinausgehen oder hereinholen? Solidarität als Parteinahme für die Schwächeren oder eine nicht mehr realisierbare Schiedsrichterfunktion? Alle vorgegebenen Ortsbestimmungen in einem im raschen Wandel befindlichen gesellschaftlichen Umfeld, aber auch die Suche nach einer neuen Positions- und Aufgabenbestimmung von Predigt in der Solidarität mit einer Zielgruppe von gesellschaftlich Benachteiligten stellen diakonische Predigt vor diese unbarmherzigen Alternativen. 168 169 Vgl. Lewek, Kirche und soziale Frage, 28. Vgl. etwa die biblischen Bilder von Röm 12 und 1 Kor 12. Arbeiterpredigten. Von einem Dilemma diakonischer Homiletik 103 Den Anspruch auf wegweisende homiletische Grundsatzentscheidungen werden die Arbeiterpredigten wohl weder erheben können noch wollen. Die Botschaft des Evangeliums unter den Voraussetzungen eines raschen gesellschaftlichen Wandels zur Geltung zu bringen – das machen sie sich zur Aufgabe. Doch weder ihre theologischen Voraussetzungen noch ihre Zugänge zur sozialen Empirie stellen für sie adäquate methodische Mittel bereit, ihren homiletischen Ort zwischen seelsorgerlicher Begleitung und Wegweisung und sozialpolitischer Anwaltschaftlichkeit zu finden. Das macht die Tragik dieser Episode der Predigtgeschichte aus. Die grundsätzlichen Gesichtspunkte jedoch, die sie zur Problemfindung diakonischer Homiletik beisteuern, sind nicht zu unterschätzen. Liste der Prediger Sammlung: Georg Wilhelm Winter: Arbeiterpredigten Colditz, Arwin Ottokar von geb. 1856 in Treuen 1891 Pfarrer in Chemnitz, Markuskirche 1901 Superintendent in Oschatz Predigt zu 1. Mose 37,15: Ich suche meine Brüder, Chemnitz o.J. 170 Dibelius, Dr. theol. et phil. Franz Wilhelm geb. 1847 in Brenzlau 1874 Pfarrer an der Bartholomäuskirche in Dresden 1884 Pfarrer und Superintendent an der Kreuzkirche in Dresden 1900 Pfarrer an der Dreikönigskirche in Dresden Predigt zu Matthäus 10,16: Arbeiter, seid klar und wahr Jahresfest des Evangelischen Arbeitervereins am 17.2.1895 in der St. Annenkirche in Dresden171 Geyer, Dr. Christian Karl Ludwig geb. 1862 in Manau/Unterfranken Hauptprediger in Nürnberg 1902 Pfarrer in St. Sebald in Nürnberg Predigt zu Epheser 5,16: Vom rechten Gebrauch der Zeit Nürnberg o.J.172 170 171 Vgl. Reinhold Grünberg, Sächsisches Pfarrerbuch, Freiberg 1939, 85; 493. Vgl. Grünberg, Sächsisches Pfarrerbuch, 130; 138 f. Deutsche Biographie, Zentralregister, Bd. 6, Pullach 2004, 871. 104 Walter Göggelmann Koeltzsch, Dr. Franz Heinrich geb. 1861 in Plauen Oberpfarrer in Chemnitz 1887 Domdekan in Freiberg 1889 Diaconus an der Kreuzkirche in Dresden 1893 Pfarrer an der Kreuzkirche in Dresden 1902 Pfarrer an der St. Jacobikirche in Chemnitz 1911 Superintendent und Oberkonsistorialrat in Dresden 1919 Abgeordneter der Deutschen Nationalen Volkspartei in der Weimarer Nationalversammlung Predigt zu Jeremia 29,11: Der Stadt Bestes Festpredigt zum 10. Jahresfest des Evangelischen Arbeitervereins Dresden und Umgebung in der Kreuzkirche in Dresden o.J.173 Meyer, Dr. Friedrich geb. 1840 in Annaberg/Sachsen 1870 Pfarrer in Dohna 1876 Pfarrer an St. Pauli in Chemnitz 1893 Superintendent in Zwickau 1902 D. theol. 1908 Geheimer Kirchenrat Predigt zu 2. Korinther 12,9 zur Jahresfeier des Evangelischen Arbeitervereins zu Dresden o.J.174 Mosapp, Dr. Hermann geb. 1863 in Mainhardt/Württemberg 1892 Pfarrer in Stuttgart 1903 Oberschulrat in Stuttgart Vorsitzender des Evangelischen Bundes in Württemberg Predigt zu Lukas 10, 16–24: Die evangelischen Kirche und die soziale Frage Reformationsfest und Stiftungsfest des Evangelischen Arbeitervereins Stuttgart 1892 Predigt zu Epheser 6, 10–20: Auf, Christenmensch, auf, auf zum Streit Reformationsfest und Stiftungsfest des Evangelischen Arbeitervereins in Stuttgart 1893. 172 173 174 Vgl. Historische Kommission der Bayrischen Akademie der Wissenschaften (Hg.), Neue Deutsche Biographie (NDB), Bd. 6, Berlin 1964, 355. Vgl. Grünberg, Sächsisches Pfarrerbuch, 130; 134; 137. Deutsche Biographie (DB), Index, 2. Ausgabe, München 1998, 1851. Vgl. Grünberg, Sächsisches Pfarrerbuch, 720; NDB, Bd. 17, Berlin 1994, 338. Arbeiterpredigten. Von einem Dilemma diakonischer Homiletik 105 Predigt zu Matthäus 25, 14–30: Treue Arbeit findet ihren Lohn Stiftungsfest des Evangelischen Arbeitervereins Stuttgart o. J. 175 Schenkel, Dr. Moritz Geboren 1834 in Borna 1869 Pfarrer und Lehrer in Cainsdorf/Sachsen Predigt zu Jesaia 43,24 und Jesaia 53,11: Arbeiter rechts und Arbeiter links, der gekreuzigte Arbeiter mitten inne Weihe einer Kreuzigungsgruppe (Holzrelief) in der Kirche in Cainsdforf 1896.176 Winter, Lic. theol. Friedrich Julius geboren 1844 in Chemnitz 1898 1. Pfarrer in Bockwa 1902 Superintendent in Zwickau Predigt zu 1. Mose 3,19: Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen Predigt zum Erntedankfest o.J.177 Winter, Georg Wilhelm geboren 1866 in Dresden 1900 Pfarrer an der Dreikönigskirche in Dresden Predigt: Eure Liebe sei nicht falsch 1. Jahresfest des Coswiger Evangelischen Arbeitervereins in Coswig, 1901.178 Friedrich Naumann und Johann Hinrich Wichern Naumann, Friedrich 1860–1919 1883 Oberhelfer im Rauhen Haus in Hamburg bei Johannes Wichern 1886 Pfarrer in Langenberg/Sachsen 1890 Vereinsgeistlicher für Innere Mission in Frankfurt a.M. Ab 1890 Mitarbeit im Evangelisch-Sozialen Kongress Ab 1894 Anführer der „jüngeren“ Christlich-Soztialen 1896 Gründer des Nationalsozialen Vereins 175 176 177 178 Vgl. DB München 1998, 2397. Vgl. Grünberg, Sächsisches Pfarrerbuch, 75; DB, Index 2. Ausgabe München 1998, 1097. Vgl. Grünberg, Sächsisches Pfarrerbuch, 54. Vgl. a.a.O., 138. 106 Walter Göggelmann 1903 Mitglied der Freisinnigen Vereinigung, Mitglied des Reichstags 1919 Mitglied der Verfasssunggebenden Versammlung in Weimar Predigt: Arbeiterpredigt zum Jahresfest des Evangelischen Arbeitervereins Wilkau/Niederhaßlau 1888.179 Wichern, Johann Hinrich (1808–1881) 1833 Gründer des „Rauhen Hauses“ in Hamburg 1848 Gründervater der Inneren Mission auf dem Wittenberger Kirchentag Predigt zu Apostelgeschichte 4,12 „Vor Fabrikarbeitern“ in Buckau bei Magdeburg. 180 Dr. Walter Göggelmann war Pfarrer der Württembergischen Landeskirche und ist freier Mitarbeiter und Lehrbeauftragter des Diakoniewissenschaftlichen Instituts der Universität Heidelberg. 179 180 Überblick nach Theodor Heuß: Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit, Stuttgart und Tübingen 21949. Zur Predigt vgl. Friedrich Naumann, Werke I (Hg. v. Walter Uhsadel), Köln 1964, 56–67. Zur Biographie vgl. die Zeittafel von Gerhard Wehr, in: Volker Herrmann u.a. (Hg.): Johann Hinrich Wichern. Erbe und Auftrag (VDWI 30), Heidelberg 2007, 353 f. Zur Predigt s.o. Anm. 9. Arbeiter oder Diener Über die Diakonie-Auffassungen des 20. Jahrhunderts Esko Ryökäs Die nicht nur im deutschen Sprachraum noch heute einflussreiche Definition von „Diakonie“ kann man mit zwei wissenschaftlichen Quellen verknüpfen. Im Jahr 1935 veröffentlichte Hermann Wolfgang Beyer im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament einen Artikel mit dem Titel „diakonéoo, diakonía, diákonos“. Dieser Beitrag sieht als Grundbedeutung von Diakonie den Tischdienst. Außerdem können damit auch andere niedere Dienste bezeichnet werden (nicht nur in der Kirche). Das Besondere an dem Begriff ist laut Beyer, dass er „die ganz persönlich einem anderen erwiesene Dienstleistung“ bezeichne. In der Diakonie solle der Diakon nach dem Vorbild Jesu aus Nächstenliebe und in völliger Hingabe karitativ dienen. 1 Gut möglich ist damit eine Annäherung an den Begriff des Liebesdienstes. Der Beitrag von Beyer basiert in vielen Punkten auf einer Abhandlung von Wilhelm Brandt, die dieser 1931 unter dem Titel „Dienst und Dienen im Neuen Testament“ publizierte. Dieses Buch wird von Beyer mehrmals genannt, und in diesen beiden Arbeiten ist auch die Grundbedeutung der Diakonie-Wortgruppe ziemlich ähnlich.2 Das für Brandt Besondere ist die Kombination der Dienstbegriff-Analyse mit der ethischen Gesinnung, und so kann seiner Meinung nach der Einzelne, der seine religiösen Tugenden nur zu seinen eigenen Zwecken nutzt, nicht mehr fähig sein, seinen Weg zum Bruder zu finden. 3 Zur Diakonie gehört also eine bestimmte Weise christlich zu leben. John N. Collins war es, der die These aufgestellt hat, dass das Verständnis von Diakonie im Sinne eines niedrigen nächstenliebenden und sich ganz für den anderen aufopfernden Dienstes erst durch Brandt und Beyer in die theologische Diskussion des 20. Jahrhunderts eingeführt wurde. Davor habe dieser Aspekt von Niedrigkeit nicht zum Diakoniebegriff gehört. 4 In seiner 1 2 3 4 Hermann Wolfgang Beyer, diakonéoo, diakonía, diákonos, in: ThWNT II, Stuttgart 1935, 81–93; Vgl. Anni Hentschel, Gemeinde, Ämter, Dienste. Perspektiven zur neutestamentlichen Ekklesiologie (Biblischtheologische Studien), Neukirchen 2013, 7-9.; ferner über die Bedeutung von Beyer: Ismo Dundergerg, Vermittlung statt karitativer Tätigkeit? Überlegungen zu John N. Collins’ Interpretation von diakonia, in: Volker Herrmann/Rainer Merz/Heinz Schmidt (Hg.), Diakonische Konturen. Theologie im Kontext sozialer Arbeit (Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts 18), Heidelberg 2003, 172–173; zu Beyer siehe auch andere Beiträge im selben Band. Ich bedanke mich ganz herzlich bei Dr. Anni Hentschel, Dr. John N. Collins und Dr. Stefan Dietzel für die gute Zusammenarbeit bei der Bearbeitung dieses Artikels und bei Martina Natunen für die tiefgreifende sprachliche Durcharbeitung. Wilhelm Brandt, Dienst und Dienen im Neuen Testament (Neutestamentliche Forschungen. Zweite Reihe: Untersuchungen zum Kirchenproblem des Urchristentums 5), Gütersloh 1931; Beyer diakonéoo, 81, 82, 85, 88 und 90, nennt das Buch von Brandt. Brandt, Dienst, 9–12, 197. John N. Collins, Diaconia – Reinterpreting the ancient sources, New York/Oxford 1990, 11. 108 Esko Ryökäs Arbeit, die für das deutschsprachige Gebiet von Anni Hentschel wieder aufgegriffen wird, kommt Collins, was die Bedeutung von Diakonie betrifft, zu einigen, im Vergleich mit Beyer sogar an den meisten Stellen, anderen Ergebnissen. Seiner Meinung nach geht es bei „diakonia“ nicht um niedere Dienste, sondern um unterschiedliche Arten von Beauftragungen, die oft mit Vermittlungstätigkeit verbunden sind. Der Diakon sei keinesfalls ein niedriger Diener der Gemeinde und seine Aufgaben seien in der Regel nicht gering geachtet und auch nicht von Demut geprägt. Ein Diakon ist laut Collins eher ein beauftragter Vermittler oder Bote, dessen Arbeit je nach Auftraggeber und Tätigkeit mit Ehre und Verantwortung verbunden sein kann. 5 In dem hier vorliegenden Artikel werde ich analysieren, wie das während des 20. Jahrhunderts in vier Auflagen herausgegebene Handwörterbuch Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG) als renommiertes Lexikon die Themen Diakonie und Diakonen- und Diakonissenamt beschreibt, und nachzeichnen, welchem Wandel diese dabei unterliegen. Abschließend werde ich versuchen, einige zusammenfassende Prinzipien aufzuzeigen und zu Collins‘ These Stellung zu nehmen. RGG1 über die Armen Die erste Auflage des Wörterbuches von 1910 (RGG1) 6 behandelt die Diakonie in den Abschnitten „Diakonen und Diakonenwesen“ und „Diakonissen” sowie in einem kürzeren Abschnitt unter dem Titel „Diakonievereine“.7 Alle diese Beiträge sind von Helene Freifrau (Freiin) von Dungern geschrieben, die als erste Oberin im Hessischen Diakonieverein tätig war.8 In ihnen wird, dem Thema des Lexikons folgend, sowohl die Geschichte als auch die Gegenwart beschrieben. Alles in allem wird die Thematik in RGG1 auf knapp zwölf Seiten behandelt. Zum Schluss wird als selbstständiges Schlagwort „Diakonus“ genannt, doch allein mit dem Wort „Pfarramt“ als Erläuterung,9 eine Ergänzung, die auf die Begriffe jener Zeit hindeutet. Die ältere Geschichte der Diakone wird kurzgefasst. Die Schreiberin nennt Apg 6,3 ff. als die Quelle, in der man „gewöhnlich“ die ersten sieben Diakone sehe. Ihrer Meinung nach trifft das zu, weil es dort um die ersten Armenpfleger gehe. Das Wort diakonos bedeutet nach von 5 6 7 8 9 Collins, Diaconia, 335–337; vgl. Anni Hentschel, Diakonia im Neuen Testament. Studien zur Semantik unter besonderer Berücksichtigung der Rolle von Frauen (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe 226), Tübingen 2007. Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch in gemeinverständlicher Darstellung. Herausgegeben von Friedrich Michael Schiele und Leopold Zscharnack. Zweiter Band. Von Deutschmann bis Hessen. Tübingen 1910. Helene von Dungern, Diakonen und Diakonenwesen, in: RGG1 II, Sp. 5–10; Dies., Diakonievereine, in RGG1 II, Sp. 10–12; Dies., Diakonissen, in RGG1 II, Sp. 12–17. Vgl. Martin Zentgraf (Hg.), 100 Jahre Hessischer Diakonieverein (1906–2006). Festschrift. Hessischer Diakonieverein, Darmstadt 2006, 16, 25, 40, 41–42, 62. RGG1, 17. Arbeiter oder Diener. Über die Diakonie-Auffassungen des 20. Jahrhunderts 109 Dungern „Diener“ und diakonia ihrerseits „Dienst“. Auch auf Phil 1 und 1 Tim 3,8–13 wird verwiesen, aber sonst nur auf den Artikel über Armenpflege (in dem der Diakon ganz kurz behandelt und als „Gehilfe“ charakterisiert wird). Hiermit wird auch ihr Verständnis über den Inhalt des Amtes klar. Am Ende ihres Beitrags ergänzt die Verfasserin, dass die eigentliche Armenpflege als Aufgabe der Diakone mit dem fünften Jahrhundert aufhörte. Die Kirchengeschichte wird kurz zusammengefasst: „Das ganze Mittelalter hindurch blieb es so. – Die Diakonen wurden Kirchendiener“.10 Was das Zeitalter der Reformation betrifft, ist der Fokus der gleiche: Von Dungern analysiert die Armenpflege in den Gemeinden. Bei diesen Aufgaben wurden Laien eingesetzt und in der Argumentation der Zeit wurde bewusst auf die Einrichtungen der Urgemeinde zurückgegriffen. Der Titel lautete jedoch etwas anders, nämlich „Kastenherr“ und „Kastenmeister“. Die an diese gestellten Anforderungen entstammten der Bibel, wie auch die Aufgabe: „die Sammlung und Verwaltung der zur Armenpflege nötigen Mittel“.11 Zum Schluss erwähnt die Verfasserin, dass Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts in den lutherischen Gemeinden das Interesse an der Armenpflege verschwunden sei. In den reformierten Kirchen sei das Neue Testament die Norm gewesen und „das Amt der Diakonen [galt] als gottgeordnetes“.12 Doch laut von Dungern war die Befolgung der Norm für die Armenpflege als rein kirchliche Angelegenheit nur in den „Fremdlingsgemeinden“ möglich, erst in London, dann in Ostfriesland und später am Niederrhein. Dort sei nach Calvins Vorbild ein doppeltes Amt unterschieden worden: „Diakonen, die der Krankenpflege dienen, und solche, deren Amt das Sammeln und Verteilen von Unterstützungsgeldern“ gewesen sei. Trotz späterer Verkümmerungen, betont die Verfasserin, lebte jedoch zum Schreibzeitpunkt das „Amt der Diakonen“ fort, in den reformierten Gemeinden als „Almosenpfleger“, allerdings als Ehrenamt.13 Die Beschreibung der Lage Anfang des 20. Jahrhunderts beginnt mit einer Definition des Arbeitsstatus der Diakone: Diese seien „zunächst nicht mehr Beamte der Kirchgemeinde, sondern Berufsarbeiter der Inneren Mission“14 gewesen. Das basiert laut von Dungern auf der Auffassung von Johann Hinrich Wichern, der zu Anfang nur „ältere Brüder“ 15 für die Erziehung der „Knabenschar“16 habe ausbilden wollen und deshalb zunächst auch den Titel „Diakon“ abgelehnt habe. Die Verfasserin betont, dass Wichern einen großen Unterschied zwischen seinen „Brüdern“ und den Diakonen der Urkirche sah. Sehr schnell sei ihm aber klar geworden, dass er die Arbeit auf einer breiteren Basis organisieren musste, und so sei der Titel 10 11 12 13 14 15 16 Von Dungern, Diakonen, Sp. 6. Ebd. Ebd. A.a.O., Sp. 6–7. A.a.O., Sp. 7. Ebd. Ebd. 110 Esko Ryökäs bald geändert worden. In den Diakonenanstalten sollte der sich Meldende schon bei der Anmeldung einen ordentlichen Beruf haben, weil das im Notfall notwendig sein konnte und weil das Leben im Verein kein Amt war, wie von Dungern betont. Um schon während der dreijährigen Ausbildung den richtigen Lebensstil zu lernen, unterstrich die Hausordnung die Bereitwilligkeit auch zu den geringsten Diensten. Laut von Dungern wollte Wichern auf vielerlei Weise garantieren, dass „unberufene Elemente“17 ferngehalten würden; die Brüder jedoch sollten sich „innerlich“18 als freie Menschen, nicht wie Knechte fühlen. „Für seine Amtsführung [war] der Bruder allein denen Rechenschaft […] schuldig, die ihn berufen“ 19 hatten. Von Dungern konstatiert: „Hierin unterscheiden sich die Prinzipien der Bruderanstalten sehr wesentlich von denen der Diakonissenhäuser.“20 Am Ende dieses Abschnitts hält die Verfasserin in den Landeskirchen und einigen freien Organisationen einen neuartigen Dienst für möglich, in dem der Schwerpunkt auf der Armenpflege der Gemeinde liegen müsse.21 Im Abschnitt über die Diakone gilt es als unbestreitbar, dass diese in der Armenpflege arbeiten sollen. Für die Ausbildung sei eine christliche Gesinnung nötig, sonst erwähnt die Verfasserin eine spezifisch christliche Lebensweise nur ganz selten. Zum Beispiel spricht sie nicht von einer Art christlicher Demut. Es geht um die Innere Mission, nicht um die Bezeichnung „Diakon“ oder das Wesen der Diakonie. In einem kürzeren Abschnitt unter dem Titel „Diakonievereine“ beschreibt von Dungern die Arbeit, die im Jahr 1894 von Karl Friedrich Zimmer begründet wurde. Dieser wollte der „Frauennot“22 abhelfen und näherte sich dabei den von Wichern für seine „Brüder“ aufgestellten Grundsätzen. Zimmer habe „Diakonie an [den] Frauen durch Frauen treiben“ 23 wollen, jedoch nicht mit Hilfe von Diakonissenanstalten. Die Lebensweise in den Diakonievereinen war nicht so streng, und von Dungern würdigt auch die „Zimmerschen Gedanken [als] das Richtige für unsere Zeit“24, erwähnt aber die Schwierigkeit, dass „nicht alle Schwestern der großen persönlichen Freiheit […] innerlich gewachsen“25 seien. Der längste Abschnitt von von Dungern beschäftigt sich mit den Diakonissen. Die Geschichte der Urkirche beschränkt sich bei ihr auf die Bemerkung, dass die neueste Forschung in der in Röm 16,1 genannten Phöbe nicht die erste „Diakonissin“ sehe. Die lutherische Reformation kannte laut von Dungern auch weibliche Diakonie, auf die die Verfasserin aber nicht weiter eingeht, weil sie schnell zu den reformierten Gemeinden in den Niederlanden und zu den Mennoniten übergeht. Dort habe man zunächst versucht, nur 17 18 19 20 21 22 23 24 25 A.a.O., Sp. 8. Ebd. Sp. 9. Ebd. A.a.O., Sp. 7–10. A.a.O., Sp. 10. A.a.O., Sp. 12. A.a.O., Sp. 11. Ebd. Arbeiter oder Diener. Über die Diakonie-Auffassungen des 20. Jahrhunderts 111 Witwen im Alter von mindestens 60 Jahren zu gewinnen, was aber bald zu Schwierigkeiten geführt habe. Nur dort, wo man auch auf jüngere Kräfte zurückgreifen konnte, habe die Diakonie weitergelebt. Reformierte Gemeinden in Frankreich und die Gründung bestimmter katholischer Orden gaben „vielen evangelischen Männer und Frauen“ einen Impuls, diakonische Organisationen zu gründen. Mehrere Namen werden genannt: Klönne, von der Recke-Volmerstein, Julius, Sieveking. Diesen ging es vor allem um „Liebestätigkeit und Krankenpflege“.26 Als eigentlichen Begründer des heutigen Diakonissenwesens nennt von Dungerer Theodor Fliedner, der bedeutende Impulse in den Niederlanden und dort bei den Mennoniten erhielt. Sein Leben und Wirken beschreibt sie ausführlich, doch stellt sie außerdem die Anstöße von Goßner, Härter und Löhe wie auch die Entwicklung in Berlin dar. Bei Fliedner handelte es sich laut von Dungern nicht um den Willen, den Diakonissendienst als kirchliches Amt zu gestalten, sondern eher um den „Drang zu helfen“. 27 Zum Schreibzeitpunkt hatte der Kaiserswerther Verband 81 Häuser und über 18 000 Schwestern. In der Diakonissenbewegung stand die Krankenpflege im Vordergrund, in einzelnen Häusern auch die Erziehungstätigkeit. Daher komme es, wie von Dungern schreibt, dass „Diakonissin [im Volksbewußtsein] mit Krankenpflegerin fast gleichbedeutend“28 sei. Der gesellschaftliche Hintergrund von Freifrau von Dungern wird deutlich, wenn sie über die Ausbildung schreibt. Da gilt eine Frage vor allen anderen: Für die Mädchen höherer Stände hatte die Ausbildung zur Diakonisse eine andere Bedeutung als für die der niedrigeren. Für Letztere ging es um eine Standeserhöhung, für Erstere um die aufopferungsvolle Bereitschaft, für andere körperlich schwere Aufgaben zu erledigen. Nach der Probezeit wurde die Schwester nicht automatisch ein Mitglied des Hauses, sondern es lag im Ermessen des Vorstandes, ob sie als Diakonisse eingesegnet und so eine Tochter des Mutterhauses wurde. Die Verfasserin betont hier den Unterschied zu den Diakonen. Die Schwestern traten in ein engeres Verhältnis zum Mutterhaus, wo sie kein Gehalt, sondern nur ein Taschengeld bekamen. Auch die Anstellungsbedingungen waren von denen der Diakone verschieden: Das Mutterhaus bestimmte, welche von den Schwestern arbeitet und wo. Die Diakonissen hatten stillschweigend zu gehorchen, sagt von Dungern, fügt aber hinzu: „in der Theorie“ 29. Es ist also erkennbar, dass die Verfasserin dem fliednerschen System nicht ganz unkritisch gegenübersteht. Zum Schluss stellt sie fest: „Das völlige Aufgeben jeder Selbstständigkeit ist für ein nach den Grundsätzen unserer Zeit erzogenes Mädchen schwer […].“30 26 27 28 29 30 Von Dungern, Diakonisse, Sp. 12–13. A.a.O., Sp. 14. A.a.O., Sp. 15. A.a.O., Sp. 16. A.a.O., Sp. 17. 112 Esko Ryökäs Was in von Dungerns Text auffällt, ist die Betonung des Wesens der Arbeit statt des Hintergrunds oder des Wesens der Begriffe. Diakon und Diakonisse werden zwar als kirchliche Diener behandelt, das Christliche wird aber sehr wenig erwähnt. Im Vordergrund stehen Armenhilfe und Krankenpflege wie auch die Ausbildung. Impulse kommen aus der Not der Zeit und auch von den katholischen Orden. Diakone und Diakonissen waren primär nicht Mitarbeiter der Kirche, sondern arbeiteten in Vereinen und Organisationen. Von einem Dienst in Demut wird bei von Dungern wenig gesprochen: Eine Diakonisse musste nur dem Haus gehorchen, nicht selbst eine niedrige Dienerin sein. Ein Diakon sollte seine Arbeit selbstständig ausführen können. Richtunggebend ist schon allein die Tatsache, dass die Texte nur von den Personenbezeichnungen ausgehen und nicht von einem prinzipielleren Blickwinkel. Die Diakonie wird damit durch ihr Objekt definiert: Diakonie heißt, Armen und Kranken zu helfen. RGG2 über den Dienst aus Dank und aus Liebe In der zweiten Auflage des Wörterbuches von 1927 (RGG2)31 gibt es auf dem Gebiet unseres Interesses nur einen Eintrag, nämlich – logischerweise – „Diakonie“.32 Der Text ist von Friedrich Mahling verfasst, der als Spezialist für die Innere Mission galt. 33 Alles in allem handelt es sich nun nur um drei Seiten, d.h. nur um die Hälfte der früheren Auflage. Mahling beginnt mit Definitionen. Unter dem Wort Diakonie versteht er viererlei: 1. Dienst der Liebe; 2. berufsmäßiger Dienst der Diakone und Diakonissen innerhalb der Gemeinden; 3. Ausübung „praktischer Wohlfahrtspflege gegenüber der Wortverkündigung“ 34; und ganz besonders 4. aus Dank und Liebe übernommener „Dienst des Jüngers Jesu an dessen ärmsten Brüdern“. Die letztgenannte Definition erweitert der Verfasser noch um „ein durch tiefste innere Erfahrung bestimmtes Handeln“.35 Diese Auflistung stellt gleichzeitig auch eine Wertehierarchie dar und gilt darüber hinaus als Gliederung des Beitrages, obgleich das von Mahling nicht explizit erwähnt wird. Die Gemeinschaft der Jünger Jesu solle sich von allen anderen dadurch unterscheiden, schreibt Mahling einleitend, dass in ihr alle durch „die Königsherrschaft Gottes“ miteinander verbunden seien. Die Jünger hatten die Pflicht einander zu dienen. Hier sieht der Verfasser eine große Erziehungsaufgabe: Die Gemeinde von heute solle diese Dienstverpflichtung so tief in das Gewissen der Gemeindemitglieder hineinsenken, dass „ihre Umsetzung in die Tat“ zum 31 32 33 34 35 Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Zweite, völlig neubearbeitete Auflage. In Verbindung mit Alfred Bertholet, Hermann Faber und Horst Stephan herausgegeben von Hermann Gunkel und Leopold Zscharnack. Erster Band A-D. Tübingen 1927. Friedrich Mahling, Diakonie, in: RGG2 I, Sp. 1903–1908. H. Hohlwein, Mahling, Friedrich, in: RGG3 IV, Sp. 605. Eine Formulierung, die die Frage aufwirft, was dieses „gegenüber“ hier bedeutet. Mahling, Diakonie, Sp. 1903. Arbeiter oder Diener. Über die Diakonie-Auffassungen des 20. Jahrhunderts 113 Kennzeichen der Gemeinde werde.36 So wird der Dienst der Liebe mit dem Neuen Testament begründet. Nach dieser allgemeinen Behandlung beschäftigt sich Mahling mit der berufsmäßigen Diakonie und mit der Geschichte der Diakonie. Einleitend konstatiert er, dass Fliedner die neutestamentliche Diakonie habe erneuern wollen, sich darin aber geirrt habe. 37 Laut Mahling geht es im Neuen Testament, in Apg 6, nicht um die Begründung eines Diakonenamts, weil sowohl Stephanus‘ als auch Philippus‘ eigentliche Aufgabe die Wortverkündigung war. In 1 Tim 3,8–13 handle es sich nicht um „Beamte“38, sondern um Diener. Diese Linie verfolgt er durch die Geschichte und nennt dabei mehrere Beispiele aus der Alten Kirche. Auch aus der mittelalterlichen Kirche sei nichts „von einem Diakonen- oder Diakonissenamt im Sinne der Ausübung gemeindlicher Liebestätigkeit“39 überliefert. Während der Reformation habe sich in den lutherischen Gemeinden ein Dienst von Diakonen (als Verwaltern des „Allgemeinen Kastens“40) entwickelt und in den reformierten ein Diakonenamt (für Sammlung und Verwaltung der Armengelder und für Versorgung und Pflege der Armen und Kranken). Die Diakonissenarbeit hörte jedoch, so der Autor, später wieder auf, wurde aber bei den Mennoniten weitergeführt. Und dort, meint Mahling, habe Fliedner diese Idee gefunden.41 Mahlings Beitrag erwähnt die Entwicklung der Wichernschen Institute, mehr Raum widmet er aber Fliedner. Letzterer habe eine Institution aufbauen wollen, in der Frauen mit der Pflege der Gemeinde, der Versorgung der Kranken, der Erziehung der Jugend und der Betreuung der Kinder beauftragt wurden. Die Idee sei gewesen, dass die Diakonisse „nicht für Lohn und Gehalt“42 arbeitet, sondern nur so viel Geld bekommt, wie sie unbedingt für ihren Unterhalt benötigt. Mahling erwähnt auch kurz den Evangelischen Diakonieverein von Friedrich Zimmer, beschäftigt sich dann aber ausführlicher mit der Lage der Kaiserswerther Diakonie. Die Mutterhausdiakonie wird in seinem Beitrag stark betont, obwohl sie auch nach Meinung begeisterter Anhänger nicht die einzig mögliche Form der Diakonie sei.43 Nach einem ersten Überblick über die Entwicklung der Diakonie geht Mahling detailliert auf prinzipielle und inhaltliche Fragen ein. Dabei setzt er sich auseinander mit der Unterscheidung von Wortverkündigung und Tatdiakonie und stellt fest, dass diese sachlich nicht bedingt sei: „[…] alle Diakonie der Tat [ist] zugleich eine Mission des Worts“. Hier arbeitet er mit der 36 37 38 39 40 41 42 43 A.a.O., Sp. 1904. Ebd.; vgl. Gerhard Uhlhorn, Die christliche Liebestätigkeit III, Die Liebesthätigkeit seit der Reformation, D. Gundert, Stuttgart 1890, 374; Vgl. Eberhardt Hauschildt, Was bedeuten exegetische Erkenntnisse über den Begriff der Diakonie für die Diakonie heute? Eine historische und hermeneutische Skizze, in: PTH 97 (2008), 307–314: 310. Mahling, Diakonie, Sp. 1904. A.a.O., Sp. 1905. A.a.O., Sp. 1906. Vgl. Mahling, Diakonie, Sp. 1904–1906. A.a.O., Sp. 1907. A.a.O., Sp. 1906–1908. 114 Esko Ryökäs Kategorie der Volksmission: Auch die Diakonie sei ein Stück der Volksmission innerhalb der evangelischen Liebestätigkeit.44 Damit ist bei Mahling der Weg frei für eine prinzipielle Schlussfolgerung: Diakonie sei „im tiefsten Sinne“ ein „Dienst aus der Erfahrung der in Christo Jesu offenbar gewordenen Gottesliebe heraus“. Dieser wolle durch den Dienst an den ärmsten Brüdern „dem Herrn alle […] Wohltaten […] vergelten“. Eine derartige Diakonie hängt dem Verfasser zufolge mit der Diakonie im weiteren Sinne zusammen, wo es darum geht, den Menschen in der Kraft der Liebe zu dienen. Das Ziel sei jedoch die Diakonie im ersteren Sinn, und das werde den Diakonen und Diakonissen immer klarer, wenn sie tiefer „in den Dienst der Liebe eindringen“. Darum heiße Diakonie im tiefsten Sinn auch „Dienst aus Dank und aus Liebe“, schreibt Mahling abschließend.45 Die Diakonie ist bei Mahling kein Amt, sondern ein freiwilliger Dienst, der nicht spezifisch von den Kirchengemeinden ausgeübt wird. Der Wille, Diakonie zu betreiben, basiert grundlegend auf der Erfahrung, von Gott geliebt zu werden. Eine Forderung nach Niedrigkeit und Demut fehlt (noch) bei ihm. Im Vergleich zu RGG1 hat der Diakon eine klare und eindeutige christliche Identität, die auf einer starken Erfahrung beruht. Weil Diakon und Diakonisse zusammen analysiert werden, tritt die Wichernsche Selbstständigkeit mehr in den Hintergrund, stark betont wird die Fliednersche, eher gemeinschaftliche, idealistische Auffassung. Diakonie ist der Wille zum Helfen, der auf der Erfahrung beruht, dass man selbst von Gott geliebt ist, was dazu führt, dass man diese Liebe weitergeben will. Es handelt sich also nicht um ein Amt, sondern um einen Dienst, basierend auf Erfahrung, aber noch nicht auf Demut, Ergebung oder Bescheidenheit. In RGG3 wird sich das ändern. RGG3 über einen höheren Dienst In der dritten Auflage von 1958 (RGG3)46 ist die Behandlung der Themenbereiche unter zwei Verfassern aufgeteilt. Wilhelm Jannasch (seinerzeit Professor für Praktische Theologie in Mainz) behandelt das Thema ausgehend von den Personenbezeichnungen, 47 Heinz Wagner (seinerzeit Rektor des Diakonissenmutterhauses in Borsdorf, später Professor für Praktische Theologie in Leipzig) von dem Begriff „Diakonie“.48 Im Ganzen umfasst die Analyse etwa vier Seiten, also etwas mehr als in der zweiten Auflage. 44 45 46 47 48 A.a.O., Sp. 1908. Ebd. Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Dritte, völlig neu bearbeitete Auflage in Gemeinschaft mit Hans Frhr. v. Campenhausen, Erich Dinkler, Gerhard Gloege und Knud Løgstrup herausgegeben von Kurt Galling. Zweiter Band D–G. Tübingen 1958. Wilhelm Jannasch, Diakon (Diakonus, Diakonisse), in: RGG3 II, Sp. 159–162. Heinz Wagner, Diakonie, in: RGG3, II, Sp. 162–167. Arbeiter oder Diener. Über die Diakonie-Auffassungen des 20. Jahrhunderts 115 Der mit „Diakon (Diakonus, Diakonisse)“ betitelte Artikel von Jannasch beginnt mit der Feststellung, mit dieser griechischen Wortgruppe habe Jesus den Sinn seines Kommens und auch die Aufgabe des Jüngers bezeichnet. Der Verfasser sieht einen „freilich schwer fassbare[n]“ Übergang schon im Neuen Testament von einer charismatischen zu einer institutionellen Bedeutung, allerdings ohne damit die Frage zu stellen, ob das von seinem Verständnis des Wortes abhängen könnte. Apg 6 und Röm 16,1 (Phöbe) fasst er nicht als Erzählungen über sachlich schon fest geordnete Dienste auf, doch von Phil 1,1 nehme man das allgemein an. 1 Tim 3 berichtet laut Verfasser von den erwarteten Eigenschaften eines Diakonus, doch nicht von den Aufgaben des Amtes. Für Jannasch war der Diakon im Neuen Testament eine Bezeichnung mit eher charismatischem als gemeindeorganisatorischem Charakter. Die Arbeitsaufgaben waren in der Nähe des Bischofsamtes angesiedelt: Ein Diakon half „dem Bischof in Kultus, Armenpflege und Verwaltung.“49 Für die Aufgaben der Diakone in der alten Kirche war laut Jannasch „eine ähnliche Buntheit“ typisch, und das gleiche habe auch für die Diakonissen gegolten. Auch diese hatten mehrere, etwa denen der Diakone ähnliche, Funktionen, doch eigentlich nur in der östlichen Kirche. Das Amt habe vor allem hinsichtlich der Weihe und der Dienste bei den Klosteroberinnen im Westen weitergelebt, aber auch „die Sekten behielten nicht selten das eigentliche Diakonissenamt“, meint Jannasch, ohne genauer zu erklären, was er unter dem „eigentlichen Amt“ versteht.50 Der Artikel verfolgt die geschichtliche Entwicklung von der Frühen Kirche über die reformatorischen Kirchen (einschl. anglikanische Kirche, Luther, Bugenhagen, Calvin) bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, die als Zeit des neuen Auflebens gilt. Genannt werden sowohl Wichern und Fliedner als auch die moderne Gemeinde und die Innere Mission als Ort des Amtes. Die verschiedenen Epochen werden ganz kurz beschrieben, der Text strebt nur eine Übersicht über die Verwendung der Begriffe an. Mehr Raum wird den zum Schreibzeitpunkt akuten Problemen gewidmet. Damals war es schwierig, für die Diakone einen Platz zu finden zwischen Kirchendienern und Küstern auf der einen und Pfarrern auf der anderen Seite. Die Erneuerung des Diakonissenamtes bedeutete laut Jannasch seinerzeit eine Reform, die bezüglich Tracht, Lebenserfüllung und Versorgung eine wichtige Bedeutung für seine Trägerinnen hatte und zugleich einen Aufstieg ihrer Position darstellte. Das sei als ein Ausgleich angesehen worden für die „Schwere des geforderten und freudig geleisteten Dienstes“.51 Zum Schreibzeitpunkt hatte sich die Situation geändert, weil es schon eine große Anzahl von „weltlichen“ Frauenberufen pflegerischer Art gab. Das weckt bei Jannasch die Frage, ob und wie in der Mutterhausdiakonie das Amt eine modernere Gestalt annehmen 49 50 51 Jannasch, Diakon, Sp. 160. Ebd. A.a.O., Sp. 162. 116 Esko Ryökäs könne. Das hänge damit zusammen, inwieweit der Dienst der Diakonisse in „höherem Sinne“ Dienst sei als die anderen pflegerischen Frauenberufe und der Dienst des Pfarrers.52 Mit seiner letzten Frage knüpft Jannasch an die Problemstellung an, die im Hintergrund seines Textes eine konstante Rolle spielt. Der Diakon habe im Neuen Testament etwas Charismatischeres an sich gehabt, für Diakonissen gebe es einen „eigentlicheren“ Dienst, den sie freudig leisteten. Hatten dann der Diakon und die Diakonisse bei Jannasch einen Dienst „im höheren Sinne“? Es scheint offensichtlich, wie auch Jannasch selbst andeutet, dass es schwierig ist, von dem charismatischen Dienst zu einem institutionellen Amt überzugehen 53, das heißt, Jannasch schwankt zwischen zwei Positionen. Im charismatischen Dienst sind Diakon und Diakonisse sehr wichtig, im Amt aber eigentlich nicht. Diese Spannung prägt Jannaschs gesamten Text. – Im Zusammenhang mit dem zweiten Beitrag in der dritten Auflage des RGG wird das ein wenig erklärt. Schon der vierte Satz im Beitrag von Wagner bringt im Vergleich zu den früheren Auflagen etwas Neues und knüpft damit auch an die Problematik bei Jannasch an. Der Verfasser beginnt mit einer Definition, der zufolge Diakonie Hilfe und Fürsorge sei als „Nachfolge in der Liebe Jesu Christi“.54 Mit dem griechischen Wort sei im profanen Sprachgebrauch etwas Alltägliches gemeint55, „unter der Wirkung des Evangeliums“ aber würden diese Verrichtungen etwas anderes. Das Neue liegt in einer doppelten Bewertung, nämlich darin, dass die unter dem Begriff Diakonie durchgeführten Aufgaben als „gering geachtete“ Verrichtungen beschrieben werden und dass diese gleichzeitig jedoch sehr wichtig sind. Besonders bedeutsam sind die diakonischen Arbeitsleistungen, wenn diese „zur liebevollen Hingabe an den Nächsten in Freiheit als Nachfolge Christi […] und in Gebundenheit als Bruderdienst“ werden. Als Arbeitsformen nennt der Verfasser die üblichen: Versorgung, helfende Tat, Verkündigung, Mitarbeit in der Gemeinde, ebenso wie die Sammlung von Kollekten. 56 In diesem 52 53 54 55 56 Ebd. A.a.O., Sp. 160. Wagner, Diakonie, Sp. 162. Hier will ich ein wenig akribisch sein, um die Rolle der Quellen Wagners hervorzuheben. Der Text stellt zum Schluss eine Liste von Literatur bereit, fügt aber auch im fließenden Text noch einige Hinweise hinzu. An dieser im Text oben genannten Stelle (Sp. 162) nennt Wagner zwei Aspekte des Inhalts von diakonein: „bei Tisch aufwarten, Speisen und Getränke anreichen“, und „Verantwortung für den Lebensunterhalt tragen“. Danach steht in Klammern: „ThW II, 81 ff.; RAC III, 888 ff“. Letzteres verweist auf den Beitrag „Diakon“ von Theodor Klauser in: RAC III, Sp. 888–909, wo aber genau diese Formulierung ganz exakt nicht zu finden sei. Klauser schreibt (Sp. 906), dass ein Diakon „der Tischdiener [war], der die Speisen beim Mahl […] aufzutragen hatte“. Hier ist also die Sache zu finden, nicht aber die Formulierung. Die von Wagner benutzte erste Abkürzung „ThW II“ verweist nicht, wie es heute möglicherweise verstanden werden könnte, auf die Serie „Theologische Wissenschaft 2“, in der Ethelbert Stauffer die Theologie des Neuen Testaments behandelt. Mit dieser Abkürzung will Wagner auf die Stelle verweisen, wo es bei Beyer (diakoneoo, 81, ThWNT II) heißt, die profane Bedeutung des Wortes sei „bei Tisch aufwarten“ und ferner „für den Lebensunterhalt sorgen“. Damit wird klar, dass sich Wagner auf Beyer stützt, jedoch nicht auf die exakten Formulierungen. Wagner, Diakonie, Sp. 162. Arbeiter oder Diener. Über die Diakonie-Auffassungen des 20. Jahrhunderts 117 Zusammenhang werden sie jedoch als etwas Einzigartiges verstanden: als etwas Niedriges, und genau deshalb als etwas sehr Wertvolles. Hiermit wird klar, dass sich in Wagners Formulierungen eine theologische Überhöhung des Dienstbegriffs findet. Das christliche Helfen ist wertvoller als alles andere menschliche Hilfehandeln, weil es durch den christlichen Glauben motiviert ist und die Niedrigkeit des Dienens nach dem Vorbild Christi bewusst in Kauf nimmt, um ganz für den Nächsten da zu sein. Durch das Vorbild Christi und die daraus resultierende christliche Motivation wird die Niedrigkeit sozusagen geadelt. Zugleich wird eine niedrige, demütige, sich ganz für den Nächsten hingebende Haltung von den christlichen Helfern aber auch erwartet. Das Neue bei Wagner stammt ursprünglich aus dem obengenannten exegetischen Artikel von Beyer, der sich, wie gesagt, auf das Buch von Brandt stützt. 57 Dieser wiederum hat, wie auch bei John N. Collins nachzulesen ist, seinen Hintergrund im Diakonissenhaus Bethel und will seine „Verbundenheit mit Bethel nicht verschweigen“.58 Sehr wichtig ist das Dienen an sich, das richtige Dienen. Dabei handelt es sich um Gehorsam und um Lebenshingabe, die – so Wagner – ihr Urbild im Leben und Werk Jesu Christi sieht und in der Diakonie ihre Form als die allgemeine Dienstpflicht der Christen gefunden hat. 59 In der Alten Kirche habe sich Letztere realisiert in den Funktionen der Diakone und Diakonissen, sagt der Verfasser, und deutet damit an, dass die Situation in der Urgemeinde anders war. Er verfolgt die Geschichte der Diakonie durch Mittelalter, Reformationszeit und Pietismus (letzterer wurde in RGG1 und RGG2 nicht behandelt) und gibt auch Einblicke in die römisch-katholische und in die orthodoxe Kirche. In der historischen Präsentation steht die ideologisch gefärbte Position des Schreibers nicht mehr so stark im Vordergrund, lässt sich aber doch bemerken in der Unterscheidung zwischen den Gemeindegliedern einerseits und den Diakonen/Diakonissen andererseits.60 In der zweiten Hälfte seines Beitrags beschreibt Wagner die Lage der Diakonie seit Wichern und das ähnelt im Großen und Ganzen dem, was schon oben beschrieben wurde. Deshalb können wir uns hier auf die Angabe der wichtigsten im Artikel erwähnten Namen beschränken: Wichern, Fliedner, Kaiserswerth, Zimmer, dazu noch die mehrerer Schwesternschaften. Die zeilenmäßig umfassendste Behandlung erfährt die Kaiserswerther Diakonie, in deren Zusammenhang der Verfasser auch deren Grundsatz zitiert: „Diakonissen sind Dienerinnen des Herrn Jesus Christus und um seinetwillen Dienerinnen an den Hilfsbedürftigen aller Art und Dienerinnen untereinander“61. Die gegenwärtige Diakonie erweist laut Wagner „ihre Kirchlichkeit in ihrer biblischen Gründung, gottesdienstlichen Bindung und in ihrer 57 58 59 60 61 Siehe oben. Vgl. Brandt, Dienst, 3; ferner vgl. Collins, Diaconia, 254; ferner vgl. Hentschel, Diakonia, 21–22. Wagner, Diakonie, Sp. 162. Vgl. a.a.O., Sp. 162–164. A.a.O., Sp. 165. 118 Esko Ryökäs eschatologischen Ausrichtung“62, ebenfalls ein Zitat aus der Kaiserswerther Grundordnung. Damit ist auch das Verständnis über die damalige Lage der Diakonie an die exegetischen Argumente Beyers und Brandts gebunden, die in der Einleitung des vorliegenden Artikels dargestellt wurden. Der Beitrag von Wagner konzentriert sich auf einen persönlichen Dienst „in Liebe“. Es geht nicht um das Amt, sondern um die richtige Weise, diakonisch zu handeln. Diakonie an sich ist etwas Minderwertiges, aber als Dienst an Jesus Christus ist sie sehr wertvoll. Der Verfasser hebt eigentlich nur das richtige Motiv der Diakonie hervor, nicht die mögliche Bescheidenheit der Diener. In der Betonung des Geringgeachteten liegt jedoch auch einiges von Demut. Im Grunde sind sich Jannasch wie auch Wagner darin einig, was Diakonie und der richtige Dienst des Diakons und der Diakonisse bedeutet. Dieser Dienst ist eine wichtige Aufgabe, aber nur, weil es um eine von Jesus Christus übertragene Aufgabe geht. Die Dienstleistungen sind oft minderwertig, aber genau als solche sind sie wichtig. Das ist auch die Position, die von Brandt und Beyer beschrieben wurde. „Nichts von Werkgerechtigkeit oder frommem Stolz darf dem rechten christlichen Dienen anhaften“.63 Demut und Bescheidenheit werden in den Artikeln in RGG3 zwar nicht ausdrücklich beschrieben, in der Sache aber sind sie da. RGG4 über einen kirchlichen Dienst Die neueste Auflage des RGG von 199964 enthält zu unserem Gebiet fünf Schlagwörter auf zwölf Seiten. Neben den früheren Artikeln über den Amtsbegriff („Diakon/Diakonisse/Diakonat“) und die Sache selbst („Diakonie“) ist eine Analyse der eher institutionellen Seite („Diakonenhäuser/Diakonissenhäuser“, „Diakonisches Werk der EKD“) zu finden, wie auch als vom Inhalt her etwas ganz Neues – eine Übersicht über die „Diakoniewissenschaft“. Es gibt 17 separate Abschnitte von insgesamt 14 Autoren, die aber nicht alle für unsere Analyse wesentlich sind. Der erste Artikel zum ersten Schlagwort (Amtsbegriffe) hat sieben Abschnitte, und schon der erste von diesen über das Neue Testament enthält für die fragliche Auflage wirklich Neues. Schon einleitend weist die Verfasserin darauf hin, dass die drei Begriffe erst später eine Institutionalisierung erfuhren, weshalb man das Wort „Diakon" nicht als Übersetzung von griechisch διάκονος/diakonos verwenden sollte. Die heutige Situation sei von der im Neuen 62 63 64 A.a.O., Sp. 166. Beyer, diakoneoo, 86. Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Vierte, völlig neu bearbeitete Auflage. Herausgegeben von Hans Dieter Benz, Don S. Browning, Bernd Janowski, Eberhard Jüngel. Band 2, C–E. Tübingen 1999. Arbeiter oder Diener. Über die Diakonie-Auffassungen des 20. Jahrhunderts 119 Testament so weit entfernt, dass man nicht dieselben Ausdrücke benutzen sollte. 65 – Wir sehen hier die gleiche Motivierung, wie sie schon bei Wichern zu bemerken war. Die Argumentation stützt sich aber nicht auf deutsche Quellen. Die Verfasserin, die Amerikanerin Carolyn Osiek, gibt als Literatur zum Thema nur zwei Titel an: „La fonction diaconale aux origines de l’église“ von Jean Colson und „Diakonia. Re-interpreting the Ancient Sources“ von John N. Collins.66 Sie bezieht sich also nicht auf die wissenschaftliche Diskussion im deutschsprachigen Raum. Die Schreiberin unterscheidet drei verschiedene Bedeutungsbereiche, die sich häufig sogar überschneiden. Wie Collins schreibt auch Osiek, dass der Begriff „Diakonia“ ein neutraler Begriff sei, „der sich auf erbrachte Dienste bezieht […], unter Einschluss der offiziellen Vertretung oder Repräsentation einer bedeutenden Person“, und damit ist die erste Bedeutung eine ganz allgemeine. Das wäre nichts Besonderes im Vergleich mit RGG3, wenn nicht eine frühere Formulierung hinzugefügt würde. Osiek schreibt nämlich, dass der Begriff „zur Bez. eines Dieners oder Sklaven, eines bevollmächtigen Agenten oder Repräsentanten“ gemeint sein könne. Hier sehen wir das Neue: Ein Diakon hatte keine „gering geachtete“ Rolle, sondern unter Umständen eine wichtige Aufgabe im Namen einer ihn beauftragenden und bevollmächtigenden Person, und so ist es auch bei Collins.67 Die zweite Bedeutung des Wortes „Diakon“ knüpft an Jesus als Diener (diákonos) an, der seinen Jüngern ein Beispiel zur Nachahmung gibt. An dieser Stelle hätte Collins nicht von Diensten, sondern von Aufgabenerfüllung gesprochen.68 Bei ihm ist der Diakon kein Sklave, aber andererseits konnte ein Sklave (wie z.B. Onesimus) als Diakon bezeichnet werden. Im Weiteren folgt Osiek jedoch der von Collins erneuerten Auffassung: Sowohl Paulus als auch seine Mitarbeiter seien Diakone Gottes, d.h. Beauftragte, die den Glauben verkünden. Das Wort diakonia könne spezielle Verantwortungsbereiche signalisieren. Auch hier sehen wir also etwas Neues. Mit „Diakon“ können diejenigen Beauftragten Gottes bezeichnet werden, „die den Glauben bringen“. Obgleich wir schon bei Mahling in RGG2 den bei der Wortverkündigung tätigen Diakon gesehen haben, erhält das Wort „Diakonie“ bei Osiek im Vergleich mit den früheren Auflagen zum ersten Mal die Bedeutung „Ausbreitung des Evangeliums“69. Doch gebe es auch andere Bedeutungen. Die bei Osiek genannte dritte Bedeutung des Wortes kommt aus dem Leben der Ortsgemeinden, die einen Mitarbeiter mit dem Titel Diakonus kennen. Dieser habe eine etablierte Rolle gehabt; über seine Aufgaben wird aber Osiek zufolge im Neuen Testament 65 66 67 68 69 Carolyn Osiek, Diakon/Diakonisse/Diakonat, I. Neues Testament, in: RGG4, Sp. 783–784: 783. A.a.O., Sp. 784. A.a.O., Sp. 783; vgl. Collins, Diaconia, 194. A.a.O., Sp. 783; vgl. Collins, Diaconia, 252; ferner vgl. ders., Deacons and the church. Making connections between Old and New, Leomister u.a. 2002, 28–39, über Mk 10,45; ferner vgl. Hentschel Gemeinde, 185, über Mk 10, 45: „… der Menschensohn ist nämlich nicht gekommen, um [andere] für sich Aufträge ausführen zu lassen, sondern um einen Auftrag auszuführen“. Osiek, Diakon, Sp. 783. 120 Esko Ryökäs eigentlich nichts gesagt, nur über die nötigen Qualifikationen (1 Tim 3, 8–11). Das Wort könne sowohl Männer als auch Frauen bezeichnen. Auch zwischen Dienst und Amt sollte man, so Osiek, nicht zu scharf unterscheiden, weil zur Rolle des Diakons „beide Funktionen gehört haben werden“.70 Der Diakon bei Osiek ist etwas ganz anderes als in den früheren Auflagen des RGG. Es wird zwar noch von einem Dienst gesprochen, dieser aber ist nichts Minderwertiges mehr. Ein Unterschied zwischen einer eher charismatischen Bedeutung und einem wichtigeren Inhalt des Wortes wird nicht mehr gemacht, und eine Distinktion zwischen Dienst und Rolle wird sogar vermieden. Auch eine spezielle Berufung zum Dienst liegt fern. Mit dem Wort Diakon wird ein wichtiger Mitarbeiter der Gemeinde bezeichnet, der wichtige Leistungen erbringt, besonders im Bereich der Wortverkündigung. Über die Armenfürsorge wird nichts gesagt, außer in dem Hinweis, dass Apg 6, in diesem Kontext gewöhnlich zitiert, ausdrücklich nicht von der Armenfürsorge der Diakone spricht.71 Der Unterschied im Diakonieverständnis zwischen dem einführenden Artikel und den folgenden Darstellungen ist gravierend. De facto erwähnen die nachfolgenden Beiträge Collins' Position nicht einmal. So sieht z. B. die kirchengeschichtliche Entwicklung laut Ruth Albrecht den Diakon als Assistenten des Bischofs beim Gottesdienst, der darüber hinaus den Auftrag gehabt habe, die Versorgung der Armen wahrzunehmen. 72 Doch werden auch die anderen Aufgaben in der alten Kirche und durch die Kirchengeschichte hindurch erklärt, wie auch die Erneuerungsbestrebungen in der Armenpflege der Reformationszeit. Die Innere Mission und die großen Namen des 19. Jahrhunderts haben bei Albrecht ebenso ihren Platz wie die neuere Entwicklung, auch außerhalb der evangelischen Kirchen. Doch nimmt die Armenfürsorge in der historischen Analyse eine dominierende Stellung ein.73 In der dogmatischen Analyse der Wortgruppe sieht Martin Zentgraf das Diakonat als „Amt der helfenden Liebe“ der Kirche. Dieses steht nach den Worten des Verfassers gleichberechtigt und hierarchiefrei neben dem Amt der Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung. Weil die Grenzen zwischen Diakonat und Pfarramt fließend seien, sei es „eine situationsbezogen zu entscheidende Frage, ob und wie das diakonische Amt neben und mit dem Pfarramt […] zu ordnen ist“.74 Von der Gesamtkirche müsse jedoch auch die Einsegnung der Diakone, Diakoninnen und Diakonissen ausgehen, da durch diese „ein der Kirche aufgetragener Dienst geschieht“75. Dieser wiederum wird bei Zentgraf jedoch mit den traditionellen Formulierungen der Arbeitsfelder beschrieben. Damit arbeitet seine dogmatische Analyse mehr mit der Situation der heutigen Kirche als mit den von Osiek präsentierten Themen. 70 71 72 73 74 75 A.a.O., 784. Ebd. Ruth Albrecht, Diakon/Diakonisse/Diakonat, II. Kirchengeschichtlich, in: RGG4 II, Sp. 784–786: 784. A.a.O., Sp. 784–785. Martin Zentgraf, Diakon/Diakonisse/Diakonat, III. Dogmatisch, in: RGG4, Sp. 786–787: 786. A.a.O., Sp. 787. Arbeiter oder Diener. Über die Diakonie-Auffassungen des 20. Jahrhunderts 121 Dieselbe Perspektive wie bei Zentgraf scheint maßgebend auch für mehrere andere Artikel zu sein. Wenn Jochen-Christoph Kaiser über die Geschichte der Diakonie schreibt, bezeichnet er mit Diakonie „den Akt des Dienens bzw. Helfens […] sowie das damit verbundene Amt“. Der Begriff gelte oft als Synonym des Terminus „Innere Mission“, der aber eine spätere Neuschöpfung sei.76 Der Inhalt des Beitrages konzentriert sich – wie schon die Definition des Begriffes besagt – auf Armut und Not und hat damit eine historische Relevanz, die nicht mit dem Artikel von Osiek zusammenpasst. In den großen Linien gilt Ähnliches auch für die ausführliche praktisch-theologische Beschreibung von Michael Schibilsky, der ebenfalls die praktische Verwendung des Begriffs vom Inhalt herleitet.77 Eine eingehendere Analyse von RGG4 könnte mehr Details zeigen, ist aber in diesem Zusammenhang überflüssig. Die historische Entwicklung der kirchlichen Praxis wird umfassend behandelt, doch die theologischen Annahmen sind in etwa wie hier schon dargestellt. Alle anderen Autoren außer Osiek beschreiben die in Deutschland traditionelle Auffassung von der Diakonie und ihren Derivaten. Ihnen zufolge ist Diakonie eine kirchliche Handlungsform zugunsten der Armen und Notleidenden, und damit sieht man keine Probleme: So ist es gut. Auch die Dienste und Ämter sind in etwa so, wie sie sein sollten. Eine Analyse der Gedanken von Osiek oder Collins, wie sie aktuell z.B. Anni Hentschel zu den ekklesiologischen Fragen durchgeführt hat, liegt fern.78 Ergebnisse Wir haben in den verschiedene Auflagen des RGG vier Linien gesehen. In RGG1 war der Diakon ein Helfer für die Armen und Kranken und die Diakonie die Arbeit, die dazu beigetragen hat. In RGG2 ging es bei der Diakonie nicht um ein Amt, sondern um einen auf Erfahrung basierenden Dienst. Der Diakon war ein Diener der Kirche, doch nicht in der Kirchengemeinde tätig und auch nicht von Demut oder Bescheidenheit geprägt. Letzteres war dagegen typisch für einen Diakon im Sinne von RGG3, wo die Diakonie als minderwertiger Dienst angesehen wurde, aber gerade als solcher auch als etwas sehr Wichtiges. In RGG4 tritt die Demut nicht mehr in den Vordergrund und die Diakonie ist eher eine in der Gesamtkirche etablierte Arbeitsform. Wie bezüglich der Diakonie, so unterscheiden sich die Beiträge auch im Verständnis über den Diakon: Die exegetische Position in RGG4 versteht den Diakon als einen hochwertigen Mitarbeiter, ja sogar als einen der Gemeindeleiter, der auch in der Wortverkündigung aktiv ist. Die anderen Beiträge in RGG4 sehen ihn als Mitarbeiter/Hilfskraft in dem an sich wichtigen Liebesdienst der Kirche. 76 77 78 Jochen-Christoph Kaiser, Diakonie, I. Kirchengeschichtlich, in: RGG4, Sp. 792–794: 792. Michael Schibilsky, Diakonie, VI. Praktisch-theologisch, in: RGG4, Sp. 798–801. Hentschel, Gemeinde. 122 Esko Ryökäs Der Position des exegetischen Beitrags in RGG4 weicht von der der anderen ab, aber die Gedanken in den anderen Beiträgen dieser Auflage sind denen der ersten Auflage ziemlich ähnlich: Diakonie ist ein Handeln der Gesamtkirche. Genau genommen ist die vierte Auflage diejenige, in der am ausdrücklichsten von einem kirchlichen Amt gesprochen wird. Osieks Linie in RGG4 weist jedoch eine Gemeinsamkeit auf mit dem Beitrag von Mahling in der zweiten Auflage: die Wortverkündigung. Die anderen Linien in RGG4 haben mehreres mit RGG3 gemeinsam: Diakonie ist eine an sich wichtige Arbeitsform, obgleich die Aufgaben nicht als sehr wichtig erscheinen. RGG2 und RGG3 haben dagegen darin etwas Gemeinsames, dass auf die eine oder andere Weise die christliche Dimension der Arbeit deutlich wird, entweder als Erfahrung oder als innere Überzeugung. Inzwischen sollte klar geworden sein, dass die Vermutung von Collins zu stimmen scheint, dass nämlich der Dienst des Diakons und der Diakonisse in der deutschen Diskussion als ein niedriger Dienst angesehen wird und von den Gläubigen auch bewusst als ein solcher akzeptiert wird. Von daher ist er mit Demut und Bescheidenheit verbunden. Das wurde in der dritten Auflage des RGG in die Diskussion eingebracht, d.h. nach dem Beitrag von Beyer, der auch in der fraglichen RGG-Auflage aufgegriffen wurde.79 So ist es durchaus möglich, dass gerade der Artikel von Beyer für diese Seite des diakonischen Denkens eine wichtige Rolle gespielt hat. Außerdem sehen wir hier, dass es zwei verschiedene Dimensionen gibt. Einerseits aktualisiert sich die Frage des speziell christlichen Charakters der Diakonie, andererseits die Frage, ob das, was ein Diakon tut, minderwertiger ist als das, was andere tun. 80 Im Grunde ist erstere verbunden mit der Frage, ob es überhaupt ein spezifisch christliches Hilfehandeln gibt und ob es sich, wenn es sich so verhält, durch eine bestimmte Gesinnung (Demut, Liebe motiviert durch die Liebe Gottes, völlige Hingabe an den Nächsten im Gegenüber zu anders motiviertem Hilfehandeln) auszeichnet. Die nächste Frage lautet dann: Unterscheidet sich christliches Hilfehandeln von anderem allgemeinmenschlichem Helfen? Unabhängig davon, ob es auf diese Frage eine dogmatische Antwort gibt oder nicht, lautet die Antwort in unserer heutigen Gesellschaft in jedem Fall anders als vor 50 Jahren, weil es heute möglicherweise so ist, dass Helfen nicht mehr als minderwertig angesehen wird. Geht es beim zweiten Aspekt nun gleichzeitig um die Zuordnung zu den (anderen) kirchlichen Ämtern, etwa im Sinne des dreigliedrigen Amtes: d.h. um die Zuordnung von Wortamt und (untergeordnetem) Dienstamt? Die auf exegetischer Forschung basierenden Ergebnisse in RGG4 bekommen hier arbeitsmarktpolitische Dimensionen. 79 80 Das wurde oben in der Fußnote 39 diskutiert. Eigentlich können wir noch fragen: Weil die Christen nach dem Vorbild Christi ganz bewusst und freiwillig und voller Selbstaufopferung diesen Dienst annehmen und ausführen, sind sie dann nicht die „besseren“ Diener? Wer sind die „anderen“? Die nichtchristlichen Helfer? – Ich bedanke mich herzlich bei Anni Hentschel für wichtige Kommentare, auch an dieser Stelle. Arbeiter oder Diener. Über die Diakonie-Auffassungen des 20. Jahrhunderts 123 Dass es gerade auf diese Weise verschiedene Positionen gibt, ist nicht sehr überraschend: Auch in den nordischen Ländern Schweden und Finnland kennt man verschiedene Auffassungen von Diakonie, die jedoch über die Landesgrenzen hinweg einander ähnlich sind. Auch hier stellen sich die wichtigen Fragen nach den Dimensionen der Christlichkeit der Diakonie und deren Position im Vergleich zu anderen Mitarbeitern bzw. Arbeitern im Bereich Hilfeleistung.81 Warum gibt es so viele Linien, wenn man sagt, die Diakonie basiere auf dem Neuen Testament? Die Historiker werden sagen: Jede Zeit hat ihre eigene für sie typische und passende Auffassung. Gleich ob das stimmt oder nicht, man darf es nicht als Relativierung aller dogmatischen und exegetischen Ergebnisse sehen. Es kann auch andere Motive geben. Eine Antwort konnte ich sehen, als ich die Quellen der Argumentation zu Theodor Fliedner analysierte.82 Nur eines von vier Argumenten war korrekt. Fliedner wollte den Dienst des Diakons und der Diakonisse wahrscheinlich auf eine bestimmte Weise sehen und versuchte dann, dafür Argumente zu liefern. Das wird von Hauschild beschrieben: Zuerst steht das Ergebnis fest und erst danach werden die Argumente entwickelt. 83 Und diese wird vielleicht nicht von den Ergebnissen der Analyse bestimmt, sondern eher von persönlichen Elementen, also von etwas, was auch schon oben angesprochen wurde, als von dem einflussreichen Buch von Brandt die Rede war. Für die heutige Diskussion schafft das ein neues Problem: Es ist schwierig zu erfahren, worum es eigentlich geht. Wenn man die Diakonie liebt und sie als wichtig begreift, ist es nicht leicht hören zu müssen, dass ein Verständnis der Rolle des Diakons als Helfer exegetisch nicht begründet werden kann. Das führt leicht dazu, dass man die Kritik an der exegetischen Argumentation als Kritik an der Substanz des Glaubens versteht. Es ist jedoch möglich zu sagen: Glaube und Liebe gehören zusammen, müssen aber nicht mit dem Namen „Diakonie“ bezeichnet werden. Und ebenso: Die heutige Arbeitsform darf Diakonie heißen und auch ruhig als Diakonie weiterleben. Wir müssen also auf die gleiche Weise argumentieren wie Wichern oder Wilhelm Löhe: Der mit „Diakonie“ bezeichnete Dienst von heute ist etwas ganz anderes 81 82 83 Vgl. Schweden: Anders Bäckström, För att Tjäna. En studie av diakoniuppfattningar hos kyrkliga befattningshavare (Svenska kyrkans utredningar 1994: 1), Uppsala 1994; vgl. Finnland: Esko Ryökäs, Diakonianäkemyksemme. Tutkimus eri diakonianäkemysten esiintymisestä diakonian viranhaltijoiden, teologien ja luottamushenkilöiden keskuudessa vuonna 1989 (Kirkon tutkimuskeskuksen julkaisuja B, 62), Tampere, 1990; ein Vergleich zwischen Schweden und Finnland: Esko Ryökäs, Zum Verständnis von Diakonie in Finnland und Schweden – eine religionssoziologische Perspektive, in: Theodor Strohm (Hg.), Diakonie an der Schwelle zum neuen Jahrtausend (Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts an der Universität Heidelberg 12), Heidelberg 2000, 452–459. Esko Ryökäs, Zur Begründung der Diakonie bei Theodor Fliedner, in: Christian Oelschlägel (Hg.), Diakonische Einblicke (DWI-Jahrbuch 41), Heidelberg 2011, 49–71. Hauschild, Was, 309: „Die biblische Verwendung der Rede von diakonia und diakonos wurde [im Jahr 1856] erst dann bedeutsam, als es darum ging, die erfolgte Ausgestaltung des Amtes der Diakonissen und Diakone zu legitimieren“. 124 Esko Ryökäs als die Rolle des Diakons in der neutestamentlichen Zeit.84 Wir müssen weder die seit dem 19. Jahrhundert üblicherweise herangezogenen biblischen Elemente noch die Argumentationen von Beyer und Brandt zwingend dem Amt des Diakons zuordnen. Dr. Esko Ryökäs ist Senior Lecturer an der School of Theology der University of Eastern Finland in Joensuu. 84 Vgl. Johann Hinrich Wichern, Diakonen- und Diakonissenhäuser, in: Real-Encyklopädie für protestantische Theologie und Kirche. Hrsg. Dr. Herzog. Dritter Band. Rudolf Besser, Stuttgart und Hamburg 1855, 369– 384: 370: „Es mag dabei nicht verhehlt werden, dass die Berechtigung des Namens [Diakon, Diakonisse] mit Grund zu bezweifeln ist […]“, „Der Name Brüderhäuser statt der Diakonenanstalten ist übrigens wirklich der gebräuchlichere […]“; vgl. Wilhelm Löhe, Gesammelte Werke, Vierter Band: II Für die Diakonissen, Von der Barmherzigkeit, Siebentes Kapitel, Neuendettelsau 1962, 519: „Wir reden hier […] nicht von der Diakonissin überhaupt, sondern von der des 19. Jahrhunderts. […] so müssen wir doch auch andererseits bekennen, dass die Diakonissin des 19. Jahrhunderts eine andere ist als die der alten Kirche“; siehe auch oben: von Dungern, Diakonen, Sp. 7. Armutsbekämpfung durch Kirchen auf dem Land Protokoll einer Erkundungsstudie. Ein Bericht aus den Niederlanden Herman Noordegraaf Die landesweit vertretenen Kirchen in den Niederlanden untersuchen regelmäßig die Rolle der Ortskirchen bei der Unterstützung von Menschen, die in finanzielle Probleme geraten sind. 1 Vor allem wenn es um eine dauerhafte Situation geht, in der Menschen am oder unter dem sozialen Minimum leben, ist von Armut die Rede. Dabei gab es das Bedürfnis, mehr Einblick darin zu bekommen, was Kirchen in ländlichen Gegenden mit viel Armut tun, um die Armut vor Ort zu bekämpfen, weil bisherige Studien das zu wenig herausstellten. Was die Zahlen betrifft, ist Armut vor allem ein (groß)städtisches Problem. Deshalb fand 2010 unter der Leitung des Autors dieses Artikels eine Studie unter Kirchen in einigen ländlichen Gemeinden der Niederlande statt. In diesem Beitrag stellen wir die wichtigsten Feststellungen vor.2 Ansatz und Methoden der Studie Von Februar bis Mai 2010 wurden in fünfzehn Kommunen Interviews mit Vertretern der örtlichen Kirchen durchgeführt, die mit der diakonischen und karitativen Arbeit zu tun haben. In Bezug auf den kirchlichen Hintergrund ging es hierbei um die folgenden Glaubensgemeinschaften: Protestantische Kirche in den Niederlanden (6x), RömischKatholische Kirche (6x), kleinere orthodox-kalvinistische Kirchen (2x), evangelikale Kirche (1x). Für die Auswahl der zu interviewenden Kirchen waren auf Grund von offiziellen statistischen Daten über die räumliche Verbreitung von Armut diejenigen Kommunen in die Studie aufgenommen worden, in denen es relativ viel Armut gibt. Dabei wurde darauf geachtet, dass diese über die ganzen Niederlande verstreut waren.3 Die Interviews bezogen sich hierbei auf folgende Schwerpunkte: die Aktivitäten im Allgemeinen und in Bezug auf materielle Not im Besonderen; die Zusammenarbeit mit anderen Akteuren außerhalb der eigenen Kirche, mit der Kommune und sozialen Organisationen, der Tafel und mit Gruppen, Organen und 1 2 3 Eine Übersicht siehe: Herman Noordegraaf, Aid under protest? Churches in the Netherlands and Material Aid to the Poor, in: Diaconia. Journal for the Study of Christian Social Practice, Volume 1, Issue 1, 47–61. Einen ausführlicheren Bericht über die Studien ist zu finden in: Herman Noordegraaf, Kerken in plattelandsgebieden en armoede in Nederland. Een verkennend onderzoek, Utrecht 2010. Siehe: Centraal Bureau voor de Statistiek, Lage inkomens, kans op armoede en uitsluiting 2009, Den Haag/Heerlen 2009. 126 Herman Noordegraaf Personen innerhalb der eigenen Kirche; andere Aktivitäten; Entwicklung des Bewusstseins. Wir versuchten so einen Einblick zu bekommen, was örtliche Kirchen auf dem Gebiet der Armutsbekämpfung tun, wie das ins Ganze der Aktivitäten und in die Kooperationsbeziehungen eingebettet ist und ob die Kirchen an der Sensibilisierung für Armut und Arme arbeiten. Letzteres ist von Bedeutung, weil das in der kirchlichen AntiArmutsbewegung als wesentlich gesehen wird - politische und andere Maßnahmen erfordern schließlich ein Bewusstsein und eine Anerkennung der Armutsproblematik. Ausdrücklich muss man dazu sagen, dass die Studie natürlich nicht repräsentativ sein wollte. Dafür ist die Anzahl der ausgewählten Kommunen zu beschränkt. Diese Erkundungsstudie bietet erste Einblicke und soll die kirchliche Politik in ländlichen Räumen zum Weiterdenken anregen. Im Weiteren geben wir die Ergebnisse der Studien in groben Zügen wieder, um danach mit einer Schlussbemerkung zu enden. Ergebnisse der Studie A) Aktivitäten Was die Aktivitäten betrifft, die sich an Menschen in materieller Not richten, begegnen wir einer Reihe von Aktivitäten. Wir nennen die wichtigsten: Materielle Hilfeleistungen Praktisch alle Respondenten geben an, dass sie in irgendeiner Weise materielle Hilfe leisten. Nur in einem einzigen Fall gibt es das fast gar nicht. Meistens geht es um finanzielle Hilfeleistungen. Manchmal betrifft die Hilfeleistung spezielle Dinge, wie das Bezahlen einer Reise nach Lourdes oder die Finanzierung der Bestattung einer alten polnischen Frau. Außerdem werden zum Beispiel auch das Beschaffen von Gutscheinen für den Metzger genannt, das Sammeln von Kinderkleidung, das Organisieren einer Tauschbörse oder eine Warenaktion. Mehr als einmal wird dabei angegeben, dass es um eine beschränkte Anzahl von Anfragen geht. Praktische Hilfeleistung Häufig in Kombination mit materieller Hilfeleistung wird praktische Hilfe geboten, „Hand- und Spanndienste“ wie das Helfen beim Einrichten einer Wohnung, das Beschaffen einer Armutsbekämpfung durch Kirchen auf dem Land 127 vorübergehenden Wohnung, das Organisieren eines Transports (zum Beispiel für einen Krankenhausbesuch), Hilfe beim Ausfüllen von Formularen, bei der Kinderbetreuung, dem Abschluss einer günstigen Versicherung, der Begleitung von Menschen zu Behörden. Einmal wird auch die Schuldnerberatung genannt, es ging um die Begleitung zu einer professionellen Schuldnerberatung. Ein anderes Mal ging es um die Übernahme eines Kredits. Flüchtlinge/Asylbewerber In sechs Fällen werden als spezielle Zielgruppe Flüchtlinge und Asylbewerber genannt. Es geht dann um finanzielle Hilfe bzw. praktische Unterstützung, wie das langfristige Bezahlen verschiedener Kosten einer Flüchtlingsfamilie, die finanzielle Unterstützung für einen Kitabesuch der Kinder, den Unterhalt einer Familie, die von den Behörden keine Hilfe mehr bekam und die Unterstützung bei der Eingliederung in die niederländische Gesellschaft. Weihnachtspakete In vielen Glaubensgemeinschaften ist es Tradition, zu Weihnachten etwas zu tun oder zu organisieren. Vor allem die Verteilung von Weihnachtspaketen ist üblich. Oft geschieht das unter Gemeindemitgliedern, die eine bestimmte Altersgrenze überschritten haben, aber immer häufiger teilen die Kirchen im Dezember auch Weihnachtspakete an Menschen außerhalb der eigenen Glaubensgemeinschaft aus, von denen sie wissen, dass sie ein Extra gebrauchen können. Andere Aktivitäten Einige Male werden weitere Aktivitäten genannt, die (auch) für Einkommensschwache bestimmt sind: Die Organisation einer Gruppe, die gemeinsam Mahlzeiten zubereitet und isst. Das wird drei Mal genannt, wobei einmal dazu gesagt wird, dass diese Aktivität aus Mangel an Interesse wieder eingestellt wurde. Information über gesetzliche Regelungen. Einmal wird genannt, dass im Gemeindeblatt über die Politik in Bezug auf Einkommensschwache der Kommune berichtet wurde. Einmal finden wir auch die Organisation von Ferienwochen. Die Landeskirchen fördern diese für Senioren und Behinderte. Ortskirchen können davon Gebrauch machen. Eine Erwähnung wert ist die Aktivität „Urlaub extra“, die einmal genannt wird. Diese bekommen Einkommensschwache im Mai. Es ist eine finanzielle Zuwendung, die die Kirche in Absprache mit der Abteilung Soziales denjenigen zur Verfügung stellt, die aus Mangel an finanziellen Mitteln nicht in Urlaub fahren können. Es ist ein kleines Extra und es geht nicht um große Beträge. Dass es diese Regelung gibt, wird von Haus zu Haus im Dorf bekannt gemacht. Eine ähnliche Initiative finden wir in einem anderen Dorf, in dem 128 Herman Noordegraaf Einkommensschwache kurz vor den Sommerferien einen finanziellen Beitrag bekommen. B) Erreichen wir die Menschen? In fast allen Interviews wurde die Frage gestellt, ob Menschen in materieller Not eigentlich von der Kirche „gefunden“ werden und ob es schlimm wäre, wenn das nicht oder nur beschränkt der Fall wäre. Dabei kristallisieren sich in den Antworten einige Haltungen heraus: Die Frage ist von geringer Bedeutung: Armut kommt bei uns nicht vor. Das entspricht allerdings nicht den Tatsachen über die Anzahl der Menschen, die am Existenzminimum leben. Deshalb hat diese Antwort eher etwas mit dem Mangel von kirchlicher Aufmerksamkeit für die Armutsproblematik zu tun. Als Kirche erreichen wir die Menschen mit materieller Not nur teilweise, aber dafür ist es so, dass in unserem Dorf oder in unserer Kirche sich die Menschen füreinander interessieren und spontan praktische Hilfe oder Geld zur Unterstützung anbieten. Da wir in einer Dorfgemeinschaft leben, kennen wir einander und wissen als Kirche, wenn es Not gibt. Dabei ist es förderlich, wenn die Leute in der Kirchengemeinde, die sich mit der Hilfeleistung befassen, im Dorf bekannt sind. Als Beispiele werden eine ehemalige Fürsorgeschwester, ein Polizist, ein Mitarbeiter der Postbank, Aktive im Vereinsleben und andere genannt. Ein Problem ist schon, dass es auch stille Arme gibt. Gerade in einer dörflichen Gesellschaft, wo man einander kennt, können Menschen aus Scham, Stolz oder weil sie nicht von Bekannten abhängig sein wollen, ihre Situation verbergen. Manchmal herrscht auch die Meinung, dass man erst einmal selber versuchen muss seine Probleme zu lösen. Wir wollten gern, aber wir wissen nicht oder kaum, wie. Es gelingt nicht die Menschen zu erreichen. C) Ein weit verzweigtes internes Netzwerk Aus den Reaktionen geht hervor, dass Kirchen über ein weit verzweigtes Netzwerk und ein Angebot von Aktivitäten verfügen, wodurch (aktive) Gemeindemitglieder erreicht werden, z. B. um die Gottesdienste herum, bei Besuchsdiensten, Gesprächsgruppen und so weiter. Dennoch stellt sich heraus, dass dieses Potenzial, Menschen zu erreichen, nur teilweise genutzt wird, weil es keine oder unzureichende Vereinbarungen über das Bemerken von materieller Not und das Weitergeben dieser Information an diejenigen in der Gemeinde gibt, die sich mit materiellen und sozialen Nöten beschäftigen. Manchmal haben Pfarrer und Kirchenälteste keine Antenne Armutsbekämpfung durch Kirchen auf dem Land 129 dafür, weil sie meinen, dass es in der Kirche doch vor allem um geistliche Angelegenheiten geht. D) Zusammenarbeit mit anderen Kirchen und kirchlichen Organisationen Bezog sich der eben genannte Punkt auf die Zusammenarbeit innerhalb der Kirche zwischen verschiedenen Gruppen, Organen und Personen, kommt jetzt die Frage, ob es in Bezug auf die Armutsbekämpfung auch eine Zusammenarbeit mit anderen Kirchen und kirchlichen Organisationen gibt. In sieben Fällen gibt es offensichtlich keine Zusammenarbeit im Rahmen der Armutsbekämpfung. In acht Fällen gibt es diese schon. Dabei kann man unterscheiden zwischen Zusammenarbeit bei Einzelaktionen und breiteren Formen der Zusammenarbeit. So wird drei Mal angeführt, dass es Zusammenarbeit gibt, wenn es um die Weihnachtspaketaktion oder die Organisation einer Weihnachtsfeier geht. Breitere Formen der Zusammenarbeit findet man beispielsweise in einer gemeinsamen Herangehensweise an die Arbeit für Einkommensschwache in einer Plattform. E) Beziehungen zur Kommune und sozialen Organisationen Es fällt auf, dass die Beziehungen zur Kommune und zu sozialen Organisationen größtenteils nicht strukturell sind. Sie laufen über informelle Kontakte oder man sucht Kontakt, wenn infolge einer konkreten Frage um Unterstützung der Bedarf dazu besteht. Die Kontakte mit der Kommune, dem Sozialamt und der Sozialarbeit werden am häufigsten genannt. Manchmal genannt werden Wohnungsbaugesellschaften, Versorgungsbetriebe, Pflegedienste, Seniorenfürsorge und die christdemokratische Partei. F) Tafeln In den ganzen Niederlanden gibt es Tafeln. Es gibt keine Region, in der es keine Tafel gibt. Kirchen sind hier einbezogen über Ehrenamtliche, finanzielle und materielle Unterstützung, die Zurverfügungstellung von Räumen, in der Organisation, über gegenseitige Verweisungen, usw. Wie sieht das bei unseren Respondenten aus? Acht Respondenten geben an, dass es auf irgendeine Weise eine Beziehung mit der Tafel gibt. Genannt werden: Die Mitarbeit von Gemeindemitgliedern als Ehrenamtliche. 130 Herman Noordegraaf Die Zurverfügungstellung eines Raumes als Ausgabestelle. Finanzielle und materielle Unterstützung durch die Kirche, bzw. über Aktionen unter Gemeindemitgliedern wie das Sammeln von Lebensmitteln oder das Finden von Sponsoren in der Wirtschaft. Vereinbarungen, dass man auf Wunsch aufeinander verweist. Gelegentliche Zusammenarbeit, z. B. bei der Weihnachtspaketaktion. Ein Sitz der Kirche im Vorstand der Tafel. G) Entwicklung des Bewusstseins Entwickeln die Glaubensgemeinschaften gezielt das Bewusstsein für die Nöte, die es gibt? Im Prinzip steht hier eine ganze Reihe von Möglichkeiten zur Verfügung, wie das Gemeindeblatt, die Website, der Gottesdienst, Gemeindeabende, Erfahrungen in der diakonischen Arbeit, die Katechese, die Bildungsarbeit und so weiter. Aus den Reaktionen geht eine Dreiteilung hervor: Kirchen, die strukturell dieses Bewusstsein entwickeln, die, die es in gewisser Weise tun, und die, die es nicht tun und sich oft auch dessen nicht bewusst sind, dass das eine Aufgabe der Kirche sein könnte. Fast die Hälfte der Respondenten gibt an, dieses Bewusstsein nicht oder kaum zu entwickeln (7). Die Zahl derer, die das in gewisser Weise tun, beträgt 4. Eine Minderheit (4) arbeitet ganz bewusst daran, z. B. durch Veröffentlichungen im Gemeindeblatt, den Zweck der Kollekte im Gottesdienst, der erläutert wird, die Organisation eines Diakoniesonntags oder eines Gemeindeabends. Schlussbemerkung: Die wichtigsten Ergebnisse Wir können die Hauptlinien der Ergebnisse folgendermaßen zusammenfassen. Zuerst fällt die Verfügbarkeit auf. Praktisch alle Respondenten geben an, dass sie einspringen, wenn Menschen in materiellen Problemen um Hilfe bitten. Diese Verfügbarkeit läuft von „ansprechbar sein“ bis „aktiv danach suchen“. Diese Verfügbarkeit äußert sich nicht nur in materieller Hilfeleistung, sondern in einer Vielfalt kleiner Aktivitäten, wobei praktische Hilfeleistungen und das Verteilen von Weihnachtspaketen vor allem genannt werden müssen. Ein weiterer Punkt, der auffällt, ist, dass wegen des kleinen Umfangs vieles informell verläuft. Man kennt sich, und das wird noch verstärkt, wenn Menschen aus der Gemeinde auch anderweitig eine Schlüsselposition im Dorf einnehmen. In der Hilfe geht es auch um eine beschränkte Anzahl von Menschen. Das kann mit der geringen Anzahl von Menschen mit finanziellen Problemen im Dorf oder mit der gegenseitigen Armutsbekämpfung durch Kirchen auf dem Land 131 informellen Hilfe zusammenhängen. Von verschiedenen Respondenten wird dabei übrigens angegeben, dass die Frage „Wie finden wir die Menschen?“ von Bedeutung ist. Ist es einerseits so, dass Menschen einander kennen und deshalb wissen, dass es Probleme gibt, kann dies andererseits für die Menschen ein Grund sein, aus Scham oder Stolz nicht um Hilfe zu bitten und es umso stärker zu verbergen: stille Armut. Man muss die Frage stellen, ob nicht gerade in einer dörflichen Gesellschaft stille Armut auftritt. Was weiter auffällt, ist, dass Kirchen vor allem in ihrem internen Netzwerk funktionieren und dass strukturelle Zusammenarbeit mit anderen Kirchen, der Kommune und sozialen Organisationen nur beschränkt vorkommt. Das kann so sein, weil die Kirche das selber nicht möchte, aber auch, weil die Kommune oder die sozialen Organisationen in diesen Dingen auf Distanz gehen. Was die Funktion als internes Netzwerk betrifft, muss man bemerken, dass die organisatorische Gestaltung und die Aufgabenverteilungen innerhalb der Kirche dazu führen können, dass das Bemerken von materiellen Nöten außerhalb des Einzugsbereichs der Diakonie oder Caritas nicht selbstverständlich ist. Es erfordert zielbewusste Aufmerksamkeit, wenn man in der Kirche die Trennung der verschiedenen Bereiche aufheben will! Spezielle Aufmerksamkeit wurde der Beziehung zu den Tafeln gewidmet. Eine kleine Mehrheit der Respondenten gab an, dass es auf irgendeine Weise eine Beziehung zur Tafel gibt. Das geht von einer gelegentlichen bis zu einer dauerhaften Zusammenarbeit, die z.B. aus Verweisungen, finanzieller Unterstützung, der Teilnahme von Ehrenamtlichen, der Mitarbeit im Vorstand und der Zurverfügungstellung von Räumen besteht. Die strukturelle Entwicklung des Bewusstseins (welche Nöte gibt es, welchen Hintergrund haben die und was kann man da machen?) geschieht in einer Minderheit der Kirchen. Die Gründe für diese Zurückhaltung sind nicht klar: Sieht man das nicht als Aufgabe der Kirche? Hat man Angst sich damit auf das Gebiet der Politik zu begeben? Findet man sich selber nicht kompetent genug? Sind nun auf Grund des Obenstehenden bestimmte Empfehlungen für Kirchen zu formulieren, die ihre Politik und ihre Aktivitäten in Bezug auf die Armut vor Ort verbessern wollen? Natürlich müssen immer wieder auch die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten in der eigenen lokalen Situation berücksichtigt werden. Wichtig ist, dass man mit den Möglichkeiten, die es gibt, bewusst umgeht, und dass man neue Möglichkeiten schafft. Im ersten Fall ist an das Nutzen von Netzwerken zu denken, die die Kirchen haben, sowohl informell als auch formell. Das kann dazu beitragen, dass man innerhalb der Kirche als Ganzes (als Pastoren, Kirchenälteste, Ehrenamtliche im Besuchsdienst) gegenüber materiellen Nöten aufmerksam ist, diese feststellt und mit den Organen und Leuten bespricht, die sich mit materiellen und sozialen Nöten beschäftigen. 132 Herman Noordegraaf Ein zweiter Punkt betrifft die Bereitschaft, sich an Netzwerken zu beteiligen, mit anderen Kirchen, mit den Kommunen und anderen Organisationen. Ein dritter Punkt ist die Arbeit am Bewusstsein. In erster Linie geht es da um die Bereitschaft, denn man kann vieles mit relativ wenig Aufwand verwirklichen: Ankündigungen bei diesbezüglichen Kollekten, Gebete für Menschen in materieller Not, kurze Erläuterungen im Gemeindeblatt, Anregung zur Teilnahme an karitativen Aktivitäten wie der Tafel. In Anbetracht der wichtigen Rolle des Pfarrers im kirchlichen Leben ist es wichtig, dass dieser die Bedeutung des Themas Armut betont und bei der Gestaltung mithilft und Initiativen unterstützt. Andere Aktivitäten erfordern mehr Einsatz und Zeit, wie die Organisation eines Kurses oder spezieller Zusammenkünfte. Dr. Herman Noordegraaf ist Professor für Diakoniewissenschaft an der Protestantischen Theologischen Universität Amsterdam/Groningen, Niederlande. 2. Diakoniewissenschaftliche Dissertationen (2012–2013) Qualitätsmanagement konfessioneller Krankenhäuser aus Stakeholderperspektiven Ulrich Borne Die Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt, das Qualitätsmanagement in konfessionellen Krankenhäusern als das zentrale Element betriebswirtschaftlicher Steuerung unter den Wettbewerbsbedingungen des Gesundheitssektors theoretisch zu erörtern und empirisch auf seine Ergebnisse hin zu befragen. Im Gefolge der politisch gewollten Umstellung vom Versorgungsprinzip auf einen regulierten Wettbewerb ist besonders im Gesundheitswesen aus einem administrativ geregelten Sozialbereich ein sozialwirtschaftlicher Markt entstanden, auf dem u.a. öffentliche, kirchlich-konfessionelle und andere wertbasierte Krankenhäuser mit einer zunehmenden Zahl von privat-gewerblichen Einrichtungen ihre Leistungen anbieten, um Patienten und Kassen(ärzte) zu gewinnen bzw. an sich zu binden. Die fortbestehenden Kostendämpfungsmaßnahmen bis hin zur Budgetierung zwingen zudem die Krankenhäuser zu einer radikalen Rationalisierung der Leistungen und des Personaleinsatzes, die bisher einschlägige Wertorientierungen zu neutralisieren scheinen und religiöse Kommunikationen zu überflüssigen Kostentreibern machen. Das Qualitätsmanagement, das in der gewerblichen Wirtschaft als Garantie nachhaltiger Verbesserung der Produkte entwickelt wurde, wurde im sozialen Dienstleistungsbereich deshalb so zentral, weil es erlaubt, neben den leicht messbaren Erfolgen auch die sog. weichen Faktoren der Dienstleistungen als bewertbare Faktoren intern und extern zu kommunizieren und so als Angebotsvorteile zu verdeutlichen. Die Studie beschäftigt sich mit dem Krankenhaus in konfessioneller Trägerschaft als Unternehmen. Sie betrachtet dabei das Spannungsfeld zwischen diakonischem Anspruch und Effizienz, in dem sich die Häuser befinden. Aus dieser Situation leitet sich die Notwendigkeit eines werteorientierten Qualitätsmanagements ab. Die Arbeit erschließt anhand qualitativer und quantitativer Methoden Perspektiven ausgewählter Stakeholder. Dabei geht sie der Frage nach, wie den Einrichtungen die Umsetzung eines werteorientierten Qualitätsmanagements gelingt und wie Anspruchsgruppen diese Umsetzung wahrnehmen. Die wesentlichen Erträge der Studie werden in einem abschließenden Kapitel „Fazit und Ausblick“ zusammengefasst. Betriebswirtschaftliche und christlich-ethische Perspektiven, ihre Beziehungsklärung und ihre Integration in den Aufbau eines werteorientierten Qualitätsmanagements im Krankenhaus christlicher Prägung können innovative Prozesse im Unternehmen in Gang setzen. Als Ergebnis bietet die Untersuchung abschließend Thesen, die einer weiterführenden Diskussion zur Entwicklung von werteorientiertem Qualitätsmanagement in konfessionellen Krankenhäusern dienen können. Das diakonische Verständnis in der Pflege im Wandel der Zeit Zenobia Frosch Die Dissertation hat die enge Verbindung zwischen Diakonie und Krankenpflege zum Thema. Sie gibt zunächst einen Überblick über die Geschichte der Pflege sowie der Diakonie in der Krankenpflege. Dabei behandelt sie die verschiedenen Selbst- und Menschenbilder, die in ihr nebeneinander konkurrieren und sich im Laufe der Zeit verändert haben, um deren Grundlagen herauszuarbeiten. Das ist die Basis für die Bildung von Hypothesen, die in der Untersuchung verfolgt werden. Eine dieser Hypothesen ist, dass das Menschenbild einer Pflegeperson signifikante Auswirkungen auf die Art und Weise hat, wie Pflege als Beruf verstanden wird. Eine weitere Annahme ist, dass es einen spezifischen Ansatz der Pflege gibt, der mit dem Grundgedanken der Diakonie, der tätigen Nächstenliebe, eng verbunden ist, und dass ein bestimmtes Menschenbild die Diakonie motiviert und die Grundlage für eine diakonische Pflege bildet. Dieses diakonisch-christliche Menschenbild steht für einen fürsorglichen, umgänglichen und sorgsamen Umgang mit den Patienten. Der zweite Teil besteht in einer prospektiven Studie. Ausgehend von den erarbeiteten Hypothesen wurde ein Fragebogen entwickelt, mit dem die Pflegemitarbeiter des Klinikums befragt wurden. Diese Untersuchung ist eine vergleichende Interviewstudie, die quantitativ und qualitativ angelegt ist. Als Ergebnis kann festgestellt werden, dass das Menschenbild und seine Umsetzung in der praktischen Arbeit von diesen Rahmenbedingungen, aber auch von einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung beeinflusst werden. Das diakonische Menschenbild ist bei Mitarbeitern aller Gruppen noch spürbar, freilich mit abnehmender Tendenz. Dabei zeigt sich, dass sich die Arbeitsbedingungen in der Pflege in den letzten Jahren aus Sicht der Mitarbeiter deutlich verändert, d.h. verschlechtert haben. Visionen und Chancen für eine adäquate Weiterentwicklung der Pflege bieten sich im Management, in der Entwicklung, Reaktivierung und vor allem Implementierung eines Wertesystems, ferner in der Festlegung neuer Handlungsrahmen und in der Reform der Ausbildung hin zu einer akademischen Ausbildung. Leben in zwei Welten Die amerikanische Diakonissenbewegung und ihre deutschen Wurzeln Margit Herfarth Im Frühjahr 1849 bestiegen vier Kaiserswerther Diakonissen gemeinsam mit Theodor Fliedner, dem Vorsteher der Kaiserswerther Diakonissenanstalt, das amerikanische Postdampfschiff „Washington“. Ziel der Reise war die Industriestadt Pittsburgh in Pennsylvania, wo die vier Schwestern ein Kranken-und Mutterhaus nach Kaiserswerther Vorbild begründen sollten. Trotz des kläglichen Scheiterns dieses Vorhabens lebte die Idee Fliedners in den USA weiter. Wenn auch die amerikanische Diakonissenarbeit bei weitem nie an den Umfang, die lange Dauer und den Einfluss der Kaiserswerther Mutterhausdiakonie heranreichte, entwickelte sich doch eine vielfältige Bewegung, die das Leben von Menschen und Gemeinden veränderte. Meine Dissertation geht der Frage nach, wie das Kaiserswerther Modell in Amerika rezipiert und interpretiert wurde. Die Untersuchung von vier Zweigen der amerikanischen Diakonissenbewegung zeigt, dass der transatlantische Transfer des weiblichen Diakonats nicht nur die erhofften „Tochteranstalten“ nach Kaiserswerther Muster hervorbrachte, sondern auch eigenständige, genuin amerikanische Institutionen. Der erste und unmittelbarste Versuch, das Kaiserswerther Modell nach Amerika zu verpflanzen, misslang. In Pittsburgh wurden die Kaiserswerther Schwestern wenig unterstützt, die gesellschaftlichen Verhältnisse erschwerten die Aufgabe, der systematische Aufbau eines Mutterhauses und die Ausbildung neuer Schwestern unterblieb. Drei Jahrzehnte später nahm die lutherische Diakonissenbewegung einen neuen und diesmal erfolgreichen Anlauf in Amerika. Der Aufbau des Mutterhauses von Philadelphia und in seinem Gefolge weiterer lutherischer Häuser verlief entlang der von Theodor Fliedner vorgegebenen Linien und war das Produkt von Immigranten, die ein Modell der alten Welt in der neuen beheimaten wollten. Trotz der bewussten und empathischen Bindung an das Vorbild der deutschen Mutterhausdiakonie erfolgte im Zusammenhang mit dem Abflauen der Immigration aus Nordeuropa eine letztlich unvermeidliche, aber lange umstrittene Amerikanisierung der lutherischen Mutterhäuser. In Dayton (Ohio) wurde das Mutterhausmodell von Anfang als genuin amerikanisches Konstrukt konzipiert, indem die religiös-konfessionelle Vielfalt Amerikas nicht als Hürde, sondern als Chance wahrgenommen wurde: der interdenominationelle Ansatz sollte die amerikanische Diakonissenbewegung zu einer einheitlicheren und damit stärkeren Kraft machen. Die Leitung durch die Sarepta-Schwestern aus Bethel war jedoch nicht durchsetzungsfähig genug, um den „Geist“ Sareptas in Dayton lebendig zu machen. Die Leben in zwei Welten. Die amerikanische Diakonissenbewegung und ihre deutschen Wurzeln 137 Schwesternschaft, auf die Krankenpflege reduziert, konnte kaum ein Eigenleben entfalten und die Realisierung einer unabhängigen, geistlich fundierten Diakonissengemeinschaft ließ sich gegen die Ansprüche des Krankenhauses und seiner Förderer nicht verwirklichen. Diese Faktoren führten zum frühen Scheitern der Daytoner Diakonissenarbeit. Erfolgreich und dynamisch verlief dagegen die methodistische Arbeit. Im Vergleich zu den anderen Zweigen der amerikanischen Diakonissenbewegung nahmen sich die Chicagoer Diakonissen die größte Freiheit heraus, das deutsche Modell an ihre Situation anzupassen. Sie lösten das Diakonissenamt aus dem preußisch-patriarchalischen Rahmen und übersetzten es konsequent in die amerikanische Gesellschaft und Kultur. Selbstbewusst verstanden sie sich als die wahren amerikanischen Erbinnen Fliedners. Dennoch ist die Frage berechtigt und naheliegend, warum die weibliche Diakonie in Amerika nicht annähernd den numerischen Erfolg des deutschen Vorbilds replizieren konnte. Diakonissen in Amerika waren und sind eine „elitäre“, kleine Gruppe. Verschiedene Faktoren wie die konfessionelle Zersplitterung des amerikanischen Protestantismus, bestimmte Eigenheiten der amerikanischen Mentalität, die im Unterschied zu Europa säkulare und nicht religiöse Fundierung der professionellen Krankenpflege und die amerikanische Ideologie des Individualismus, der persönlichen Freiheit und Unabhängigkeit, behinderten das Wachstum der Diakonissenbewegung. Der entscheidende Grund war jedoch, dass das Diakonissenamt der amerikanischen Frau nur wenig zu bieten hatte; konnte sie doch ebenso gut ohne die Einschränkungen des Amtes berufstätig sein, innerhalb wie außerhalb der Kirchen aktiv sein und Verantwortung übernehmen. Dort, wo die amerikanische Diakonissenbewegung blühte, wie z.B. in einigen der lutherischen Häuser und im Methodismus, ist jedoch erkennbar, dass der Diakonissenberuf ein genuines Bedürfnis stillte: die Sehnsucht danach, in geistlicher Gemeinschaft zu leben und für die gemeinsame diakonische Arbeit gestärkt zu werden. Insofern sollte die Frage nach dem „Erfolg“ der amerikanischen Diakonissenbewegung relativiert werden. Denn nur im quantitativen Vergleich mit Europa erscheint die amerikanische Arbeit als defizitär. Ohne diesen Vergleich kann anerkannt werden, dass in fast allen amerikanischen Denominationen Gruppen von engagierten Frauen auf die angestammte Rolle als fromme Ehefrau verzichteten, unter schwierigen Bedingungen beeindruckende soziale Arbeit leisteten und so ihre Kirchen an ihre diakonische Verantwortung erinnerten. Theologie und Praxis der Diakonie im Lebenswerk von John Wesley in Beziehung zum Werk Nikolaus Ludwig von Zinzendorfs Ihre Bedeutung für den neuen diakonischen Aufbau der Korean Methodist Church (KMC) In Kap Park Aus der Fülle der Materialien, die es inzwischen zu John Wesley und zur weltweiten methodistischen Kirche gibt, habe ich mich bemüht, die für meine Fragestellung wichtigsten Aspekte herauszuarbeiten. Dabei kam es hier darauf an, Wesleys Verhältnis zum deutschen Pietismus und insbesondere zu der Theologie und diakonischen Praxis Nikolaus Ludwig von Zinzendorfs und der Herrnhuter Bewegung ins Bewusstsein zu heben. Mein Interesse war es, den Zusammenhang von theologischer Grundlegung und diakonischer Praxis in Geschichte und Gegenwart – insbesondere exemplarisch an diesen beiden Persönlichkeiten und ihrer Wirksamkeit – deutlich zu machen. Dazu gehörte aber auch, die zeitgeschichtlichen Verhältnisse jeweils ins Blickfeld zu rücken. Es konnte zuerst gezeigt werden, dass sich England in der Zeit der Entstehung des Methodismus in einer sehr komplizierten sozialen Situation befand. Das industrielle Zeitalter, das in England seinen Ausgang nahm, löste die bisherigen weitgehend auf agrarischen und handwerklichen Strukturen basierenden Lebensverhältnisse – jedenfalls in den neuen industriellen Zentren – weitgehend auf. Hinzu kamen die neuen internationalen Beziehungen im Zeitalter des Kolonialismus, die wiederum in England besonders drastische Folgen nach sich zogen. Die Spaltung der bisherigen ständisch geordneten Gesellschaft in neue Unternehmerstrukturen und in eine Arbeiterklasse, aber auch in reiche Profiteure und in ein neues Proletariat gehört zu den Kennzeichen dieser Zeit. Hinzu kam im internationalen Zusammenhang der Sklavenhandel, der vor allem von England aus extensiv betrieben wurde. Es zeigte sich, dass die englische Staatskirche sich außerstande sah, den Menschen in dieser Situation Orientierung und Hoffnungsperspektiven zu vermitteln. In diese Situation wurde John Wesley hineingeboren. Er stammte aus hochkirchlichbürgerlichen Verhältnissen, wuchs in einem Elternhaus mit zahlreichen Geschwistern auf, erfuhr zugleich die Bildung und Ausbildung, die für diese kirchlich-bürgerliche Schicht typisch gewesen war. Allerdings konnte gezeigt werden, dass Wesley nicht nur von hoher Intelligenz geprägt war, sondern einen fast asketischen Eifer und Fleiß an den Tag legte, sodass ihm eine große Karriere vorausgesagt wurde. Streckenweise trat er sie auch an. Zugleich wurde sein Blick für die reale Wirklichkeit im Laufe seiner Entwicklung immer weiter geöffnet. Für ihn und seine Mitstreiter wurde klar, dass nur eine Umkehr zu einem neuen von Heiligkeit und ethischem Engagement geprägten Leben neue Wege in die Zukunft eröffnen könne. Theologie und Praxis der Diakonie im Lebenswerk von John Wesley 139 Ich versuche herauszuarbeiten, welche Bedeutung einerseits sein Studium der Bibel, seine „Bekehrung“ durch die Kenntnis von Texten Martin Luthers für sein theologisches Profil hatte. Andererseits wurde er durch Reisen nach Amerika und nicht zuletzt nach Deutschland mit Strömungen des deutschen Pietismus, vor allem der Herrnhuter Bewegung und dabei vor allem mit der Persönlichkeit und Wirksamkeit des Grafen von Zinzendorf vertraut gemacht. Diesen für ihn schwierigen und auch konfliktreichen Lernprozess hat Wesley schließlich durch sein klares Bekenntnis zu einem Leben „In Holiness in Heart and Life“ zu einem Abschluss gebracht. Hier bekam der Name Methodismus seine Grundlage, denn nicht nur das eigene Leben war durch die Methodik geprägt, sondern die Botschaft des neuen Lebens sollte unter das ganze – von Not und Sorgen geprägte – Volk weitergetragen werden. Unter für heutige Vorstellungen kaum nachvollziehbaren Strapazen hat Wesley seine Predigttätigkeit bei jeder Wetterlage meist unter freiem Himmel aufgenommen und dabei Menschen des einfachen Volkes ebenso wie auch engagierte Christen aus anderen Schichten erreicht und motiviert. Dass diese missionarische Predigttätigkeit nicht nur die Herzen der Menschen erreichen sollte, sondern auch direkte Auswirkungen auf die Praxis hatte, wird an einer Reihe von exemplarischen Beispielen hervorgehoben. In dieser praktischen Wirksamkeit unterschiedenen sich seine methodischen Zeitgenossen in jeder Hinsicht von den anderen zeitgenössischen kirchlichen Strömungen. Allgemein wird sogar darauf hingewiesen, dass die Entwicklung der Menschenrechte nicht nur in England in diesem christlichen Reformklima ihren Ausgang nahm, was sich vor allem in der massiven Ablehnung der Sklaverei und ihrer später folgenden Abschaffung zeigte. Es war in dieser Arbeit nicht möglich, die Geschichte des Methodismus in den dann folgenden Jahrhunderten in England, Europa und USA aufzuzeigen. Hier müssten sicher auch Tendenzen sichtbar gemacht werden, die zur einer gewissen Ermüdung dieser weit ausholenden Aktivitäten beitrugen. Stattdessen kam es mir darauf an, den Blick auf mein Heimatland Korea, für das ich auch eine Mitverantwortung trage, zu richten. Denn es ist das Ziel dieser Arbeit, die Impulse, die von John Wesley theologisch und diakonisch ausgingen, in Korea nicht nur stärker bekannt zu machen, sondern auch in zeitgemäßer und für das Land angemessener Form umzusetzen. Deshalb arbeitete ich etwas ausführlicher die Geschichte des Methodismus in Korea heraus und versuchte zu zeigen, welche konkreten diakonischen Programme und Möglichkeiten ihrer Verwirklichung harren. „Ausblicke und Hoffnungen für eine Erneuerung der Kirchen in Korea“ Im folgenden kurzen Ausblick möchte ich noch drei für mich wichtige Innovationen herausstellen, die in den kommenden Jahren durchaus eine Chance auf eine konkrete Umsetzung in Korea haben könnten. 140 In Kap Park Die KMC leistete in den letzten Jahren sowohl in ihrer strukturellen Ausrichtung als auch in den Erklärungen für die gesamten diakonischen Perspektiven – von den individuellen Menschenrechten bis zur nachhaltigen Pflege des Ökosystems – wichtige Vorarbeiten für eine grundlegende Reform. Aber die diakonischen Erklärungen sind auf einer eher formalen Stufe stehen geblieben. Es fehlen noch immer die Voraussetzungen für konkrete Schritte zur Umsetzung dieser Programme. In der Praxis hat sich bisher deshalb wenig geändert. Es kam mir angesichts dieser unbefriedigenden Situation darauf an, der KMC Vorschläge für eine bessere Entwicklung – vor allem in der diakonisch-sozialen Verantwortung zu unterbreiten. Ich möchte vor allem noch einmal drei Aspekte dazu hervorheben. Es geht dabei um die Neuorganisation der institutionellen Diakonie der Methodistenbewegung und ihrer sozialen Praxis: Diakonie als eine Gemeinschaft, Diakonie als Sozialwerke, Diakonie als eine Reformbewegung. Darüber hinaus geht es auch um die inhaltlichen Ziele der diakonischen Erneuerung, z. B. um die Diakonie für Befreiung, Diakonie für Erziehung, Diakonie für Helfen im Blick auf all diejenigen, die unter Unterdrückung, Unmündigkeit und Not zu leiden haben. Wie bereits dargelegt, schlage ich eine grundlegende diakonische Gemeindeerneuerung durch die gesamten Aktivitäten der Pfarrer und ihrer Gemeinden vor. Im Laufe der Zeit haben die Gemeindeministerien fast in den gesamten koreanischen methodistischen Gemeinden – egal ob im Lande oder in der Stadt – ihren diakonischen Auftrag beinahe gänzlich vergessen. Natürlich braucht man dafür gründliche Änderungen der Strukturen und Organisierungen, indem man auch die bisherigen allgemeinen Inhalte z. B. in Predigten, im Abendmahl usw. unter diakonischen Gesichtspunkten verändert. Auch die zahlreichen Kreise, die im Rahmen einer Gemeinde existieren, sind eigentlich heute nur mit sich und der eigenen Erbauung, allenfalls auch mit dem Wachstum der Gemeinde beschäftigt. Sie lassen aber jeden Versuch der diakonischen Verantwortung vermissen. Weiterhin schlage ich dafür die Einführung und den Ausbau der Diakoniewissenschaft und die Entwicklung entsprechender Lehrgänge sowie ihre Etablierung in den drei theologischen Fakultäten innerhalb der KMC vor. Die Situation von heute ist, dass es fast gar keine diakoniewissenschaftlichen Vorlesungen und Seminare im theologischen Curriculum gibt. Deswegen ist es notwendig, entsprechende Anforderungen und Empfehlungen zu formulieren. Schließlich schlage ich vor allem vor, dass die Grundstruktur oder mindestens die wichtigste Struktur im Blick auf die Diakonischen Abteilungen in der KMC verbessert wird und zwar durch Änderungen des Kirchengesetzes. Besonders muss der jetzige Ausschuss für Social Work, anders als bisher strukturiert werden. In den damit verbundenen Ausschüssen sind keine professionellen Mitarbeiter vorgesehen, so dass hier keine Planung und praktische Zielsetzung erfolgen kann. Gefordert wird deshalb ein leistungsstarkes Komitee, das aus professionellem Personal besteht und die Mitarbeit der Laien anregt und fördert. Theologie und Praxis der Diakonie im Lebenswerk von John Wesley 141 Diese hier nur angedeuteten Vorschläge sind vor allem im Hinblick auf die inhaltlichen Themen noch weiter zu ergänzen. Sie sollten aber deutlich machen, dass die Koreanische Methodistische Kirche von ihrem geschichtlich Werdegang her gesehen und ihrem theologischen Auftrag entsprechend durchaus in der Lage sein kann, eine tragfähige und der christlichen Hoffnung entsprechende Zukunft weit über die Grenzen der methodistischen Gemeinden hinaus für die gesamte koreanische Gesellschaft und am Ende für das wiedervereinigte Korea mit zu gestalten. Zum Verhältnis von Diakonie und Verkündigung in christlichen Hilfswerken Frieder Schaefer 1. Diakonie und Verkündigung – ein unzureichend geklärtes Verhältnis Seit einiger Zeit wird die Frage nach dem Verhältnis der beiden kirchlichen Arbeitsfelder Diakonie und Verkündigung im Bereich von Hilfswerken, Kirchen und Verbänden auf breiter Front vor verschiedenen Hintergründen neu diskutiert und problematisiert.1 Von besonderer Bedeutung in diesen Prozessen ist z.B. die Frage nach dem Auftrag der jeweiligen Organisation und seiner Zuordnung bezüglich anderer Missions- oder Hilfswerke, der institutionellen Kirche oder den jeweiligen Partnern in der Entwicklungszusammenarbeit.2 Im Hintergrund der Diskussionen stehen theologische Fragen, die für die Praxis von Hilfsund Missionswerken sowie Kirchen einer überzeugenden Klärung bedürfen: Welche Verständnisse von Diakonie und Verkündigung liegen der eigenen Arbeit zugrunde – und wie sind sie theologisch zu bestimmen? Wie lässt sich eine Verhältnisbestimmung von Diakonie und Verkündigung so entwickeln, dass dieses Verhältnis über einfache Lösungen wie eine Trennung der Handlungsfelder oder ein wohltemperiertes, faktisch jedoch bedeutungsloses ausgewogenes Verhältnis hinausgeht?3 Der Frage des Verhältnisses von Diakonie und Entwicklung wird im Folgenden nachgegangen.4 Dies geschieht anhand von Beobachtungen, wie die drei christlichen Hilfswerke christlichen Hilfswerke Brot für die Welt (Brot für die Welt), Vereinte Evangelische Mission – Gemeinschaft von Kirchen in drei Erdteilen (VEM) und World Vision Deutschland e.V. (World Vision) ihre Zuordnung der beiden Handlungsfelder verstehen. Die Begriffe Diakonie und Verkündigung verstehen sich zunächst in folgender Weise: Diakonie meint „umfassend 1 2 3 4 Die Diskussion betrifft je nach Begriffsfüllung auch das Verhältnis von Mission und Entwicklung, Diakonie und Mission bzw. Evangelisation, Heil und Wohl, Zeugnis und Dienst. Vgl. Wolfgang Huber, Weltverantwortung der Kirchen – Vierzig Jahre Kirchlicher Entwicklungsdienst, Festvortrag in der Friedrichstadtkirche zu Berlin, 16. Oktober 2008, online abrufbar unter wap.ekd.de/aktuell_presse/60071.html (Zugriff am 29.11.2010). Wolfgang Huber zeigt am Beispiel des Verhältnisses von Missions- und Entwicklungswerken das praktische Problem auf: „Die Frage nach dem Verhältnis von Mission und Entwicklung ... ist noch immer nicht überzeugend geklärt. Vieles spricht für ein ganzheitliches Missionsverständnis [...]. Vieles spricht zugleich für eine klarere Profilierung und Arbeitsteilung.“ Vgl. ebd. Ausgangspunkte sind dabei eine biblisch-theologische Herangehensweise, die Einbeziehung pietistischer (bzw. evangelikaler) Perspektiven, die geläufigen Grunddimensionen von Kirche (kerygma, koinonia, diakonia) sowie weitere kirchengeschichtliche Impulse (z.B. aus der Befreiungstheologie). Zum Verhältnis von Diakonie und Verkündigung in christlichen Hilfswerken 143 jeden Dienst aus christlicher Verantwortung an Menschen in Not“ 5. Verkündigung ist zu verstehen als „den Glauben bezeugende als auch diesen selbst hervorrufende Rede, durch welche Gott selbst zu dem angesprochenen Menschen in eine heilvolle Beziehung tritt“ 6. 2. Diakonie und Verkündigung – eine „schmerzhafte Trennungsgeschichte“7 Werden historische Linien des 19. und 20. Jahrhunderts betrachtet, wird deutlich, dass aus der ursprünglich praktizierten Einheit von Diakonie und Verkündigung bei den Missionaren der Missionsgesellschaften8 sowie bei der Inneren Mission Wicherns9 sich eine weitgehende Trennung der Handlungsfelder entwickelte. Dazu trug nicht nur die, in anderer Hinsicht durchaus berechtigte, einseitige Fokussierung der Gemeinschaftsbewegung auf Verkündigung (bzw. Evangelisation) bei.10 Trennungsfaktoren waren u.a. die Kräftebindung der Inneren 5 6 7 8 9 10 Klaus Dieter K. Kottnik/Eberhard Hauschildt (Hg.), Diakoniefibel. Grundwissen für alle, die mit Diakonie zu tun haben, Gütersloh/Rheinbach 2008, 2. Im deutschsprachigen Raum umfasst Diakonie „insbesondere alle Aktivitäten der sozialen Hilfe oder des Einsatzes für Bedürftige im Zusammenhang protestantischer Initiativen und Vereine und der evangelischen Kirchen“. Ebd. Ulrich H.J. Körtner, Verkündigung I. Fundamentaltheologisch, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Band 8, Tübingen 42005, Sp. 1024–1025: 1025. Reiner Knieling bringt dies auf die Kurzformel „Einfach von Gott reden“ (Reiner Knieling, Was predigen wir? Eine Homiletik, Neukirchen-Vluyn 22011, 48), in formaler Hinsicht ist Verkündigung (mit Knieling) der „Oberbegriff für verschiedene Formen“ (Knieling, Homiletik, 11). Michael Herbst, Perspektiven für eine missionarische Diakonie und eine diakonische Mission. Anstöße für ein Spirituelles Diakoniemanagement, in: Michael Herbst/Ulrich Laepple (Hg.), Das missionarische Mandat der Diakonie. Impulse Johann Hinrich Wicherns für eine evangelisch profilierte Diakonie im 21. Jahrhundert (Beiträge zu Evangelisation und Gemeindeentwicklung 7), Neukirchen-Vluyn 2009, 9–33: 14. Michael Herbst verwendet in seiner Feststellung allerdings den Begriff der Evangelisation statt des hier gebrauchten Terminus der Verkündigung. Vgl. dazu die bilanzierenden Ausführungen der Entwicklungsdenkschrift der EKD in Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.), Der Entwicklungsdienst der Kirche – ein Beitrag für Frieden und Gerechtigkeit in der Welt. Eine Denkschrift der Kammer der Evangelischen Kirche in Deutschland für Kirchlichen Entwicklungsdienst, Gütersloh 1973, 10. Interessanterweise bildet das gemeinschaftliche Leben der Missionare mit den Einheimischen die Basis für diese Einheit von Diakonie und Verkündigung. Karl Rennstich verweist als persönliches Beispiel auf den in Indien tätigen Basler Missionar Mögling, der im Unterschied zu anderen Missionaren „aus dem ‚Missionspalast‘ aus[zieht], um mit den Studenten unter gleicher Bedingung in den Häuschen ‚auf einem Teppich‘ zu schlafen, ihren Reis zu essen, während er abends Thee trank und lehrte sie im Höflein […]. […] Später freilich […] will er sie nicht ‚in Einfalt und Demut‘ halten, sondern alle zur wirtschaftlichen Entwicklung nötige Bildung verschaffen.“ Karl Rennstich, Mission und wirtschaftliche Entwicklung. Biblische Theologie des Kulturwandels und christliche Ethik (Gesellschaft und Theologie 25), München/Mainz 1978, 186. Wichern selbst: „Kein innerer oder äußerer Notstand, dessen Hebung Aufgabe christlich rettender Liebe sein kann, ist der innern Mission fremd, und die reichste Fülle der Hilfe steht ihr zu Gebot. Denn die Wurzel ihres Werkes ist Christus, dem alle Not zu Herzen geht und in dessen Herzen die Hilfe gegen alles Elend zu finden ist.“ Johann Hinrich Wichern, Die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche. Eine Denkschrift an die deutsche Nation (1849), in: Ders., Sämtliche Werke, Band 1, hg. von Peter Meinhold, Berlin/Hamburg 1962, 175–366: 181. Vgl. Frank Lüdke, Diakonische Evangelisation. Die Anfänge des Deutschen GemeinschaftsDiakonieverbandes 1899–1933 (Konfession und Gesellschaft 28), Stuttgart 2003, und Frieder Schaefer, Glaube, der durch die Liebe tätig ist. Zum Verhältnis von Diakonie und Evangelisation in der 144 Frieder Schaefer Mission beim Aufbau der freien Wohlfahrtspflege in der Weimarer Republik11 sowie innere Entwicklungen in der Inneren Mission12, der Aufschwung und die Verselbständigung der Kirchlichen Volksmission13, die Ausblendung der Verkündigung in der Arbeit des Evangelischen Hilfswerks nach 194514 sowie das spannungsreiche Verhältnis der Kirchen zu Diakonie, Innerer Mission und Volksmission15. Schließlich führten die Auseinandersetzungen um das Konzept der missio dei in den 1960er und 1970er Jahren zu einer auch strukturell befestigten Trennung der ursprünglich zusammengehörigen Arbeitsfelder. 16 Mittlerweile ist zwar von einem „Konsens über die ‚missio dei‘“17 auszugehen, dennoch reicht es nicht, das hier betrachtete Verhältnis ohne inhaltliche Qualifizierung darin einzubetten, da der Begriff der missio dei aufgrund seines Charakters als „Containerbegriff“18 inhaltlich zu wenig austrägt. 11 12 13 14 15 16 17 18 Gemeinschaftsbewegung vor dem Hintergrund der Anliegen Wicherns, Diplomarbeit im Kontaktstudium Diakoniewissenschaft am Diakoniewissenschaftlichen Institut der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Heidelberg 2009. Vgl. Jochen Christoph Kaiser, Diakonie in der Stadt des 19. und 20. Jahrhunderts – die Stadtmissionen, in: Heinz Schmidt/Renate Zitt (Hg.), Diakonie in der Stadt. Reflexionen – Modelle – Konkretionen (Diakoniewissenschaft 8), Stuttgart 2003, 52–69: 66. Vgl. Jochen-Christoph Kaiser, Sozialer Protestantismus im 20. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte der Inneren Mission 1914–1945, München 1989, 238 ff. und Young Whan Park, Das rettende Wort und die helfende Tat. Studie zum Verhältnis von Mission und Diakonie im Spiegel der Konzeption Johann Hinrich Wicherns, Erfurt 1997. Vgl. z.B. Jochen-Christoph Kaiser, Zwischen Überforderung und Improvisation: Die Innere Mission im Ersten Weltkrieg, in: Jochen-Christoph Kaiser/Martin Greschat (Hg.), Sozialer Protestantismus und Sozialstaat. Diakonie und Wohlfahrtspflege in Deutschland 1890 bis 1938, Stuttgart u.a. 1996, 72–88.; Theodor Strohm, Innere Mission, Volksmission, Apologetik. Zum soziokulturellen Selbstverständnis der Diakonie. Entwicklungslinien bis 1937, in: Jochen-Christoph Kaiser/Martin Greschat (Hg.), Sozialer Protestantismus, 17–40 oder Hartmut Bärend, Wie der Blick zurück die Gemeinde nach vorn bringen kann. Ein Gang durch die Geschichte der kirchlichen Volksmission (Beiträge zu Evangelisation und Gemeindeentwicklung – Praxis), Neukirchen-Vluyn 2011, 41–85. Vgl. Johannes Michael Wischnath, Kirche in Aktion. Das Evangelische Hilfswerk 1945–1957 und sein Verhältnis zu Kirche und Innerer Mission (Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte B 14), Göttingen 1986. Vgl. Kaiser, Sozialer Protestantismus, 9 ff. sowie Bärend, Gang durch die Geschichte, 38 f., 69 f. Vgl. Wilhelm Richebächer, „Missio Dei“ – Grundlage oder Irrweg der Missionstheologie? in: Evangelisches Missionswerk in Deutschland (EMW) in Kooperation mit: Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck (Hg.), Missio Dei heute. Zur Aktualität eines missionstheologischen Schlüsselbegriffs (Weltmission heute 52), Hamburg 2003, 184–207 und Erhard Berneburg, Das Verhältnis von Verkündigung und sozialer Aktion in der evangelikalen Missionstheorie – unter besonderer Berücksichtigung der Lausanner Bewegung für Weltevangelisation (1974–1989) (TVG Systematisch-theologische Monographien), Wuppertal 1997. Herbst, Perspektiven, 11. Wolfgang Günther, Gott selbst treibt Mission: Das Modell der „Missio Dei“, in: Klaus Schäfer im Auftrag der Theologischen Kommission des Evangelischen Missionswerkes in Deutschland (Hg.), Plädoyer für Mission. Beiträge zum Verständnis von Mission heute (Weltmission heute 35), Hamburg 21999, 56–63: 56. Zum Verhältnis von Diakonie und Verkündigung in christlichen Hilfswerken 3. 145 Diakonie und Verkündigung – aktuelle Beobachtungen aus der christlichen Entwicklungszusammenarbeit Vergleicht man die drei oben genannten christlichen Hilfswerke der Entwicklungszusammenarbeit hinsichtlich des Verhältnisses von Diakonie und Verkündigung ergibt sich folgendes Bild: Grundsätzlich ist bei allen Werken von einem integralen Verständnis von Diakonie und Verkündigung auszugehen. Dabei sehen Brot für die Welt und World Vision ihren Auftrag in der Diakonie, die im Kontext einer durch die jeweiligen Partner (z.B. Kirchen oder kirchliche Werke) erfolgenden Verkündigung erfolgt. Verkündigung selbst gehört für die beiden Werke nicht zum Auftrag, wird aber als notwendige Ergänzung gesehen – sei es unter Perspektive eines ganzheitlichen Menschenbildes oder hinsichtlich der Spendergewinnung in Deutschland. Auch gilt Verkündigung als Motivation und Kraftquelle für Mitarbeitende. Dennoch lässt sich aus verschiedenen Gründen eine Distanz zur Verkündigung bzw. eine Vereinseitigung im Verhältnis der beiden Arbeitsfelder beobachten. Bei der VEM erscheinen Diakonie und Verkündigung als gleichberechtigte Aufgaben, die einander ergänzen. Diese Ergänzung wird möglich aufgrund des Selbstverständnisses der VEM als Kirchen- bzw. Missionsgemeinschaft. Je nach Kontext und gemeinsamer Prioritätenfindung kann in der Projektarbeit das eine oder andere Handlungsfeld überwiegen bzw. begleitend fungieren. Dabei geschieht nie ausschließlich Verkündigung ohne diakonischen Bezug. Auffällig ist bei den Hilfswerken insgesamt, dass in unterschiedlicher Weise Gemeinschaft und Partnerschaft in der Arbeit der Werke eine Schlüsselrolle spielen: In der weltweiten Dienstgemeinschaft bei World Vision wird gemeinsam für andere gearbeitet, bei Brot für die Welt gestaltet man mit anderen zusammen den Entwicklungsprozess. Bei der VEM lässt sich ein strukturiertes, gemeinsames Teilen ableiten, da die Mitgliedskirchen aus drei Erdteilen auch gemeinsam über die Ressourcenverwendung entscheiden. Damit tritt der Themenkreis der Bedeutung von theologisch bestimmter Gemeinschaft hervor, der im Folgenden als Leitkategorie für die Verhältnisbestimmung von Diakonie und Verkündigung vorgestellt wird. 4. Gemeinschaftsbildung als verbindende Leitkategorie für Diakonie und Verkündigung Der in der protestantischen Theologie eher wenig beachteten19 Gemeinschaft bzw. Gemeinschaftsbildung kommt im hier vorgestellten Ansatz die Funktion zu, die beiden getrennten Handlungsfelder Diakonie und Verkündigung zu verbinden bzw. zu umschließen und diese Verbindung inhaltlich zu füllen. Für diese Verbindung steht der Begriff der 19 Vgl. dazu die deutliche Kritik von Ulrich Luz: Ulrich Luz, Ortsgemeinde und Gemeinschaft im Neuen Testament, in: Evangelische Theologie 70.2010, 404–415: 406,415. 146 Frieder Schaefer Leitkategorie, unter deren Perspektive anschließend auch die Überlegungen zum jeweiligen Verständnis von Diakonie bzw. Verkündigung gestellt werden. Ausgehend von neutestamentlichen Beobachtungen lässt sich zunächst Gemeinschaft bestimmen als in der Anteilhabe an Christus geschehendes und von der Liebe bestimmtes Geben und Nehmen.20 Bereits in biblischer Hinsicht ist eine Vielzahl von Dimensionen in Bezug auf Gemeinschaft festzuhalten, die sich teilweise gegenseitig durchdringen. Exemplarisch seien folgende Dimensionen genannt: Gemeinschaft auf Zeit21, Leiblich-materielle Gemeinschaft22, Statusunabhängige Gemeinschaft23. In systematisch-theologischer Hinsicht kann Kirche beschrieben werden als „Solidargemeinschaft des Glaubens und des Füreinander-Handelns und -Leidens“24, was sich z.B. in den Dimensionen der Gemeinschaft der Vergebung25, polyzentrischpartizipativer26 oder der heilenden Gemeinschaft27 noch konkreter fassen lässt. In praktischer Perspektive ist u.a. der Ansatz der Hilfs-, Lehr- und Festgemeinschaft (Konvivenz)28 und die Dimension einer Gemeinschaft im Sein29 zu nennen. Versucht man die Dimensionen und Ansätze zu strukturieren, könnten vier Paradigmen einer zu entwerfenden Theologie der Gemeinschaft identifiziert werden: Verbindung von Gemeinschaft mit Gott und sozialer Gemeinschaft, Gemeinschaft als Grenzüberschreitung, Gemeinschaft in Wechselseitigkeit, Mehrdimensionale Gemeinschaft. Auch hier wird noch einmal ansatzweise erkennbar, wie 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 Vgl. Josef Hainz, Koinonia bei Paulus, in: Lukas Bormann/Kelly del Tredici/Angela Standhartinger (Hg.): Religious Propaganda and Missionary Competition in the New Testament World. Essays Honoring Dieter Georgi, Leiden u.a. 1994, 375–391: 379 und Luz, Gemeinschaft, 409 ff. Vgl. Lk 10,25–37 und dazu in (verkündigungsbezogener) Ergänzung Apg 8,26–40. Die Tischgemeinschaften Jesu sind ein besonders auffälliges Beispiel dafür, wie Jesus seine Diakonie und seine Verkündigung in dieser Gemeinschaft bündelt und darin Solidarität mit den Ausgegrenzten demonstriert (Mt 9,9–13) sowie diese in die Gemeinschaft des Volkes wieder eingliedert (vgl. Lk 19,1–10). Vgl. u.a. Mk 10,35–45, Gal 3,28 und in alttestamentlicher Perspektive auch Hans Walter Wolff, Anthropologie des Alten Testaments, Gütersloh 61994, 279–288. Christoph Schwöbel, Gott in Beziehung. Studien zur Dogmatik, Tübingen 2002, 406. Vgl. Heinrich Bedford-Strohm, Gemeinschaft aus kommunikativer Freiheit. Sozialer Zusammenhalt in der modernen Gesellschaft, Ein theologischer Beitrag (Öffentliche Theologie 11), Gütersloh 1999, 373. Vgl. Miroslwav Volf, Trinität und Gemeinschaft. Eine öumenische Ekklesiologie, Mainz/Neukirchen-Vluyn 1996, 215 ff. Vgl. Henning Wrogemann, Den Glanz widerspiegeln. Vom Sinn der christlichen Mission, ihren Kraftquellen und Ausdrucksgestalten, Interkulturelle Impulse für deutsche Kontexte, Frankfurt a.M. 2009, 155–159. Vgl. Theo Sundermeier, Konvivenz als Grundstruktur ökumenischer Existenz heute, in: Wolfgang Huber/Dietrich Ritschl/Theo Sundermeier (Hg.), Ökumenische Existenz heute (Ökumenische Existenz heute 1). München 1986, 49–100: 52 ff. und den früheren Beitrag Albrecht Schönherrs zur Lerngemeinschaft: Albrecht Schönherr, Die Kirche als Lerngemeinschaft. Referat auf der 2. Tagung der 2. Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, Potsdam 28.9.1974, in: Ders., Horizont und Mitte. Aufsätze, Vorträge, Reden 1953–1977, München 1974, 206–227. „Solange es Dunkelheit in der Welt gibt, wird Gottes Volk ausgesandt. […] Gesandt, nicht nur, um etwas zu tun und zu sagen, sondern auch um zu sein. Mit und für andere zu sein. Gesandt als eine versöhnte und versöhnende Gemeinschaft […].“ Ruth Padilla DeBorst, Lieder der Hoffnung: Die Grundlage, die Notwendigkeit und das Gesicht christlicher Mission heute, in: Evangelisches Missionswerk in Deutschland (EMW, Hg.), Mission erfüllt? Edinburgh 2010 – 100 Jahre Weltmission (Jahrbuch Mission 41), Hamburg 2009, 39–46: 43 f. Das dieses ‚Sein der Gemeinschaft‘ einen diakonischen bzw. verkündenden Aspekt in sich trägt und Basis für eine gelingende Diakonie und Verkündigung ist, ist offenkundig. Zum Verhältnis von Diakonie und Verkündigung in christlichen Hilfswerken 147 unterschiedlich theologisch verstandene Gemeinschaftsbildung konturiert sein kann. Die wenigen Andeutungen lassen erkennen: Gebildete Gemeinschaft dient für beide Handlungsfelder als Voraussetzung, umschließt sie und entsteht wiederum neu aus den so verbundenen Handlungsfeldern heraus. 30 5. Konsequenzen für das jeweilige Verständnis von Diakonie und Verkündigung Die Leitkategorie der Gemeinschaftsbildung hat als beides umschließende Größe auch Konsequenzen für das Verständnis von Diakonie. Geht man exegetisch von einer Bestimmung des Begriffs im Sinne von – die Bedeutung ‚Dienst‘ einschließend – ‚Beauftragung‘ aus und nimmt man zusätzlich die Beiträge zur Diakonie u.a. von Ulrich Bach oder Jürgen Moltmann und zuletzt von Anika Albert auf, kann Diakonie mit der Formel Diakonie als Gemeinschaft in Gegenseitigkeit beschrieben werden. Darin haben dann die verschiedenen Dimensionen von Gemeinschaft bzw. die davon abgeleiteten vier Paradigmen einer Theologie der Gemeinschaft ihren Platz und werden diakonisch wirksam. Die Gemeinschaftsbildung erscheint so als dem diakonischen Handeln vorausgehend und dieses umschließend. So verstandene Diakonie lässt dann auch Raum für Verkündigung: Verkündigung wird so – nicht nur in diakonischen Kontexten – zur „‚Liebes-Tätigkeit‘ mit dem Wort“31. Somit kann eine in Gemeinschaft vollzogene Verkündigung Diakonie mit dem Wort sein, weil dieses Wort durch die mit Gemeinschaftsbildung verbundene Diakonie beglaubigt wird und neu Gemeinschaft konstituiert oder stärkt. Dies wirkt sich dann wiederum auf das diakonische Handeln aus. Analog wäre das Verständnis von Verkündigung ergänzend zu bestimmen: Verkündigung ohne vorausgehende und umschließende Gemeinschaftsbildung lässt sich nicht denken. 32 30 31 32 Fritz Lienhard unterstreicht die Bedeutung von Gemeinschaft sowie die Zusammengehörigkeit von Diakonie und Verkündigung kontrastierend: „Im Gegensatz zur Hörerschaft […] teilt die wahre Gemeinde ihre Güter und ihren Mangel.“ Fritz Lienhard, Diakonie ist Kirche“ – ein Kapitel Ekklesiologie, in: Fritz Lienhard/Heinz Schmidt, Das Geschenk der Solidarität. Chancen und Herausforderungen der Diakonie in Frankreich und Deutschland (Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts an der Universität Heidelberg 28), Heidelberg 2006, 179–195: 186. Für die Beiträge von Kirche bzw. christlichen Hilfswerken im pluralen gesellschaftlichen Umfeld sind weitere soziologische Überlegungen hilfreich (vgl. z.B. Dierk Starnitzke, Diakonie im Interaktions-, Organisations- und Gesellschaftsbezug, in: Volker Herrmann/Martin Horstmann (Hg.), Studienbuch Diakonik. Band 2: Diakonisches Handeln, diakonisches Profil, diakonische Kirche, Neukirchen-Vluyn 2006, 117–143: 117–122), die wiederum mit den theologischen Erkenntnissen ins Gespräch zu setzen sind. Johannes Busch, Einleitung. Diakonisch predigen – Predigten aus dem Erfahrungsfeld der Diakonie, in: Jürgen Gohde (Hg.), Diakonisch predigen. Predigten aus dem Erfahrungsfeld der Diakonie (Diakoniewissenschaft 12), Stuttgart 2004, 11–17: 15. Dafür sprechen – aus der Vielzahl theologischer Beobachtungen herausgenommen – z.B. die diskursiv gehaltene Verkündigung Michas (Mi 6,1 ff.), der bereits erwähnte Abschnitt über den äthiopischen Kämmerer (Apg 8,26–40) sowie zugespitzt die Bedeutung der Verkündigungsform der Bibelgespräche im deutschen Pietismus oder in befreiungstheologischen Kontexten. 148 Frieder Schaefer Die Gemeinschaftsbildung geht somit auch der Verkündigung voraus und diese führt wiederum in (neue) Gemeinschaft hinein bzw. lässt (neue) Gemeinschaft entstehen. Auf diese Weise wird Verkündigung dann mit Diakonie verbunden – ebenso kann die unübersehbare Lücke hinsichtlich diakonischer Aspekte in Verkündigungszusammenhängen in der homiletischen Diskussion aufgegriffen werden.33 Insofern schließen Diakonie und Verkündigung einander nicht aus oder stehen unverbunden nebeneinander. Durch die Leitkategorie der Gemeinschaftsbildung werden sie inhaltlich miteinander verbunden. So ist mit Gemeinschaftsbildung verbundene Diakonie Verkündigung durch die Tat, weil die Tat durch die in Gemeinschaft vollzogene Verkündigung gedeutet werden kann. Diakonie und Verkündigung durchdringen sich somit wechselseitig. 6. Impulse zur Arbeit christlicher Hilfswerke in der Perspektive der Leitkategorie der Gemeinschaftsbildung Theologisch verstandene Gemeinschaftsbildung eröffnet für Kirchen und Hilfswerke auf allen Ebenen einen Raum, um Diakonie und Verkündigung kreativ und natürlich miteinander in Beziehung zu setzen. Diakonie und Verkündigung sind so nicht (in erster Linie) Handlungsfelder von Spezialisten, sondern führen Kirchen und Werke in eine (neue) Normalität gemeinschaftlichen Handelns. Als Vergleichskriterien bieten sich die erwähnten vier Paradigmen einer zu entwerfenden Theologie der Gemeinschaft an. Danach lässt sich z.B. von der mehrdimensionalen Gemeinschaft her eine strenge Aufteilung in ausschließlich diakonische oder ausschließlich verkündigende Tätigkeit für Kirchen oder christliche Werke als nicht angemessen beurteilen. Das gilt auch hinsichtlich der Perspektive der Mitarbeitenden der Hilfswerke, die mit Erfahrungen eigener Ohnmacht konfrontiert sind und damit umzugehen haben. Hier wird sich erweisen, ob die eigene Kirche bzw. die Kirchengemeinschaft (bei der VEM), die jeweilige Partnerkirche (Brot für die Welt) oder die Dienstgemeinschaft der Mitarbeitenden (bei World Vision) Hilfestellungen und umfassende Gemeinschaft anbieten kann. Eine andere Schlussfolgerung ergibt sich hinsichtlich der Gemeinschaft in Wechselseitigkeit: Wenn ein Hilfswerk wie Brot für die Welt Missions- und Verkündigungstätigkeit pauschal ablehnt, widerspricht das dem Kriterium der Gemeinschaft in Wechsel- 33 „In der neueren homiletischen Diskussion hat die Frage nach dem Zusammenhang von Verkündigung und Diakonie bzw. nach der diakonischen Dimension der Predigt insgesamt relativ wenig Beachtung gefunden.“ Gerhard K. Schäfer, Die Menschenfreundlichkeit Gottes bezeugen. Diakonische Predigten von der Alten Kirche bis zum 20. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts an der Universität Heidelberg 4), Heidelberg 1991, 20. Zum Verhältnis von Diakonie und Verkündigung in christlichen Hilfswerken 149 seitigkeit insbesondere dann, wenn die Partner im Süden Verkündigung im Rahmen der gemeinsamen Projekte als selbstverständlich empfinden. 34 Aus dem dargestellten Ansatz lassen sich für die Arbeit der Hilfswerke praktische Impulse ableiten. Dazu könnten gehören: Förderung diakonischer Verkündigung; Entwicklung gemeinschaftsfördernder Instrumente wie partizipativ arbeitende Bibelgesprächskreise, die entwicklungsrelevante Fragestellungen aufnehmen35; die Gestaltung des Verhältnisses von Diakonie und Verkündigung als Leitungsaufgabe begreifen u.a.m. 7. Fazit Das Verhältnis von Diakonie und Verkündigung ist somit in letzter Konsequenz nicht mehr statisch bestimmt, sondern gemeinschaftlich, dynamisch, pneumatisch, kontextuell und einander korrigierend. Unter der Voraussetzung einer Leitkategorie der Gemeinschaftsbildung kann somit gelten: Verkündigung ist Diakonie mit dem Wort, und Diakonie ist Verkündigung durch die Tat. Von dieser Zuordnung her können dann Diakonie und Verkündigung in vielfältiger Form konkretisiert werden. Der vorgestellte Ansatz nötigt dazu, bspw. das gemeinsame geistliche Leben der Mitarbeitenden im Hilfswerk untereinander einzuüben sowie mit den Menschen im Projekt selbst zu teilen. Komplexe theoretische Verhältnisbestimmungen zu Diakonie und Verkündigung treten dann in der Perspektive der Gemeinschaftsbildung in den Hintergrund: Menschen wissen sich einfach hineingenommen in die Gemeinschaft Gottes mit den Menschen und zugleich in die Gemeinschaft untereinander. 34 35 Nikolaus Schneider beschreibt die Schwierigkeiten der Trennung von Diakonie und Verkündigung folgendermaßen: „Diese kategoriale Trennung ist für viele Kirchen im Süden ganz fremd, ja sogar befremdlich: Sie identifizieren ‚Brot für die Welt‘ ganz selbstverständlich auch mit Verkündigung und dem Dienst am Evangelium – nicht nur mit politischen Entwicklungsprogrammen und Kampagnen.“ Nikolaus Schneider, Christliche Mission heute. Vortrag des Vorsitzenden des Rates der EKD anlässlich der Jahrestagung der DGMW am 6. Oktober 2011 in der Nikolaikirche Leipzig, online abrufbar unter www.ekd.de/download/Vortrag_des_RV_zur_Jahrestagung_DGMW_Leipzig_%286.10.2011%29.pdf (Zugriff am 13.01.2012), 6. Vgl. Andreas Kusch, Holistisch-partizipative Weltanschauungsanalyse: Eine Methode zur Erfassung der Lebenssituation von Bevölkerungsgruppen, in: Ders. (Hg.), Transformierender Glaube, erneuerte Kultur, sozioökonomische Entwicklung. Missiologische Beiträge zu einer transformativen Entwicklungspraxis (Korntaler Reihe 5), Nürnberg 2007, 350–360: 352 ff. Kusch veranschaulicht den Zusammenhang am konkreten Beispiel: „Wenn Menschen etwa unter Regenmangel oder ethnischen Auseinandersetzungen leiden, dann kann diese Thematik zum Gegenstand von Bibelarbeiten, Gebetsgruppen, Andachten werden.“ (Kusch, Weltanschauungsanalyse, 358). Diakonisches Hilfehandeln als Vertrauensbeziehung Eine institutionenökonomische Analyse unter besonderer Berücksichtigung diakonischer Finanzierungsstrukturen Tobias Staib Die Kernthese der Dissertation besagt, dass diakonische Dienstleistungen Vertrauensbeziehungen sind und zwar in dem Sinne, dass die Adressaten der Leistungen neben expliziten Erwartungen, die sich vertraglich fixieren lassen, auch implizite Erwartungen an die Dienstleistungen haben, die nicht vertraglich fixierbar und nicht objektiv überprüfbar sind. Entscheidend für die Leistungserstellung als Ganze und insbesondere für die impliziten Vertragsinhalte ist daher die Face-to-Face-Interaktion zwischen Adressat und Professionellen. In dieser Beziehung entsteht die Leistung unter Mitwirkung des Adressaten, und hier werden implizite Vertragsinhalte erwartet, erfüllt und enttäuscht. Aufgrund dieser besonderen Leistungserstellung sind beide Vertragspartner darauf angewiesen, Vertrauen zu investieren. Faktoren wie die intrinsische Motivation oder das Professionsverständnis der Professionellen gewinnen vor diesem Hintergrund ein besonderes Gewicht, ebenso wie der zentrale Normenund Wertebezug der Organisation, der von den Professionellen als Zugangspunkte zum abstrakten System diakonischer Unternehmen im Sinne Anthony Giddens’ vorgelebt und vermittelt werden muss. Analysiert werden diese Beziehungen in der Dissertation aus der Perspektive der Neuen Institutionenökonomik. Vertrauen dient in der Perspektive der Prinzipal-Agent-Theorie als implizites Vertragselement funktional dazu, die Komplexität von Handlungen zu reduzieren und unsichere Erwartungen zu stabilisieren. Damit wird das Restrisiko eines Vertrags, das nach Einsatz expliziter Kontroll- und Sanktionsmechanismen immer noch besteht, absorbiert. Vertrauen wird jedoch immer vom Vertrauensgeber mit seiner je individuellen Risikoneigung und seinen subjektiven Erwartungen platziert. Dabei kann je nach Risikoneigung der Akteur auch auf den Einsatz expliziter Kontroll- und Sanktionsmechanismen bewusst verzichten. Vertrauen wird deshalb ökonomisch als bewusster Akt modelliert, in dem sich der Vertrauensgeber dafür entscheidet, sich verletzlich zu zeigen. Er tut dies in einem als rational charakterisierten Akt, durch Abwägung des Nutzens aus der möglichen Erfüllung des Vertrauens bei Verzicht auf explizite Kontroll- und Sanktionsmechanismen und dem Risiko von Vertrauensbrüchen. Dieser Vertrauenscharakter leitet sich aus dem diakonischen Selbst- und Hilfeverständnis ab: Menschen lassen sich aus der spontanen Begegnung mit anderen Menschen zu Hilfe motivieren. Dieser Akt der Nächstenliebe ist ein aus diakonischer Perspektive durch Gottesliebe ermöglichter Akt, in dem beide Akteure zugleich Gebende und Empfangende sind. Diakonisches Hilfehandeln als Vertrauensbeziehung. 151 Das aus christlichem Verständnis dabei im Mittelpunkt stehende zentrale Charakteristikum der Nächstenliebe hat ein theologisch-ethisches Hilfeverständnis geprägt, das universal verstanden und mit allgemein-menschlichen Hilfsmotiven konvergieren kann. Diakonisches Management hat die Aufgabe, Rahmenbedingungen zu schaffen, innerhalb derer eine so charakterisierte Leistungserstellung möglich wird. Dazu müssen sowohl die Konstitutionsbedingungen als auch die Funktion von Vertrauen Beachtung finden. Für ein theologisches Verständnis von Vertrauen sind dabei neben der Funktion von Vertrauen sowohl die Aspekte des Möglichkeitsgrunds als auch der Vollzug von Vertrauen in verschiedenen Dimensionen menschlichen Lebens zu betrachten. Vertrauen ist aus dieser Perspektive ein natürliches Daseinsphänomen, das menschlicher Steuerbarkeit weitgehend entzogen ist und bei dem die affektive Disposition und der Erfahrungshintergrund des Vertrauensgebers eine entscheidende Rolle spielen. Vertrauen ist gewissermaßen ein natürlicher Impuls menschlichen Lebens, der jedoch erst aufgrund des vorgängigen Vertrauens Gottes möglich wird. Gelingendes Vertrauen ist letztlich der Einbruch göttlicher Realität, ein Stück des Reiches Gottes im Hier und Jetzt des diesseitigen Lebens. Im Vergleich zum ökonomischen Vertrauensverständnis erweitert der theologische Vertrauensbegriff den Blickwinkel an zwei Stellen: Zum einen kommen die Konstitutionsbedingungen von Vertrauen in den Blick und zeigen ein weitgehend unverfügbares, natürliches Lebensphänomen. Zum zweiten kommen zu den Erfahrungsaspekten menschlichen Vertrauens auch affektive Aspekte hinzu. Der Risikobegriff muss in der Folge radikaler erfasst werden: Da der Freiheitsgrund menschlicher Handlungen letztlich unverfügbar bleibt, kann auch das vertrauensvollen Handlungen innewohnende Restrisiko nur näherungsweise bestimmt werden. Zur Anwendung kommt dieser Vertrauensbegriff in dieser Studie in drei Prinzipal-AgentBeziehungen innerhalb diakonischer Unternehmen: Zwischen dem Adressaten der Leistung und den Professionellen, zwischen den Professionellen und dem Management sowie zwischen dem Management und den Geldgebern des diakonischen Unternehmens. Bei der Analyse mittels des Prinzipal-Agent-Ansatzes zeigt sich, dass insbesondere die Leistungserstellung zwischen dem Adressaten der Leistung und dem Professionellen stark von impliziten Vertragselementen geprägt ist, da es sich um eine stark personenbezogene Leistungserstellung handelt. Aber auch die Beziehung zwischen dem Professionellen und dem Management ist in der Folge dieser spezifischen Leistungserstellung stark implizit geprägt. Schließlich sind Motivation und Qualität des Professionellen bei der Leistungserstellung entscheidend für die Glaubwürdigkeit des diakonischen Unternehmens. Ist die Leistungserstellung dergestalt stark von impliziten Vertragselementen geprägt, sollte die Finanzierung dieser Leistungserstellung ebenfalls stark implizite Elemente enthalten. Dies ist insbesondere deshalb erforderlich, weil diakonische Leistungserstellung von der spontanen 152 Tobias Staib Reaktion auf Notlagen Anderer geprägt ist. Starre, stark von expliziten Vertragselementen geprägte Finanzierungsformen schränken so den Aktionsradius ein. Vor diesem Hintergrund brauchen diakonische Unternehmen einen ausreichend großen, implizit geprägten Finanzierungsspielraum. Faktisch ist die Finanzierung diakonischer Unternehmen jedoch stark von expliziten Vertragselementen gekennzeichnet, auch wenn implizite Vertragsinhalte stets mit vorhanden sind. Am häufigsten sind dabei Finanzierungsformen gegenüber der öffentlichen Hand oder den Sozialleistungsträgern. Dort, wo das diakonische Selbstverständnis und die sozialstaatlich geregelte Bedarfsfinanzierung zur Deckung kommen, ist das unproblematisch und erwünscht. Diakonie übernimmt in diesem Fall subsidiär eine sozialstaatlich gewollte Aufgabe. Problematisch ist dies dann, wenn Diakonie tätig werden will, der Sozialstaat ihr aber nicht oder nicht mehr entsprechende Refinanzierungsmöglichkeiten bietet. Um sich weitergehende Gestaltungsmöglichkeiten zu erhalten, muss sich Diakonie in ihren Finanzierungsstrukturen breit aufstellen. Die am stärksten von impliziten Vertragselementen geprägte Finanzierungsbeziehung ist diejenige zwischen diakonischen Unternehmen und privaten Spendern. An diesem Beispiel illustriert die Studie abschließend, wie ein Vertrauensmanagement in Finanzierungsbeziehungen aussehen könnte. Dabei zeigt sich, dass hier Glaubwürdigkeit, Image und Transparenz als Vertrauenskriterien eine besondere Rolle spielen. Von der Glaubwürdigkeit des diakonischen Unternehmens hängt es ab, ob ein Geldgeber bereit ist, Vertrauen gegenüber dem Unternehmen zu platzieren und somit implizite Vertragselemente einzugehen. Zur Glaubwürdigkeit gehört es, im Spendengeschehen stets transparent zu machen, dass sowohl die Spende als auch die Verwendung der Spenden in einem spezifischen Kommunikationszusammenhang stehen, dem das diakonisch-theologische Selbstverständnis zugrunde liegt. Umgekehrt gilt es jedoch auch darauf zu achten, dass die Leistungserstellung dem Selbstverständnis entspricht. Es sollten daher keine Leistungen erbracht werden, die nicht mit dem diakonischen Selbstverständnis in Einklang zu bringen sind. 3. Diakoniewissenschaftliche Abschlussarbeiten (2012–2013) Spiritualität in der Diakonie – Bedeutung für die diakonische Praxis Nadia Abi-Haidar In dieser Thesis wird in der Auseinandersetzung mit der Fachliteratur unterschiedlicher Disziplinen die Einordnung von Spiritualität vorgenommen, ihre Hintergründe und Voraussetzungen, ihre Wirksamkeit und schließlich Ansätze der Vermittlung dargestellt. Zu Beginn wird auf die Basis der diakonischen Arbeits- bzw. Dienstbeziehungen eingegangen und die grundlegenden Ansprüche der Arbeitgebenden und die grundlegenden Bedürfnisse der Mitarbeitenden werden dargestellt. Diese Hauptansprüche sind auf Arbeitgeberseite Effektivität und Effizienz und die christliche Verortung der Mitarbeitenden. Für die Arbeitnehmerseite werden Sinnstiftung der Arbeit und gesundheitsgerechte Arbeitsbedingungen ausgeführt. Zur Umsetzung dieser Interessen ist eine dementsprechend förderliche Unternehmenskultur notwendig. Ein wichtiges Element einer solchen Kultur ist die Möglichkeit, die Ziele der Organisation und die Ziele des Einzelnen abzugleichen. In dieser Thesis wird auch dargestellt, dass hinter jedem Ziel Motive stehen, die wiederum auf einem Sinn fußen. Dabei kann die Diakonie als kirchliche ‚Wesensäußerung‘ bzw. Institution Hilfestellung und Orientierung geben. Nach einer Kurzdarstellung von gesundheitsgerechten Arbeitsbedingungen, die verhindern sollen, dass Mitarbeitende körperlich oder psychisch geschädigt werden, wird der Schwerpunkt auf die psychischen Aspekte der Gesundheit gelegt. Hier werden Präventions- und Bewältigungsmöglichkeiten erläutert. Dabei wird als Deutungsmöglichkeit die Spiritualität als eine besonders wichtige Sinnquelle angeführt. Es wird ausgeführt, was unter Spiritualität zu verstehen ist, warum sie eine wichtige Sinnstiftungsfunktion einnimmt und wie sich christlich motivierte von der psychologisch definierten Spiritualität unterscheidet. Dabei wird ein besonderes Augenmerk auf die Wirksamkeit von Spiritualität in Hinblick auf die Gesundheit gelegt. Gleichzeitig wird kritisch hinterfragt, ob Spiritualität unreflektiert in der Gesundheitsprävention eingesetzt werden darf. Zum Abschluss der Thesis werden Anregungen zur Vermittlung von Spiritualität geben. Abschlussarbeit im berufsbegleitenden Masterstudiengang „Unternehmensführung im Wohlfahrtsbereich“. Seelsorge in einer diakonischen Organisation Theoretische Grundlagen und praktische Entwicklung im Cecilienstift Halberstadt Hannah Becker Anliegen dieser Arbeit ist es, der Seelsorge in einer diakonischen Organisation einen angemessenen Platz einzuräumen. In der Praxis einer diakonischen Organisation wird Seelsorge oft für nebensächlich gehalten, während als Hauptsache die fachlich definierte spezifische Aufgabe gilt. Seelsorge als Hilfebedarf ist nicht vorgesehen; Hilfebedarf wird eng angelehnt an das entsprechende Sozialgesetzbuch beschrieben, weil die Sozialbehörde als Leistungsträgerin der diakonischen Organisation nur beschriebene Leistungen entgilt. Andererseits suchen erfahrungsgemäß Menschen in diakonischen Organisationen Seelsorge und messen dieser einen hohen Wert bei. Die Masterarbeit stellt einen Ansatz vor, Seelsorge in die Gestaltung der diakonischen Arbeit zu integrieren und setzt bei theoretischen Grundlagen an. Erkenntnisse aus Managementlehre und Theologie werden auf die diakonische Organisation angewandt. Auf der Grundlage des St. Galler Management-Modells werden Anspruchsgruppen, Interaktionsthemen und Werte in einer diakonischen Organisation dargestellt. Dabei wird die starke Einflussmöglichkeit reflektierter Kommunikation innerhalb einer Organisation herausgearbeitet. Diakonie und Seelsorge werden als Interaktionen entfaltet, als kirchliche Aufgaben sowohl hinsichtlich der Mitarbeitenden als auch der Adressaten des Hilfehandelns. Dabei wird Seelsorge als Chance der Beteiligten dargestellt, als unverfügbares Subjekt eigenen Möglichkeiten vor Gott nachzugehen. Eine Umfrage unter den Mitarbeitenden (mit und ohne Kirchenzugehörigkeit) zur Bewertung des eigenen Glaubens und des diakonischen Profils der eigenen Organisation wird beschrieben: Sie zeigt hohe Aufmerksamkeit Mitarbeitender für sinnorientierte Kommunikation. Vielfach wird der Seelsorge-Bedarf an Mitarbeitenden, Anvertrauten und deren Angehörigen ausgedrückt – gleichermaßen von Mitarbeitenden mit und ohne Kirchenzugehörigkeit. Davon ausgehend werden konzeptionelle Überlegungen zu einem werteorientierten Gestaltungsprozess, nämlich zur strukturellen und inhaltlichen Entwicklung von Seelsorge angestellt; es werden normative Ziele entwickelt und überprüfbare Kommunikationsabläufe entworfen. Abschlussarbeit im berufsbegleitenden Masterstudiengang „Führung in Diakonie und Kirche“. Die Organisationsstruktur und -identität lutherischer Hilfsorganisationen in den USA Eine exemplarische Untersuchung von Lutheran Services in America (LSA) und ausgewählten Mitgliedsorganisationen Teresa Anna Katharina Beisel Das liberale US-amerikanische Sozial- und Wohlfahrtssystem gilt im weltweiten Vergleich als nicht besonders gut ausgebaut.1 Trotz der Trennung von Kirche und Staat nahmen religiös basierte Non-Profit-Organisationen (NPOs), sogenannte Faith-based Organizations (FBOs),2 stets eine feste Rolle im Sozialwesen der Vereinigten Staaten von Amerika ein. 3 Inzwischen gehören christlich motivierte Hilfsorganisationen, wie die unter Lutheran Social Services zusammengefassten lutherischen Hilfsorganisationen, zu den größten institutionalisierten Hilfegebern in den USA und tragen damit maßgeblich zur Ausgestaltung des Sozialwesens bei. Durch das Charitable Choice Gesetz, das im Zuge der Wohlfahrtsreform im Jahr 1996 beschlossen wurde, konnten religiöse Hilfsorganisationen erstmals Staatsmittel für soziale Hilfsprogramme beantragen und dabei ihre religiöse Identität rechtlich abgesichert frei ausleben. 4 Spätestens seitdem bestehen vielfältige Verbindungen zwischen dem Staat und den religiös basierten Hilfseinrichtungen. Im Rahmen der Masterthesis werden zwei forschungsleitende Fragen gestellt: 1. Wie agieren und formieren sich christlich orientierte Hilfsorganisationen in der säkularen USamerikanischen Gesellschaft? 2. Wie zeigt sich die religiöse Organisationsidentität? Exemplarisch werden lutherische Hilfsorganisationen betrachtet, bei denen es sich um heterogene Organisationen handelt, die sich in diversen sozialen Bereichen engagieren. In ihrem Unternehmensprofil stehen sie permanent in der Spannung zwischen einerseits ihrem Dasein als religiöse Institution und andererseits als wirtschaftliches Unternehmen, das sich auf dem freien Markt behaupten muss und unter politischen Restriktionen steht. Weiterhin bewegen sich die lutherischen FBOs in gesetzlichen Grauzonen, da sie für die sozialen 1 2 3 4 Masterarbeit im europäischen Masterstudiengang „Diakonie – Führungsverantwortung in christlich-sozialer Praxis“. Vgl. John Myles, When Markets fail: Social Welfare in Canada and the United States, in: Gøsta EspingAndersen (Hg.), Welfare states in transition. National adaptations in global economies, London/Thousand Oaks/New Delhi 1996, 121 und 382; vgl. zur Einordnung des Wohlfahrtssystems in den USA als liberal: Gøsta Esping-Andersen, The Three Worlds Of Welfare Capitalism, Cambridge 1990. Für diesen englischen Begriff gibt es keine stimmige Übersetzung ins Deutsche. Vgl. Stephanie Boddie/Ram Cnaan (Hg.), Faith-Based Social Services. Measures, Assessments, and Effectiveness, Binghamton 2006, 19. Vgl. Alexander-Kenneth Nagel, Charitable choice: religiöse Institutionalisierung im öffentlichen Raum. Religion und Sozialpolitik in den USA, Hamburg 2006, 12; vgl. Boddie/Cnaan, 6. Die Organisationsstruktur und -identität lutherischer Hilfsorganisationen in den USA 157 Hilfsprogramme zwar unter anderem staatliche Gelder beziehen, Personalfragen in den Führungsetagen dennoch oftmals nach Religionszugehörigkeit entschieden werden. Das USamerikanische Gesetz bietet in diesem Bereich verschiedene Interpretationsansätze, die nicht immer klar einzuordnen sind. Sind die FBOs einerseits dazu berechtigt, religiös gleich gesinntes Personal einzustellen, darf gleichzeitig nicht aufgrund von Religionszugehörigkeit diskriminiert werden.5 Diese Tatsache wirft die Frage nach der lutherischen Identität der FBOs auf: Wodurch zeichnen sich beispielsweise die Lutheran Social Services-Community Care Centers als evangelisch aus und wo findet man die lutherischen Züge von Lutheran Social Services of Northern California im Arbeitsalltag zwischen Case Management und Finanzberatung? Der Stand der wissenschaftlichen Forschung weist große Lücken auf: Existierende Texte zu den Organisationen Lutheran Services of America (LSA), Lutheran Social Services- Community Care Centers (LSSCCC),6 Lutheran Social Services of Northern California (LSS) und New City Parish (NCP) wurden entweder eigens von den Organisationen als Informationsmaterial zur Selbstdarstellung herausgegeben oder es handelt sich um journalistische Artikel in Lokalzeitungen und Magazinen. Es sind darüber hinaus keine vergleichenden Studien und Untersuchungen des Forschungsgegenstands vorhanden, was für meine Arbeit bedauerlich ist, da Vergleichswerte fehlen. Ein Grund für dieses „Forschungsleck“ könnte darin liegen, dass die lutherischen Hilfsorganisationen in den USA kein hochorganisiertes System sind. Auch der Forschungsstand zu FBOs als Untergruppierung der NPOs im Kontext politischer Restriktionen und Rechte ist nur schwach ausgebaut. Die Erforschung der organisierten, religiös geprägten sozialen Hilfe wurde in der Wissenschaft lange Zeit vollständig vernachlässigt: „Many concepts are not well defined, credibility of many methods is doubtful, and years of research are sorely missing.”7 Verfügbare Studien zu FBOs beschäftigten sich mit der Effektivität der religiös motivierten Hilfeleistungen8 und mit religiös basierten Schulen. 9 Aufgrund sozialpolitischer Reformen sind die mir vorliegenden Studien teilweise zudem nicht mehr auf aktuelle Rahmenbedingungen anwendbar und dienen daher lediglich zum Vergleich. Spezifische Forschung zur Herstellung und Aufrechterhaltung von Religiosität als grundlegendem Faktor der Organisationsidentität in FBOs ist nach meiner Recherche kaum 5 6 7 8 9 Vgl. Ted Jelen, To serve God and the Mammon. Church-State Relations in American Politics, Washington D.C. 2010², 91; vgl. Solomon, Lewis, In God we trust? Faith-based organizations and the quest to solve America's social ills, Oxford 2003, 138. Die Organisation hatte kurz vor der Durchführung des Interviews eine Namensänderung vorgenommen von Lutheran Social Services of Southern California in LSS Community Care Centers Lutheran Social Services of Southern California (LSSCCC), vgl. www.lssccc.org/about-2, (Stand September 2011). In den Interviews und in den Organigrammen ist die Organisationsbezeichnung daher teilweise unterschiedlich. Boddie/Cnaan, 7. Vgl. hierzu beispielsweise Boddie/Cnaan, und Julie Adkins/Laurie Occhipinti/Tara Hefferan (Hg.), Not by Faith Alone. Social Services, Social Justice, and Faith-Based Organizations in the United States, Lanham 2010, 26 f. Vgl. hierzu beispielsweise Charles Glenn, The Ambiguous Embrace Government and Faith-Based Schools and Social Agencies, Princeton/Oxford 2000. 158 Teresa Anna Katharina Beisel vorhanden.10 Zu den lutherischen FBOs im Speziellen existiert keinerlei wissenschaftliche Literatur. Daher handelt es sich bei der gewählten Thematik um eine Exploration von bisher weitgehend unerforschten Strukturen. Für eine umfassende Untersuchung der Tätigkeiten müsste in einem Forschungsteam ein langfristig angelegter Survey durchgeführt werden.11 Das Vorgehen der Arbeit ist in drei Teile untergliedert: In Teil I stehen politische, soziale und religiöse Strukturen in den USA im Fokus. In Kapitel 2 werden die politischen Rahmenbedingungen des US-Wohlfahrtssystems dargelegt, in dem die lutherischen Hilfsorganisationen agieren. Dabei wird zunächst die Triade Staat – Kirche – Wohlfahrt beleuchtet und es werden die vielfältigen Relationen unter- und zueinander erläutert. In einem nächsten Schritt werden Funktion und rechtlicher Status von NPOs im Allgemeinen und den FBOs im Speziellen dargelegt. Abschließend werden die relevanten Synoden Evangelical Lutheran Church of America (ELCA) und Lutheran Church Missouri Synod (LCMS) sowie die lutherische Hilfstradition in den USA betrachtet. Es folgt mit Kapitel 3 eine organisationsstrukturelle Betrachtung ausgewählter lutherischer Hilfsorganisationen. An die Darlegung der Auswahlkriterien schließt sich die Beschreibung von LSA und ausgewählter Mitgliedsorganisationen LSSCCC, LSS und NCP an. In Teil II der Arbeit erfolgt die Untersuchung der Organisationsidentität der ausgewählten lutherischen Hilfsorganisationen und damit die theoretische und methodologische Grundlegung der empirisch fundierten Analyse zur Identitätsstruktur der Dachorganisation LSA und der Mitgliedsorganisationen LSSCCC, LSS und NCP. Dabei wird zunächst das dieser Arbeit zugrunde gelegte Theorem zur organisationalen Identität mithilfe von Niklas Luhmanns Systemtheorie erörtert. Nach der Darstellung dieser Theorie erfolgt eine exemplarische Analyse zur Organisationsidentität der ausgewählten lutherischen Hilfsorganisationen in zwei Analyseschritten. Zunächst werden die offiziellen Webpräsenzen der Organisationen, auf denen insbesondere das dort veröffentlichte Leitbild (mission statement) Aufschluss über die Selbstdarstellung der Organisationsidentität gibt, näher betrachtet. In Kapitel 6 wird dargelegt, weshalb das Durchführen von Interviews mit Führungskräften in den Hilfsorganisationen ein notwendiger Schritt im Forschungsprozess ist. Unter Kapitel 7 wird die methodologische Einordnung der empirischen Forschung vorgenommen und begründet. In Kapitel 8 geht es darum, den Forschungsprozess transparent zu machen. Zunächst werden der zeitliche Ablauf der Befragung sowie die Entwicklung des Leitfadens für die Interviews dargestellt, um dann auf Schwierigkeiten im Feld hinzuweisen und Anmerkungen zum Transkriptionsprozess zu geben. Daran schließt sich die Datenauswertung der Interviews mithilfe von Ralf Bohnsacks dokumentarischer Methode an. Diese Methode 10 11 Vgl. hierzu beispielsweise Scott Fitzgerald, Religious Organizational Identity and Environmental Demands, Lanham 2010, und Nagel 2006. Vgl. zu Surveys im organisationalen Kontext beispielsweise Rainhart Lang, Organizational Survey, in: Stefan Kühl/Petra Strodtholz/Andreas Taffertshofer, Handbuch Methoden der Organisationsforschung. Quantitative und Qualitative Methoden, Wiesbaden 2009, 435–457. Die Organisationsstruktur und -identität lutherischer Hilfsorganisationen in den USA 159 fand bisher vornehmlich in der Erziehungs- und Sozialwissenschaft ihre Anwendung und beschäftigte sich unter anderem mit der Auswertung von biografischen und offenen Interviews.12 Anschließend erfolgt die Beschreibung des Auswahlprozesses der Führungskräfte. In Kapitel 9 wird die Fremdbeschreibung der Organisation in der Wahrnehmung der Führungskräfte dargestellt. Zunächst werden die fallbezogenen Einzelergebnisse nacheinander vorgestellt. Darauf aufbauend erfolgt die sinngenetische Typenbildung mithilfe einer komparativen Analyse. Die Grenzen der Untersuchung werden als Abschluss des Kapitels aufgezeigt. In Teil III der Arbeit sind die Gesamtergebnisse aus Teil I und Teil II zusammengeführt. Die organisationsstrukturelle Betrachtung ergab, dass generalisierende Aussagen über die Struktur der lutherischen Organisationen schwer zu treffen sind. Der US-amerikanische Gesetzesdschungel mit den unterschiedlichen Regelungen in den Einzelstaaten sowie die differenten theologischen Grundlegungen und Verbindungen zu verschiedenen Synoden erschweren eine homogene Betrachtung auf solider Grundlage. Alle lutherischen Hilfsorganisationen sind jedoch mit mindestens einer der beiden Synoden ELCA und LMCS verbunden. Wendet man die Typologie von FBOs auf LSA, LSSCCC, LSS und die jeweiligen Unterorganisationen sowie NCP an, können sie als faith-affiliated, faith-centered und faith-permeated kategorisiert werden. NCP könnte unter zwei Kategorien, nämlich unter faith-permeated oder auch unter faith-centered fallen. Dies macht auch Schwachpunkte existierender Typologien von FBOs sichtbar, die entweder offen bleiben oder sich in zu vielen Details verlieren. 13 Insgesamt ist daher festzuhalten, dass die lutherischen Hilfsorganisationen auf struktureller Ebene sehr heterogen sind. Zur Beantwortung der Forschungsfrage nach der religiösen Organisationsidentität zeigten die Leitbild-Analysen Differenzen und Parallelen zwischen den Selbstbeschreibungen der lutherischen Hilfsorganisationen auf. Das Erscheinungsbild der Webpräsenzen ist je nach Hilfsorganisation sehr unterschiedlich gestaltet. Es gibt kein einheitliches Emblem, das für alle gültig ist und somit eine visualisierte Zusammengehörigkeit symbolisieren würde. Manche lutherischen Hilfsorganisationen kommunizieren ihre christliche Identität deutlicher als andere. Keine der Hilfsorganisationen geht speziell auf die lutherische Identität in ihren Slogans ein. Diese wird jedoch in den Fließtexten durchaus mitgeteilt. Der größte gemeinsame Nenner sind die gemeinsamen Werte, die die Organisationen mehrheitlich teilen. In den herausgebildeten Typologien wurde deutlich, dass die Führungskräfte der lutherischen Hilfsorganisationen ihre Aufgaben mit einem hohen Maß an Professionalität sowie einer hohen Erwartungshaltung an sich selbst ausfüllen. Dabei ist ihnen wichtig, ihren Glauben 12 13 Vgl. Ralf Bohnsack, Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Sozialforschung, Wiesbaden 2007, 31. Vgl. Julie Adkins/Laurie Occhipinti/Tara Hefferan (Hg.), Not by Faith Alone. Social Services, Social Justice, and Faith-Based Organizations in the United States, Lanham 2010, 5 ff. 160 Teresa Anna Katharina Beisel authentisch ausleben zu können – ob als Lutheraner oder Sufistin. Es hat sich eine starke Verwurzelung im persönlichen Glauben der Führungskräfte gezeigt. Diese Glaubensverbundenheit ist Hauptmotivationsfaktor, die Stelle als Führungskraft in der jeweiligen Organisation auszuüben. Es besteht eine Übereinstimmung zwischen der eigenen Erwartung und der Erwartungshaltung den Mitarbeiter(inne)n gegenüber: Keine der Führungskräfte thematisiert den lutherischen Glauben als Doktrin, die das Personal als „Anweisung von oben” ausleben soll. Sie erwarten eher eine Loyalität und eben genau dieselbe Authentizität, die sie von sich selbst gegenüber den Organisationszielen und -werten erwarten. Gleichzeitig besteht eine große Toleranz und Offenheit gegenüber andersgläubigen Mitarbeiter(inne)n und Hilfeempfänger(inne)n. Die Organisation ist wie eine Familie, in der die Führungskraft Sorge für die Mitarbeiter(innen) trägt. Dabei liegt der Fokus nicht darauf, dass alle gleich sind, sondern dass alle auf ihre eigene Weise für dieselbe Sache eintreten. In den Interviews wurde signifikant, dass es vielen Befragten schwerfiel, konkrete Fragen nach der Organisationsidentität auf Anhieb zu beantworten. Einheitlich zeigten sich die Führungskräfte jedoch darüber einig, dass ihnen eine besondere Rolle bei der (Aus-)Bildung der lutherischen Organisationsidentität zukommt. Abschließend lässt sich festhalten, dass sich die lutherischen Hilfsorganisationen der Herausforderung stellen müssen, sich selbst im Wohlfahrtssystem zu platzieren und nach außen zu profilieren. Weiterhin stellt sich ihnen die Aufgabe, sich trotz der hohen Diversität und der komplexen Gesetzesvorgaben sowohl auf struktureller als auch auf inhaltlicher Ebene in einem System zu organisieren, um sich austauschen und gegenseitig stärken zu können. Um eine Position beziehen zu können, bedarf es jedoch einer gefestigten Identität, die sich durch das Aufzeigen, Annehmen und Wahrnehmen der Differenz konturiert. Keine leichte Aufgabe angesichts der gravierenden Veränderungen im Wohlfahrtssystem, die in Folge der Finanzkrise im Jahr 2008 aufgetreten waren.14 Die Organisationsidentität und -struktur US-amerikanischer christlich-basierter Hilfsorganisationen ist ein hochkomplexer Forschungsbereich, der bisher weitgehend unbeachtet ist und weiterhin relevante Aktualität aufweist. 14 Vgl. Josef Schmid, Wohlfahrtsstaaten im Vergleich. Soziale Sicherung in Europa. Organisation, Finanzierung, Leistungen und Probleme, Wiesbaden ³2010, 67. Die Notwendigkeit von diakonischen Projekten als Grundlage für die Zukunftsfähigkeit von Kirchengemeinden dargestellt am Projekt „Essensbank“ der Evangelischen Brückengemeinde Heldenbergen Oswald Beuthert Ausgehend von der Beobachtung und der daraus gefolgerten Grundannahme, dass diakonische Projekte für eine Kirchengemeinde belebend, die biblische Botschaft verkündend und damit für eine gute zukünftige Entwicklung notwendig sind, wurde in der Masterarbeit der Frage nachgegangen, inwiefern diakonische Projekte zum Kern einer Kirchengemeinde gehören müssen. Beispielhaft wurde dies immer wieder an der Evangelischen Brückengemeinde Heldenbergen und ihrem Projekt Essensbank aufgezeigt. Anhand der vier Grunddimensionen der Kirche koinonia, martyria, diakonia, leiturgia wurde herausgearbeitet, dass eine Kirchengemeinde grundsätzlich eine Offenheit gerade auch für diakonische Projekte haben muss. Denn die Diakonie ist die Grunddimension der Kirche, die für die angesprochenen Menschen einerseits die unverbindlichste Form und andererseits auch eine mit viel Sinnhaftigkeit ausgestattete Glaubensäußerung darstellt. Alle anderen Grunddimensionen von Kirche setzen Glauben zumindest voraus. Diakonia dagegen kann Glauben wirken ohne ihn anfangs vorauszusetzen jedenfalls deutlicher und leichter als die anderen Grunddimensionen. Wie die Einbindung der Diakonie in eine Kirchengemeinde geschehen kann, wurde anhand verschiedener gemeindediakonischer Modelle herausgearbeitet. Jürgen Moltmann versteht Diakonie als eine Kernaufgabe der Kirchengemeinde. Werks- und Anstaltsdiakonie müssen hier dienende Funktionen übernehmen und haben die Aufgabe, die Gemeindediakonie zu stärken. Kritisch zu betrachten ist Moltmanns Modell im Hinblick auf die heutigen volkskirchlichen Strukturen der Kirche. Grundlage der Volkskirche ist, dass jedes Glied der Kirche seinen eigenen Zugang und seine eigene Nähe oder eben auch Distanz zum Glauben selbst bestimmt. Hierbei wird seitens der Kirche jedoch zwischen den einzelnen Gliedern kein Unterschied gemacht. Ulrich Bach entwickelt sein Modell auch aufgrund eigener Erfahrungen als Behinderter. Hierbei kristallisiert sich für ihn als Kernfrage heraus, wie wir von Gott reden. Denn in der Rede von Gott wird deutlich, wer Gott für den Menschen ist, ein Gott der Sicherheit oder tatsächlich ein Gott, mit dem wir in einer personale Beziehung treten. Grundlegend für seine Sichtweise von Gemeindediakonie ist, dass Gott ein Gott von Unten ist. Hier begegnet er den Abschlussarbeit im berufsbegleitenden Masterstudiengang „Unternehmensführung im Wohlfahrtsbereich“. 162 Oswald Beuthert Menschen. Gemeindediakonie ist dann nach Bach nicht einfach die soziale Arbeit der Kirche. Ebenso ist sie nicht einfach um die Motivation zu diesem Tun ergänzt. Vielmehr ist Diakonie eine Durchdringung des ganzen Lebens des Christen, die ganz in sein Leben implementiert wird. Durch diesen Ansatz wird Diakonie in einem ersten Schritt zu einer individuellen Lebenseinstellung. Sie setzt voraus, dass der Mensch vom Glauben durchdrungen ist. In der volkskirchlichen Wirklichkeit ist dies jedoch ein sehr ideeller Ansatz, da sich viele zwar der Kirche zugetan und zugehörig fühlen, es aber nicht so leben, wie es nach Bach notwendig wäre. Paul Philippi geht in seinem christozentrischen Ansatz davon aus, dass Diakonie mitten in die Gemeinde gehört, die christusförmig werden soll. Denn Christus selbst, auf den sich die Gemeinde zurückführt, war nach Mk 10,45 bzw. Mt 20,28 gekommen, um zu dienen. Dienlich ist ihm zur Darstellung hier das Bild der Gemeinde als Leib. Philippi betont dabei, dass das schwächste Glied im Mittelpunkt steht. Die diakonische Ausrichtung wird dabei zum Erkennungszeichen der Christen in der Welt. Sichtbar wird die diakonische Ausrichtung Aufgrund der Erfahrung mit dem Projekt der Essensbank konnte aufgezeigt werden, dass diakonische Projekte in einer Kirchengemeinde zweierlei bewirken können: Identifikation mit der Kirchengemeinde und deren Zielen sowie nachhaltige Bindung der Menschen an die Kirchengemeinde und ihre Ziele. Beides, die Identifikation und die Nachhaltigkeit sind unerlässlich für die Entwicklung einer Kirchengemeinde, will sie zukünftig nicht schrumpfen und immer mehr gezwungen sein, Arbeitsbereiche aufzugeben. Diakonische Projekte sind dabei in der Lage, Glaube als lebendigen Glauben darzustellen. Um diese Chancen zu eröffnen, ist es notwendig, dass eine Kirchengemeinde grundsätzlich die Offenheit für neue Ideen besitzt, die sich zuerst darin zeigt, dass es Strukturen des Zuhörens gibt. Abschließend lassen sich fünf Thesen aufstellen: 1. Um heutige volkskirchliche Strukturen auch in Zukunft aufrechterhalten zu können, benötigt die Kirche eine lebensrelevante und lebensnahe Vermittlung des christlichen Glaubens. 2. Diakonia ist die Grunddimensionen der Kirche, in der sie den Menschen vorbehaltlos begegnet und in der Menschen der Kirche ebenfalls vorbehaltlos begegnen können. Hierbei wird jede Begegnung zu einer Glaubenserfahrung. 3. Diakonische Projekte üben für Außenstehende eine starke Anziehungskraft zur Mitarbeit aus. Die Sinnhaftigkeit der Projekte muss in der Regel nicht hinterfragt werden, sondern erklärt sich aus sich selbst heraus. 4. Diakonisch tätige Gemeinden vernetzen sich allein durch ihre Tätigkeit für Andere in ihrem Gemeinwesen. Durch eine gute Vernetzung ist es leichter, gute Arbeit zu tun und Außenstehende in diese Arbeit mit einzubeziehen. 163 5. Planvolles Gestalten der eigenen Arbeit fördert und erweitert die eigene Handlungsfähigkeit. Denn wer weiß, was das Ziel ist und wie er es erreichen will und kann, der reagiert nicht mehr nur, sondern agiert. Die Thesen machen deutlich, dass diakonische Projekte eine eigene Dynamik in eine Kirchengemeinde bringen. Eine große Schwäche der Kirchengemeinden ist oftmals, dass sie nur reagieren und deswegen zeitverzögert auf gesellschaftliche Entwicklungen eingehen können. Durch diakonische Projekte und sich daraus ergebende Strukturen des Zuhörens kann eine Kirchengemeinde näher bei den Menschen sein und gezielter gesellschaftliche Entwicklungen in die eigene Arbeit einbeziehen. Eine moderne Kirchengemeinde gewinnt ihre Modernität nicht aus einem modernen äußeren Erscheinungsbild, sondern aus der Nähe zu den Menschen, die zu ihr gehören und in ihrem Umfeld leben. Einsatz der Prozesskostenrechnung zur Verbesserung der Qualität und Kosten von Gottesdiensten in der Evangelischen Kirchengemeinde Stuttgart-Zuffenhausen Matthias Essig Motivation: Die evangelische Kirchengemeinde Stuttgart – Zuffenhausen hatte in den letzten Jahren mit zurückgehenden Kirchensteuermitteln und mit zurückgehenden Gemeindegliederzahlen zu kämpfen. Die Kosten für den laufenden Unterhalt und die Bewirtschaftung der Gottesdiensträumlichkeiten steigen stetig. Daneben müssen alle Kirchengemeinden in Württemberg seit 2010 für alle Gebäude eine Abschreibung auf den eingesetzten Eigenmittelanteil erbringen. In der Summe belaufen sich die Abschreibungen für alle Gebäude der Kirchengemeinde auf 76.000 Euro jährlich, die Summe der Abschreibungen für die Kirchen auf 25.000 Euro. Die Anzahl der sonntäglichen Gottesdienste ist in den letzten 10 Jahren mit 4 Gottesdiensten an 4 Predigtstellen konstant geblieben. Ziel: Die Kirchengemeinde kann sich den Unterhalt der 3 Kirchen und des Gottesdienstraums „In der Sandgrube“ dauerhaft nicht leisten. Nunmehr muss eine Entscheidung getroffen werden, in welcher Qualität und Häufigkeit und zu welchen Kosten der sonntägliche Gottesdienst in der evangelischen Kirchengemeinde Stuttgart – Zuffenhausen dauerhaft angeboten werden kann. Methode: „[Die Prozesskostenrechnung] will durch die detaillierte Analyse aller Tätigkeiten Kostentransparenz in den indirekten Leistungsbereichen schaffen, indem sie konkret aufzeigt, welche Kosten in den Kostenstellen für welche Aktivitäten (Prozesse) anfallen.“1 Im Bereich der kirchlichen Dienstleistung kommt hinzu, dass die meisten Produkte kostenfrei angeboten werden. Daher ist z.B. eine Zielkostenrechnung schwierig, da die Zielkosten ohne Vergleichsmaßstab festgelegt werden müssen. Im Bereich des Gottesdienstes ist zu beachten, dass geklärt werden muss, welche Kosten betrachtet werden, die Kosten des Gottesdienstes, oder die Kosten je Gottesdienstbesucher. Zentraler Baustein: Berechnung von Ist-Prozesskostensätzen: Die Berechnung ermöglicht eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Prozesskostenrechnung und der kirchlichen Organisation. Neues Soll-Konzept: Das neue Konzept beinhaltet die Aufgabe des Gottesdienstraums „In der Sandgrube“. Daneben werden weiterhin zwei Gottesdienste in der Kernstadt und einer in 1 Abschlussarbeit im berufsbegleitenden Masterstudiengang „Unternehmensführung im Wohlfahrtsbereich“. Andreas Schmidt, Prozesskostenrechnung. Grundlagen der Vollkosten-, Deckungsbeitrags- und Plankostenrechnung sowie des Kostenmanagements, Stuttgart 52008, 222. Einsatz der Prozesskostenrechnung zur Verbesserung der Qualität und Kosten von Gottesdiensten 165 Neuwirtshaus angeboten. Die Pauluskirche wird als Zentralkirche aufgewertet. Die Anzahl der Gottesdienste insgesamt soll auch durch eine Straffung des Angebots reduziert werden. Ergebnis: Die Umsetzung des neuen Soll-Konzeptes wird Einsparungen in Höhe von 38.300 Euro erbringen. Dabei wird die Qualität beibehalten, indem es sowohl einen frühen wie auch zwei spätere Gottesdienste gibt, und die Kundenbindung gestärkt. Das Ziel, Kostenreduktion bei gleichbleibender Qualität ist erreicht. Fazit: Die Prozesskostenrechnung kann auch im staatlichen und kirchlichen Bereich eingesetzt werden. Also in Bereichen, in denen es im Gegensatz zu Non-Profit-Organisation keine Leistungsentgelte gibt, sondern nur Steuereinnahmen, die nicht einer bestimmten Einrichtung oder Leistung zugeordnet werden. Im Rahmen der Prozesskostenrechnung ist der entscheidende Erkenntnisschritt, die Beschäftigung mit dem Prozess und die Klärung, welche Tätigkeiten dem Prozess zugeordnet werden können. Dies ist fast entscheidender als der Betrag, der auf den Prozess entfällt. Mobilität und soziale Teilhabe am Beispiel der Bahnhofsmission Claudia Graf Rund 90% der deutschen Bevölkerung gehen täglich außer Haus, um Aufgaben zu erledigen, Bedürfnisse zu befriedigen, Verpflichtungen nachzukommen oder um etwas über sich zum Ausdruck zu bringen.1 Verkehrsmobilität ist ein gesellschaftsumspannendes Phänomen. Soziologen sind sich heute weitgehend darüber einig, „dass moderne Gesellschaften mobile und mobilisierende Vergesellschaftungen sind, also Mobilität und Verkehr zu ihren konstitutiven Merkmalen gehören.“2 Mobilität, als der Möglichkeitsrahmen von Personen, Gütern oder Informationen, Raum in physischer, aber auch geistiger und sozialer Art zu überwinden,3 erhält darin meist eine überwiegend positive Konnotation. In einer differenzierten Betrachtung von Mobilität rücken jedoch auch Negativauswirkungen in den Aufmerksamkeitsfokus, die vor allem aus einer Diskrepanz zwischen Mobilitätsbedürfnissen bzw. einem Mobilitätsbedarf sowie den tatsächlichen Mobilitätsmöglichkeiten entstehen. Eine der umfangreichsten Folgen, so die Grundthese der verfassten Arbeit, liegt in den Auswirkungen einer eingeschränkten Mobilität auf die Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe. Damit versucht die Arbeit, eine Lücke in der Verbindung zwischen den jeweils getrennten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Teilhabe und Mobilität zu schließen. Die Möglichkeit zur Teilnahme an der mobilen Gesellschaft erhält ihre individuelle und gesellschaftliche Relevanz, so wird in der Arbeit herausgestellt, aufgrund der dadurch eröffneten Chance des Zugangs zu sozialen und ökonomischen Prozessen der Gesellschaft. Mobilität wird zur Notwendigkeit, um die Bedürfnisse des Alltags zu befriedigen. Den größten Anteil der durchschnittlich zurückgelegten Wege nimmt mit 32 % die Freizeitmobilität ein. Weitere 27 % der Wege erfolgen im Rahmen der Arbeit oder Ausbildung. 4 Damit wird Mobilität Bestandteil der sozialen Integration und systemischen Inklusion von Menschen. Sie fungiert als Zubringerdienst zu Orten gesellschaftlicher Teilhabe und eröffnet Lebenschancen. 5 Darüber hinaus wird in der Arbeit ein Bild von Mobilität gezeichnet, in welchem dieser in einer 1 2 3 4 5 Masterarbeit im europäischen Masterstudiengang „Diakonie – Führungsverantwortung in christlich-sozialer Praxis“. Vgl. Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Hg.), Mobilität in Deutschland 2008. Ergebnisbericht. Struktur – Aufkommen – Emissionen – Trends, Berlin/Bonn 2010, 23. Online verfügbar unter: www.mobilitaetindeutschland.de/pdf/MiD2008_Abschlussbericht_I.pdf (Stand: 02.05.2013). Wolf Rosenbaum, Mobilität im Alltag – Alltagsmobilität, in: Oliver Schöller/Weert Canzler/Andreas Knie (Hg.), Handbuch Verkehrspolitik, Wiesbaden 2007, 549–572: 555. Thomas Zängler, Mikroanalyse des Mobilitätsverhaltens in Alltag und Freizeit, Berlin u. a. 2000, 19. Vgl. Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Mobilität, 28. Vgl. Sven Altenburg/Philine Gaffron/Carsten Gertz, Teilhabe zu ermöglichen bedeutet Mobilität zu ermöglichen. Diskussionspapier des Arbeitskreises „Innovative Verkehrspolitik“ der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2009, 8. Online verfügbar unter: library.fes.de/pdf-files/wiso/06482.pdf (Stand: 05.05.2013). Mobilität und soziale Teilhabe am Beispiel der Bahnhofsmission 167 zunehmend ausdifferenzierten Gesellschaft eine reintegrative und damit unabdingbare Funktion zugeschrieben wird.6 Unfreiwillige Immobilität hingegen erschwert den Zugang zur Bedürfnisbefriedigung und Willensäußerung. Die Arbeit setzt sich in erster Linie mit möglichen Negativauswirkungen von Mobilität sowie Immobilität auf den Menschen auseinander. Neben einem aus beruflichem oder sozialem Kontext heraus empfundenen Zwang, mobil zu sein, wird Mobilität vor allem dann als Stressmoment empfunden, wenn „ein Ungleichgewicht zwischen den Umweltanforderungen und den individuellen Verhaltensmöglichkeiten besteht.“7 Individuelle Mobilität konstituiert sich in erster Linie auf der Grundlage individueller und raumstruktureller Einflüsse. Denn sowohl persönliche Merkmale, wie Alter, Geschlecht oder sozialer Status, als auch das infrastrukturelle Umfeld von Ausgangs- und Zielort können sich gleichermaßen mobilitätsfördernd und mobilitätshemmend auswirken. In einem problematisierenden Zugang werden in der Arbeit vor allem vier Personengruppen reflektiert, die aufgrund ausgeprägter individueller und raumstruktureller Negativeinflüsse mobilitätshemmende Auswirkungen erfahren und von Mobilitätsbenachteiligung betroffen sein können: ältere Menschen, von Armut betroffene Menschen, Menschen mit ländlichem Wohnsitz und Menschen mit Behinderung. Die Arbeit versucht aufzuzeigen, durch welche Benachteiligungsmuster diese Personengruppen in ihrer jeweiligen Mobilität und infolgedessen in ihren Teilhabechancen eingeschränkt sein können. Mit dem fehlenden Zugang zu Mobilitätsmöglichkeiten bleibt gleichsam der Zugang zu Orten der gesellschaftlichen Teilhabe oder sogar zu Orten der Grundversorgung gänzlich verschlossen oder mit erhöhtem Aufwand verbunden. Die Defizite gehen dabei zumeist zu Lasten der ohnehin bereits Benachteiligten. Um einen möglichst alle Personen umfassenden Zugang zu Mobilität zu gewährleisten, bedarf es einer doppelten Perspektive: die Anbindung von Problemräumen sowie der Abbau personaler Hemmnisse. Mobilität wird zu einer (politischen) Gestaltungsaufgabe – vor allem auch, weil Erhebungen weitgehend darin konform gehen, dass die Mobilität, und daraus resultierend das Verkehrsaufkommen, künftig zunehmen werden.8 Beiträge dazu leisten etwa ein zunehmender Mobilitätsbedarf in einer sich weiter differenzierenden Gesellschaft, technische und politische Entwicklungen sowie gesellschaftsstrukturelle Veränderungen – allem voran der demografische Wandel. Nach der theoretischen Annäherung an die Zusammenhänge von Mobilität und Teilhabe erhält die Arbeit in der Auseinandersetzung mit der sozial-diakonischen Einrichtung 6 7 8 Vgl. Claus J. Tully/Dirk Baier, Mobiler Alltag. Mobilität zwischen Option und Zwang. Vom Zusammenspiel biographischer Motive und sozialer Vorgaben, Wiesbaden 2006, 70 f. Antje Flade, Die sozialen Kosten des Verkehrs, in: Oliver Schöller/Weert Canzler/Andreas Knie (Hg.), Handbuch Verkehrspolitik, Wiesbaden 2007, 490–509: 492. Vgl. Allianz der Wissenschaftsorganisationen, Wir erforschen: Mobilität, 24. Online verfügbar unter: httwww.humboldt-foundation.de/pls/web/docs/F20540/partnerbroschuere_mobilitaet.pdf (Stand: 11.09.2013). 168 Claudia Graf „Bahnhofsmission“ einen Praxisbezug. Darin spiegelt sich das zweite Anliegen der Arbeit wider, Bahnhofmission auf ihr mobilitäts- und teilhabeförderndes Potenzial hin zu befragen. Zunächst wird dazu geklärt, aus welchem Begründungszusammenhang Mobilitätssicherung als diakonische Aufgabe verstanden werden kann und wodurch sie von der Serviceleistung der Verkehrsunternehmen in das Aufgabenfeld von Diakonie übertragen wird. In einem theologischen Begründungsrahmen werden dabei sowohl Teilhabe als auch Mobilität als Motive diakonischen Handelns erkannt. Der Rat der EKD etwa sieht im Einsatz für die Benachteiligten in der Gesellschaft eine zentrale Aufgabe für Kirche und Diakonie. 9 In der biblischen Tradition erfährt diese Aufforderung ihre Begründung bspw. in der Annahme einer schöpfungsbedingten, unverfügbaren Würde des Menschen. Außerdem machen Jesu bedingungslose Zuwendung zu den gesellschaftlich Diffamierten, deren explizite Einbeziehung in den göttlichen Heilsplan sowie seine Anklage der bestehenden Exklusionsmechanismen die Ermöglichung von Teilhabe und Chancengleichheit zum diakonischen Auftrag. Darüber hinaus wird Mobilität in vielfältigen Zusammenhängen immer wieder zu einem biblischen Motiv. Mobil zu sein, wird etwa bei Jesus oder dem Volk Israel zum Ausdruck eines Glaubenszeugnisses. Gott offenbart sich darin als mitgehender, mobiler Gott. Das christliche Werteverständnis der Bahnhofsmission benennt vor allem Teilhabeermöglichung in ihrem Leitbild als handlungsleitende Norm. Bahnhofsmission, als Einrichtung an einem Knotenpunkt menschlicher Mobilität, erkennt mangelnde Mobilität bzw. mangelnde Teilhabe infolgedessen als Aufgabenfeld. Eine Auswertung der statistischen Erhebung der rund 100 Einrichtungen sowie eine Bestandsaufnahme vorhandener Konzepte legen den Schluss nahe, dass Bahnhofsmission in der Mobilitätssicherung bereits Pionierarbeit leistet. Statistische Erhebungen im Jahr 2012 ergaben, dass über 30% der erbrachten Hilfeleistungen (rund 621.000) Unterstützungsleistungen im Bereich Mobilität darstellten. In der Praxis zeigt sich dies in vielfältigen Hilfestellungen für Menschen bei der Reisevorbereitung und auf der tatsächlichen Reise. Mit den Reisehilfen am Bahnhof trägt Bahnhofsmission dazu bei, Zugangshürden abzubauen und Mobilität zu realisieren. Gegenwärtig wird die stationäre Hilfe am Bahnhof vielerorts durch mobile Begleitangebote ergänzt.10 Bahnhofsmission weitet damit, als Reaktion auf wahrgenommene gesellschaftsstrukturelle Veränderungen, den Wirkungsradius der Reisehilfen bis in den Zug hinein aus. Mit Leistungsstandards „verpflichten sich Bahnhofmissionen, Menschen unterwegs zuverlässige und bedarfsgerechte Hilfen zu leisten.“ 11 9 10 11 Vgl. Kirchenamt der EKD (Hg.), Gerechte Teilhabe. Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität. Denkschrift des Rates der EKD zur Armut in Deutschland, Gütersloh 2006, 20 und 7 ff. Vgl. Konferenz für Kirchliche Bahnhofsmission in Deutschland, Leistungskatalog und Produkte, 24.06.2010. Online verfügbar unter: www.bahnhofsmission.de/fileadmin/bm/data/Interner_Bereich/Projekte/Reisehilfen/Leistungskatalog%20und%20Produkte.pdf (Stand: 07.10.2013). Präambel. Online verfügbar unter: www.bahnhofsmission.de/fileadmin/bm/data/Interner_Bereich/Projekte/Reisehilfen/Praeambel.pdf (Stand: 15.10.2013). Mobilität und soziale Teilhabe am Beispiel der Bahnhofsmission 169 In dieser Auswertung kommt die Arbeit zum Schluss, dass Bahnhofsmission durch ihre mobilitätssichernden Hilfestellungen einen großen Beitrag leistet, Chancenungleichheiten auszugleichen und Menschen Teilhabechancen zu eröffnen. Auf Grundlage der in der theoretischen Annäherung herausgearbeiteten Zukunftsprognosen ist es gleichzeitig auch Anliegen der Arbeit, Herausforderungen aufzuzeigen, welche in der Mobilitätsarbeit der Bahnhofmission zukünftig konzeptionelle Anpassung erforderlich machen werden. Bahnhofsmission wird sich durch neue, innovative Konzepte und zunehmende Vernetzung zukunftsfähig ausrichten müssen, um den unterschiedlichen Formen der Mobilitätsbenachteilung gerecht werden zu können. Die verfasste Arbeit möchte gleichzeitig jedoch trotz eines theologischen Begründungsrahmens auch anmahnen, dass nicht durch einseitige Kompensationsstrukturen Exklusionsmechanismen gefestigt werden dürfen. Diakonisches Handeln darf sich nicht zum Erfüllungshelfer fragwürdiger Sozialpolitik machen lassen. Ursachen und Folgen von Altersarmut in diakonischer Perspektive Rahel Haefner Altersarmut ist kein überwundener Sachverhalt, sondern ein Zustand, von dem immer mehr alte Menschen in Deutschland betroffen sind. Es sprechen einige Indizien dafür, dass Altersarmut schon jetzt, aber vor allem auch in der Zukunft eine immer größere Rolle spielen wird. In diesen Tagen steht das deutsche Rentensystem vor einer erneuten Veränderung, ausgelöst durch die Prognosen und Berechnungen des Ministeriums für Arbeit und Soziales, die einen deutlichen Anstieg der Altersarmut vorhersagen. Die Definition der Begriffe „Armut“ und „Alter“ bilden den ersten Gliederungspunkt. Eine multikausale Betrachtung ist mit Hilfe des Lebenslagenansatzes möglich. Betrachtet habe ich die materielle, die soziale und die gesundheitliche Dimension. Hier spielen besonders die Entberuflichung (materielle Dimension), die Hochaltrigkeit/Morbidität (gesundheitliche Dimension) und die Singularisierung (soziale Dimension) bei der Veränderung der Lebenslage älterer Menschen eine entscheidende Rolle. Obwohl die anderen Dimensionen ebenfalls relevant und ausschlaggebend für die Lebenslage im Alter sind, komme ich zu dem Schluss, dass der materielle Aspekt der wichtigste ist, weil er die Grundlage der Handlungsfähigkeit bildet. Die materielle Dimension besteht aus verschiedenen Komponenten, wie zum Beispiel dem Vermögen und der Höhe der Rente. Die Rente hat nach wie vor den größten Anteil an der materiellen Dimension. Deshalb ist es wichtig, sich mit dem deutschen Rentensystem und seinen Grenzen auseinanderzusetzen, um die Ursachen für Altersarmut zu analysieren. Die gesetzliche Rente macht immer noch den Hauptteil des Rentenbezugs deutscher Rentner aus; dagegen bleiben die betriebliche und die private Rentenversicherung weit hinter den Erwartungen der Politik zurück. Damit hängt die materielle Situation in erster Linie von den ausgezahlten Renten der gesetzlichen Rentenversicherung ab. Da das Rentensystem nur bei entsprechender Erwerbstätigkeit funktioniert, wird es durch die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt in Frage gestellt. Die Zunahme von Beschäftigungsverhältnissen, die nicht dem Normalarbeitsverhältnis entsprechen, lassen das System der gesetzlichen Rente in Deutschland obsolet werden. Die einkommensorientierte Rentenversicherung geht aber von einer Normalerwerbsbiografie aus, die die erforderliche Anzahl an Beitrags- und Versicherungsjahren, einen fairen Lohn und ein Beschäftigungsverhältnis bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter voraussetzt. Geringe Löhne, Minijobs und das frühe Aussteigen aus dem Arbeitsleben oder unstetige Erwerbsbiografien führen dazu, dass viele Masterarbeit im europäischen Masterstudiengang „Diakonie – Führungsverantwortung in christlich-sozialer Praxis“. Ursachen und Folgen von Altersarmut in diakonischer Perspektive 171 Menschen eine geringe Rente im Alter haben. Vor allem Erwerbstätige im Niedriglohnsektor können nur einen geringen Rentenanspruch erwerben, weil der Lohn unmittelbare Auswirkungen auf die Entgeltpunkte hat. Problematisch ist dabei, dass mit dem Eintritt in die Rente keine zusätzlichen Anwartschaften erworben werden können. Damit ist die materielle Situation endgültig festgelegt. Auch das zunehmende Ungleichgewicht zwischen der Zahl der Erwerbstätigen und der Empfänger von Rentenleistungen hat ungünstige Auswirkungen auf das umlagefinanzierte Rentensystem. Die demografische Entwicklung und ihre Konsequenzen waren schon in den siebziger Jahren bekannt. Da das deutsche System auf dem Umlageverfahren basiert, war abzusehen, dass bei dem entstehenden Ungleichgewicht zwischen Erwerbstätigen und Nichterwerbstätigen das System in eine Schieflage geraten würde. Deshalb thematisiert meine Arbeit ebenfalls den demografischen Wandel. Das Alterssicherungsstärkungsgesetz, das vom Ministerium für Arbeit und Soziales in den letzten Monaten massiv beworben wurde, erlebte von ganz unterschiedlichen Seiten Kritik. Auch der Bundesverband der Diakonie vertritt die Ansicht, dass die geplante Reform nicht zur Verhinderung oder Prävention von Altersarmut führen wird. Von besonderem Interesse ist die Zuschussrente, die gerade den Menschen, die im Niedriglohnsektor gearbeitet haben, eine sichere Rente bieten soll. Das Alterssicherungsstärkungsgesetz ist nur eine Korrektur des bestehenden Rentensystems. Die Schwachstellen, die durch die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt und durch die demografische Entwicklung offensichtlich werden, sind dadurch nicht zu beheben. Dass es alternative Rentenmodelle mit ausgeprägtem Solidaritätsgedanken gibt, wird an dem Rentenmodell der Schweiz deutlich. Auch wenn jedem bewusst sein muss, dass eine Systemveränderung in Deutschland nur schwer durchführbar ist und vor allem nicht in kurzer Zeit, sollten die Politik und auch die Verbände über neue Varianten eines Rentensystems diskutieren und nicht nur an dem bisherigen System Korrekturen vornehmen. Die Funktionsfähigkeit des bestehenden Systems wird durch die gesellschaftlichen Veränderungen, wie zum Beispiel die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt, untergraben. Damit die Anzahl der Normalerwerbsbiografien sich so entwickelt, dass das einkommensorientierte Rentensystem funktionieren kann, bedarf es weitreichender struktureller Veränderungen. Vor allem für Frauen, die besonders von Altersarmut betroffen sind, ist der Ausbau der Betreuungsangebote für Kinder und die Entlastung bei der Pflege von Angehörigen ein wichtiger Baustein, der es ihnen ermöglichen soll, ausreichend Anwartschaften zu erwerben und nicht auf einen Minijob angewiesen zu sein. Darüber hinaus ist die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen dringend erforderlich, wenn das bestehende Rentensystem weiter funktionieren soll. Als Anwalt der Armen muss sich die Diakonie für deren Rechte und insgesamt für ein gerechtes System einsetzen. Auch auf individueller Ebene, die gerade im unmittelbaren Kontakt 172 Rahel Haefner mit Betroffenen Armutslinderung bewirkt, muss das Thema verstärkt Beachtung finden. Die Diakonie muss hier mehrere Aufgaben wahrnehmen, um ihr zentralpolitisches Ziel, 1 nämlich die Verhinderung von Altersarmut, zu erreichen. Die Aspekte der politischen und der individuellen Diakonie müssen aufeinander abgestimmt und es muss vor allem eine Balance zwischen den beiden Bereichen gefunden werden. Die Chance für die Diakonie in der gegenwärtigen Auseinandersetzung zum Thema Altersarmut besteht nicht nur darin, dass sie auf den politischen Entscheidungsprozess einwirken kann, sondern vor allem in ihrem Kernbereich, der Arbeit für jeden einzelnen von Armut und Ausgrenzung Betroffenen. In diesem Bereich geht es nicht nur um die Linderung der Armut, sondern darum, dass die Diakonie den Menschen durch Aufklärung zu ihrem Recht verhilft, sich mit kommunalen Einrichtungen über neue Formen des Wohnens und der gesundheitlichen Versorgung verständigt und sich für eine altersgerechter Infrastruktur einsetzt, die vor allem die Teilhabe der Menschen am gesellschaftlichen Leben deutlich verbessert. Zu den wichtigsten Aufträgen der Diakonie gehört es, den Menschen in ihrer letzten Lebensphase beizustehen. Allerdings hat die Ökonomisierung sozialer Einrichtungen dazu geführt, dass oft nicht mehr der Mensch im Mittelpunkt steht und dadurch vor allem die spirituelle Dimension vernachlässigt wurde. Es wird eine wichtige Aufgabe der Diakonie sein, der spirituellen Dimension ihre Bedeutung zurückzugeben und diese in ihren sozialen Einrichtungen zu verankern. Auch die kirchlichen Gemeinden sind aufgefordert, Menschen, die von Altersarmut betroffen sind, zu integrieren und sie dadurch am Gemeindeleben teilhaben zu lassen. Nach wie vor gibt es aber viele Ressentiments gegenüber Menschen, die von Armut betroffen sind. Der Wille zu helfen ist vorhanden, aber oft reicht das nicht aus, den Betroffenen Möglichkeiten zur Teilhabe zu eröffnen. Wenn sich die erwähnten Tendenzen fortsetzen und Biografien brüchiger und Teilzeittätigkeiten sowie niedrige Löhne zur Normalität werden, sind aufgrund der einkommensorientierten Rentenversicherung handfeste Probleme bei der Erfüllung des systemtypischen Ziels „Lebensstandardsicherung“ zu erwarten und führen tendenziell zu sinkenden absoluten Ansprüchen und damit unter Umständen zu einem höheren Risiko der Sozialhilfebedürftigkeit. 1 Vgl. Diakonie Bundesverband (Hrsg.): Stellungnahme. Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Alterssicherung (Alterssicherungsstärkungsgesetz). Berlin 29.08.2012, 3. Wirkungsmessung am Beispiel des Social Return on Investment (SROI) Betrachtungen aus der Sicht eines ambulanten Pflegedienstes* Peter Hugo Der Social Return on Investment (SROI) ist ein Instrument zur Wirkungsmessung sozialer Projekte oder sozialer Tätigkeiten. Investoren, Fördermittelgeber oder Kostenträger wollen wissen, was die investierten Mittel bewirken. Der SROI misst die ökonomischen, sozioökonomischen und die sozialen Werte, die durch die sozialen Projekte oder sozialen Tätigkeiten geschaffen werden. Ökonomische Werte z.B. finanzielle Auswirkungen sind dabei einfach zu messen, da die Daten i.d.R. zur Verfügung stehen bzw. bereinigt und berechnet werden können. Auch sozioökonomische Werte z.B. Einsparungseffekte oder vermiedene Kosten und gesellschaftliche Zusatzerträge durch Steuern und Versicherungsbeiträge, die sich aus der sozialen Tätigkeit ergeben, können berechnet werden. Die sozialen Werte z.B. in Form von Lebensqualitätsverbesserung oder weitere Zusatzerträge, die einen Mehrwert darstellen, sind i.d.R. nicht monetär bewertbar. Inzwischen gibt es verschieden Modelle zur Berechnung des SROI. Das SROI-Modell stammt ursprünglich aus San Franciso/USA der 1990er Jahre. Der Robert Enterprise Development Fund (REDF) hat zur Wirkungsmessung ein Modell entwickelt, das den Impact (subjektiv erlebte Wirkung) der sozialen Tätigkeit messen soll und Berechnungen ermöglicht, die über eine reine Kosten-Nutzen-Analyse (KNA) hinausgehen. Zunächst wird mit Methoden der Investitionsrechnung der Unternehmenswert berechnet; durch Bewertung der sozialen Auswirkungen wird versucht, den Impact zu messen, zu quantifizieren und zu monetarisieren. Die new economics foundation (nef) hat die Fragen des SROI-Modells der REDF aufgenommen und mit seinen Erfahrungen aus weiteren Evaluationsverfahren das Modell weiterentwickelt. Der gravierendste Unterschied zum REDF-SROI-Modell ist die Einbeziehung der Stakeholder. Das Global SROI-Framework begründet sich auf die Weiterentwicklung der beiden SROI-Modelle der nef und des REDF. In Europa entwickelte sich in den letzten Jahren ein länderübergreifendes Netzwerk. Über internationale Zusammenarbeit wird versucht, das amerikanische und europäische Modell zu einem einheitlichen Modell zusammenzuführen. Aus den internationalen SROI-Modellen wurden je nach Fokus der Fragestellungen weitere interessante Modelle entwickelt. So z.B. durch die XIT-Beratungsgesellschaft aus Nürnberg, die * Abschlussarbeit im berufsbegleitenden Masterstudiengang „Führung in Diakonie und Kirche“. 174 Peter Hugo VOEST-ALPINE-STAHLSTIFTUNG aus Linz und dem Centrum für soziale Investitionen und Innovation (CSI) Heidelberg. In Deutschland liegt, aufgrund der Gemeinnützigkeit und der Kostenträgerschaft der öffentlichen Hand, der Fokus der Betrachtung hauptsächlich auf den sozialen Werten. Insbesondere die Auswirkungen für die Hilfeempfänger (Zielgruppe) sind dabei interessant. Am Beispiel eines ambulanten Pflegedienstes wird versucht, die sozialen Werte mit Hilfe der Pflegeplanung nach „Krohwinkel“ und dem SROI-Modell der XIT aus der fachlichen Arbeit heraus zu berechnen. Dabei wird unterschieden zwischen objektiven und subjektiven Effekten (Teilhabeerträgen). Objektive Effekte sind objektiv nachweisbare Wirkungen für die Stakeholder, z.B. Verbesserung eines Dekubitus durch eine erfolgreiche Pflege. Subjektive Effekte sind die subjektiv erlebte Wirkung des Leistungsempfängers bzw. der Stakeholder, z.B. der Wert der Lebensqualitätsverbesserung dem ein Pflegebedürftiger der Tatsache zurechnet, keinen Dekubitus mehr zu haben. Die subjektiv erlebte Wirkung ist jedoch nicht monetarisierbar, da der Wert, der sich für den Leistungsempfänger ergibt, unbekannt ist. Damit ist die Darstellung in einer Kennzahl, bestehend aus gesellschaftlichen Erträgen und subjektiv empfundenen Erträgen der Hilfeempfänger, nicht möglich. Dies gilt insbesondere für alle sozialen Tätigkeiten, bei denen keine eigene Produktivität erzielt wird. Wünschenswert wäre es ein SROI-Modell zu entwickeln, welches ermöglicht, die sozialen Werte aus der fachlichen Arbeit heraus zu berechnen. Die subjektiven Teilhabeerträge der Zielgruppe werden bisher aus Indikatoren gebildet und ergänzen in Berichtsform die SROIKennzahl. Die SROI-Kennzahl wird schlechter, je unterstützungsbedürftiger die Zielgruppe ist. Der jeweilige Unterstützungsbedarf der Zielgruppe muss deshalb berücksichtigt werden und als Faktor in die Berechnung einfließen. Letztlich ist aber nicht nur der ökonomische Erfolg einer sozialen Tätigkeit, oder eines sozialen Projektes entscheidend, sondern ebenso, ob weitere gesellschaftliche Funktionen erfüllt werden. Politische, soziale und kulturelle Funktionen müssen neben den ökonomischen und sozioökonomischen Werten in die Betrachtung der sozialen Tätigkeit einfließen. Um den Social Return on Investment tatsächlich so zu gestalten, dass er dazu beitragen kann, den Wert der sozialen Arbeit einfach und präzise darzustellen, ist es notwendig ein Instrument zu entwickeln, dass die unterschiedlichen sozialen Arbeitsfelder berücksichtigt und in der Anwendung leicht umzusetzen ist. Dies gibt genügend Anlass sich weiter mit dem Thema SROI zu beschäftigen. Migration als diakonische Herausforderung in Deutschland und Südkorea Mi Young Jeon Migration ist ein weltumspannendes Phänomen geworden, das durch die weltweiten Geldflüsse und durch die immer noch zahlreichen Kriege auf der Erde in den letzten zwei Jahrzehnten sogar an Aktualität noch zugenommen hat. Die zunehmende Einwanderung von Migranten seit nunmehr ca. 20 Jahren in Südkorea hat viele soziale Probleme mit sich gebracht, wie z. B. Ungleichheiten in Bildung, signifikante Einkommensunterschiede, unterschiedlicher Zugang zu den zentralen Institutionen und große Unterschiede in der gesellschaftlichen Anerkennung. Oft kann man für Migranten auch wirtschaftliche Armut, Gewalterfahrungen in der Familie, ungünstige Wohnverhältnisse usw. feststellen. Migranten müssen mit Diskriminierung rechnen. Es ist zu einer zentralen Aufgabe für viele Länder geworden, das Spannungsverhältnis zwischen dem Fördern der Vielfalt einerseits und dem Wahren der gesellschaftlichen Einheit andererseits zu bewerkstelligen. Nicht nur für Deutschland, sondern auch für die 27 EUMitglieder muss berücksichtigt werden, inwieweit Migration ein gesamteuropäisches Problem darstellt und deshalb entweder auf der supranationalen EU-Ebene behandelt oder als nationalstaatliches Problem wahrgenommen und folglich auf nationaler Ebene angegangen wird. Südkorea wurde nach der Olympiade in Seoul, d. h. nach dem Jahr 1988, zu einem Einwanderungsland, aber wegen der kurzen südkoreanischen Migrationsgeschichte und den mangelnden Erfahrungen als Einwanderungsland ist hier eine adäquate Gesetzgebung und eine ressourcenorientierte diakonische Arbeit noch längst nicht realisiert worden. Deshalb wird in dieser Masterarbeit die Migration als diakonische Herausforderung in Deutschland und Südkorea vergleichend untersucht. Da Deutschland vor ca. 60 Jahren Migranten in einer ähnlichen wirtschaftlichen Situation wie Südkorea vor ca. 20 Jahren aufgenommen und vielfältige politische Maßnahmen zur Harmonisierung und Integration der Migranten durchgeführt hat, besteht für diesen Vergleich eine gute Basis. Dabei werden in der Arbeit zwei Stränge analysiert und in ein Verhältnis wechselseitiger Ergänzung gesetzt: (i) die Gesetzgebung und Umsetzung von politischen Maßnahmen auf säkularer Ebene und (ii) Möglichkeiten einer diakonischen Arbeit für Migranten zunächst in Deutschland und anschließend auch in Südkorea. Masterarbeit im europäischen Masterstudiengang „Diakonie – Führungsverantwortung in christlich-sozialer Praxis“. 176 Mi Young Jeon Auch bei dem zweiten Argumentationsstrang, der christlichen Diakonie, lassen sich Parallelen aber eben auch Unterschiede aufzeigen. Deshalb wird sich die Arbeit nach einer Begriffsbestimmung von Migration1 in einem Kapitel auf die biblischen Grundlagen im Umgang mit Migranten und Fremden konzentrieren. Ausgangspunkt wird hierbei das AT sein, um dann auf dieser Grundlage in einem zweiten Schritt die Neuerungen durch Jesu Auftreten im NT herauszuarbeiten, mit dem Ziel, sie als Maßstab für heutiges diakonisches Handeln zu nehmen. Es wird sich zeigen, dass im Rahmen der Diakonie sowohl das AT als auch das NT als biblische Grundlage benutzt werden können, um den heutigen Umgang mit Fremden/Migranten zu legitimieren. In einem weiteren Schritt werden dann anhand von fünf Interviewpartner/innen je Land die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Deutschen und Südkoreanern in der Wahrnehmung von Migranten in ihrem jeweiligen Land herausgearbeitet. Wichtigstes Ergebnis ist hierbei, dass im multikulturellen Deutschland Migration schon die Regel darstellt, während die Koreaner Migranten zwar relativ positiv gegenüberstehen, dabei aber angenommen werden darf, dass dies nur wegen der doch relativ geringen Anzahl an Migranten in Südkorea der Fall ist. Die Interviews werden separat ausgewertet und die Ergebnisse daraufhin miteinander verglichen. Diese Interviewergebnisse bieten eine gute Grundlage für den nächsten Schritt, denn auch in Deutschland hat Diakonie noch Nachholbedarf. Ein wichtiges Ergebnis der Arbeit ist daher, dass die bisherige Theologie der Sendung durch eine Theologie des Empfangens ergänzt werden müsste. Dafür werden in einem eigenen Kapitel auf der Basis von Forschungsliteratur zahlreiche Indizien herausgearbeitet und Argumente formuliert. Mit dieser Kritik an der „parochial verfassten Sozialgeschichte der Kirche“2 wird das Ziel verfolgt, dies auch den christlichen Gemeinden in Südkorea nahezulegen bzw. diese Ansätze für Südkorea fruchtbar zu machen. Die Arbeit bringt im Schlussteil dann noch weiterführende Vorschläge, die von deutscher Seite bereits beachtet, aber in Südkorea noch umgesetzt werden müssen. Auch eigene Verbesserungsvorschläge werden vorgebracht. 1 2 Es wird sich zeigen, dass Migration durch ein wirtschaftliches Primat bestimmt und in erster Linie aufgrund von ökonomischem Druck angestrebt wird. Vgl. Klaus Schäfer, Missionstheologische Visionen jenseits der parochialen Partikularismen, in: Zeitschrift für Missionswissenschaft 1 (2011), 241. Ethische Personalentwicklung in Sozialleistungsunternehmen am Beispiel der Sozialpädagogischen Familienhilfe Kerstin Kohler Die Wahl des Themas begründet sich aus der Motivation heraus, dass sich die besondere Bedeutung und Aktualität der Ethik in allen Lebensbereichen in der menschlichen Alltagspraxis, – egal, ob im Privatbereich oder am Arbeitsplatz – zeigt, weil moralisches Handeln oder sittliches Urteilen darin ein fester Bestandteil ist. Viele Menschen haben das Vertrauen in Unternehmen, Staatsorgane, Parteien und sogar Kirchen verloren, weil diese auf tricksende und täuschende oder auch umstrittene Handlungspraktiken zurückgreifen. Allerdings lassen pluralistische Gesellschaften zwangsläufig ein heterogenes Wertefeld gedeihen. Ein weiterer, besonders wichtiger Grund sich mit dem Projekt auseinanderzusetzen, ist meine über vierjährige Erfahrung als Teamleiterin im Bereich der Sozialpädagogischen Familienhilfe in einem Non-Profit-Unternehmen. Hier werde ich mit zahlreichen ethischen Herausforderungen konfrontiert, die sowohl interner als auch externer Herkunft sind. Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, dass auch Unternehmen selbst ein wertehomogenes Umfeld schaffen, um Mitarbeitern in Zeiten des rasanten gesellschaftlichen Wandels eine moralische Orientierung zu geben. Ebenso gab mir das Studium mit den integrierten Praxisprojekten Anstöße, mich mit dem Gebiet der ethischen Personalentwicklung, das ein Teilbereich im weiten Feld der Unternehmensethik darstellt, auseinanderzusetzen. Die personale Komponente bildet sozusagen den innersten Kern der Unternehmensethik. Mitarbeiter und Führungskräfte tragen einen Teil der Verantwortung in der Gestaltung der inneren Struktur der Institution und auch für ihr persönliches Tun und Lassen. Die personale Komponente bedarf der Unterstützung der innerbetrieblichen Institution. Ihre Ausgestaltung mit entsprechenden Rahmenbedingungen und Vorgaben beeinflusst die Handlungen der Individuen. Strukturellsystematische Maßnahmen als Unterstützungsfaktor der Unternehmensethik sind für verantwortungsvolles Handeln des Einzelnen maßgeblich. Es sind immer sittliche Subjekte, die zugleich Träger und Quelle jeglicher Moral sind, notwendig, um Moral überhaupt zu etablieren, durchzuführen und gegebenenfalls abzuwandeln. Daraus ergeben sich für ein Unternehmen einige Vorteile als positiver Nebeneffekt des moralischen Handelns (z.B. Früherkennung von Risiken, Motivationserhöhung der Mitarbeiter, befriedigende Lösungen von DilemmataSituationen bei gleichberechtigen Ansprüchen von vielen Betroffenen, Kosteneinsparungen, geringeres Risiko von Skandalen, besseres Image durch vertrauenswürdige Wahrnehmung der Organisation etc.). Abschlussarbeit im berufsbegleitenden Masterstudiengang „Unternehmensführung im Wohlfahrtsbereich“. 178 Kerstin Kohler Zur Untersuchung der gewählten Arbeitsgrundlagen und Beantwortung der Hypothesen zog ich mir verschiedene Theorien anhand wissenschaftlicher Fachliteratur heran. Hauptaugenmerk für mich war, zu durchleuchten, was der eigentliche Kern der ethischen Personalentwicklung ist, was sie leisten kann, welche Ansprüche damit verknüpft werden und welche bisherigen Ansätze und Methoden es gibt. Aus diesem Grund wollte ich die Bedeutung ethischer Kompetenzen für den Einzelnen, die Hand in Hand geht mit der Unternehmensführung, den unternehmerischen Rahmenbedingungen und der strategischen Ausrichtung der Personalarbeit, durchleuchten. Es war mir ein Bedürfnis, ein Bewusstsein für den Teilbereich der ethischen Personalentwicklung zu schaffen sowie Sozialleistungsunternehmen für deren Relevanz zu sensibilisieren, indem Anregungen für die Herangehensweise aufgezeigt werden. Besonders die Vorschläge zur Umsetzung der ethischen Personalentwicklung auch der Entwurf der ethischen Fortbildungsveranstaltung stellte für mich ein sehr kreativer Prozess dar. Gleichsam konnte ich so einen Dialog zur Praxis im Arbeitsfeld der Sozialpädagogischen Familienhilfe mit seinen ethischen Herausforderungen für unsere Organisationseinheit finden. Als Führungskraft zählen u.a. der Bereich Mitarbeiterpflege und Personalentwicklung zu meinen Tätigkeiten, so empfand ich die Durchführung der Veranstaltung als sehr befruchtend. Das Team hatte derweil die Möglichkeit, sich von einer anderen Seite her kennenzulernen, indem ihm ein gewisser Zeitkorridor für moralisches Nachdenken eingeräumt wurde. An dieser Stelle wäre für die Zukunft eine wissenschaftliche Erhebung bzw. Evaluation zur ethischen Personalentwicklung zu dem Kernziel „Verbesserung der ethischen Kompetenzen“, vorzugsweise in den Teilbereichen „Moralische Sensibilität“, „Moralische Urteilskraft und Motivation“ sowie „Verständigungskompetenz bzw. Diskursfähigkeit“ sinnvoll. Vorzugsweise wäre hier der Beitrag zur Ausbildung der ethischen Basis von Subjekten und die Anregung zur Moral quasi als Grundtönung des Handelns im Unternehmensalltag zu untersuchen. Unternehmenskultur der Pflege im Traumazentrum Nord des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH) Eine Annäherung Alf- Hendrik Krauß Eine Unternehmenskultur zu ergründen, so beginnt Rudolf Jost (2003) in seinem Buch: „Unternehmenskultur. Wie weiche Faktoren zu harten Faktoren werden“ 1, gleicht dem Versuch, einen Pudding an eine Wand zu nageln. Dies verdeutlicht, dass es unmöglich ist, eine Unternehmenskultur mit all ihren Facetten vollständig zu erfassen. Die Arbeit orientiert sich an der Forschungsfrage, ob eine einheitliche Unternehmenskultur der Pflege im Traumazentrum Nord existiert und inwieweit Unterschiede zu erkennen sind bzw. Übereinstimmungen existieren. Des Weiteren wurde untersucht, ob eine identische Unternehmenskultur in den gleichen Stationen und Funktionsbereichen an beiden Standorten (Kiel und Lübeck) vorherrscht. Auch hier wurde analysiert, inwieweit Unterschiede vorzufinden sind oder ob Übereinstimmungen bestehen. Der Autor dieser Arbeit hat sich an dem Kulturmodell nach Edgar Schein orientiert. Dieses Modell besagt, dass eine (Unternehmens-) Kultur auf drei verschiedenen Ebenen zu ergründen ist. Die unterste Ebene, die Ebene der Grundannahmen und Grundprämissen, beinhaltet unbewusste, selbstverständliche Anschauungen, Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle. Diese Ebene ist Ausgangspunkt für Werte und Handlungen. Aus dieser Ebene heraus bildet sich die zweite Ebene, die der bekundeten Werte. In dieser Ebene sind die (Unternehmens-) Strategien, (Unternehmens-) Ziele und die (Unternehmens-) Philosophie anzusiedeln. Auf der obersten bzw. dritten Ebene, der Ebene der Symbole und Artefakte, sind sichtbare Strukturen und Prozesse im Unternehmen anzusiedeln. Diese sind leicht zu beobachten, aber schwer zu entschlüsseln. Diese drei Kulturebenen sind voneinander abhängig, da sie sich kontinuierlich gegenseitig beeinflussen. Um dieses (Unternehmens-) Kulturmodell mit Kulturdimensionen zu ergänzen und auf die Berufsgruppe der Pflegenden zu übertragen, wurde der Grundkreislauf der Pflege herangezogen. Anhand des daraus resultierenden Konzeptes konnte sich der Autor der Unternehmenskultur der Pflege annähern. Der Grundkreislauf der Pflege besagt, dass die Arbeitszufriedenheit Auswirkung auf die Motivation des Pflegepersonals hat und dies wiederum die Pflegequalität beeinflusst. Die Pflegequalität hat Auswirkung auf den Heilungserfolg des Patienten und der Heilungserfolg 1 Abschlussarbeit im berufsbegleitenden Masterstudiengang „Unternehmensführung im Wohlfahrtsbereich“. Hans Rudolf Jost, Unternehmenskultur. Wie weiche Faktoren zu harten Faktoren werden, Zürich 2003. 180 Alf-Hendrik Krauß wiederrum beeinflusst die Arbeitszufriedenheit. Im Hinblick auf die jeweiligen Dimensionen der Unternehmenskultur wurden Indikatoren herangezogen, welche gleichzeitig den Grundkreislauf der Pflege als auch die verschiedenen Ebenen einer Unternehmenskultur bedingen. Im Rahmen der empirischen Vorgehensweise wurde ein Multi-Methoden-Ansatz angewandt. Dadurch konnten Informationen aus verschiedenen Kulturdimensionen, unter Zuhilfenahme unterschiedlicher Quellen, erfasst werden. Auf der einen Seite wurden Begehungen und Beobachtungen durchgeführt und in einer Beobachtungsmatrix dokumentiert. Durch Interviews mit Pflegekräften wurde ergänzend versucht, die Bedeutung, die hinter den beobachteten Symbolen und Artefakten steht, zu ergründen. In dem Interviewleitfaden wurden Fragen gestellt, die sowohl Indikatoren des Konzeptes als auch die verschiedenen (Unternehmens-) Kulturebenen betreffen. Es wurden insgesamt 18 Interviews mit Pflegekräften durchgeführt. Für die Untersuchung im Traumazentrum Nord hat der Autor sich an dem Behandlungsprozess des polytraumatischen Patienten orientiert. Für die Untersuchung ist pro Campus eine Notaufnahme, eine Intensivstation und eine Normalstation der Unfallchirurgie ausgewählt worden. Es wurde jeweils pro Station die Teamleitung, ein neues Teammitglied und eine erfahrene Mitarbeiterin ausgewählt. Dies sollte das Hierarchie-, Erfahrungs-, und Altersspektrum abbilden. Die Ergebnisse der Befragungen wurden transkribiert und mit Hilfe von Excel-Tabellen ausgewertet. Die Auswertung der Befragung erfolgte auf der Makro-Ebene (Gesamtunternehmen UKSH), der Meso-Ebene (Traumazentrum Nord) und der Mikro-Ebene (Abteilungskulturen der befragten Bereiche). Auf Grundlage dieser Ergebnisse wurden Handlungsempfehlungen formuliert mit dem Ziel, die Unternehmenskultur funktional zu gestalten. Abschließend wurden ein Fazit gezogen und die eingangs gestellten Forschungsfragen beantwortet. Zur Aktualität und Weiterentwicklung der Dienstgemeinschaft in modernen Diakonieunternehmen Eine beispielhafte Untersuchung anhand der Evangelischen Heimstiftung in Stuttgart Eva Lang Die Dienstgemeinschaft ist aktuell umstritten und wird kritisch diskutiert. Einmal zwingen veränderte Rahmenbedingungen im Sozial- und Gesundheitssystem (leistungsbezogene Finanzierung, sozialmarktlicher Wettbewerb) einzelne diakonische Träger, Betriebsteile auszugliedern oder auf Leiharbeit zurückzugreifen. Zum anderen führt auch eine zunehmende religiöse Pluralität in der Gesellschaft und damit auch in der Mitarbeiterschaft diakonischer Einrichtungen zu Profilierungsproblemen für diakonische Träger. Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich aus der Geschichte des Dienstgemeinschaftsbegriffs. Der Begriff wurde vorrangig unter arbeitsrechtlichen Gesichtspunkten geprägt und dann in einen religiösen Kontext gebettet. Die Dienstgemeinschaft hat sich nicht als kirchlich-eigenständige und theologische Kategorie entwickelt, trotzdem erfährt das Leitbild der Dienstgemeinschaft seine Interpretation von theologischen Gesichtspunkten ausgehend. Bis heute fehlt allerdings ein theologischer Konsens über die Dienstgemeinschaft und damit eine Bestimmung über Inhalt und Bedeutung des Begriffs. Dimensionen/Elemente des Leitbilds der kirchlichen Dienstgemeinschaft Das Leitbild der kirchlichen Dienstgemeinschaft umfasst drei zentrale Aspekte, welche in zwei Dimensionen oder als zwei Elemente der Dienstgemeinschaft beschrieben werden können: 1) Theologische Begründung der Dienstgemeinschaft: Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Kirche und Diakonie haben als „Gemeinschaft von Glaubenden“ Anteil am kirchlichen Auftrag, das Evangelium in Wort und Tat zu verkünden. Mit dieser Mitwirkung ist zugleich eine Verpflichtung gegenüber diesem besonderen Auftrag verbunden (personal-subjektives Element, durch den persönlichen Glauben bestimmt). 2) Rechtlich-objektives Verständnis der Dienstgemeinschaft: Masterarbeit im europäischen Masterstudiengang „Diakonie – Führungsverantwortung in christlich-sozialer Praxis“. 182 Eva Lang Aufgrund ihres theologischen Verständnisses ist die Dienstgemeinschaft zugleich auch eine Bestimmungsgröße für die Gestaltung von Beschäftigungsverhältnissen. Dienstgemeinschaft erweist sich im kirchlichen Arbeitsrecht als ein Element spezifischer Mitbestimmungskultur. Die Arbeitsrechtsregelung und Arbeitsgestaltung in Kirche und Diakonie ist geleitet von Gedanken der Partnerschaft, Parität, dem Prinzip der Lohngerechtigkeit oder einer verantwortlichen, fairen Konfliktlösung. Die eingangs beschriebenen Profilierungsprobleme für diakonische Träger betreffen sowohl die theologische als auch die rechtliche Dimension der Dienstgemeinschaft. Ziel der Arbeit Ziel meiner Arbeit war eine Betrachtung der Dienstgemeinschaft in der diakonischen Praxis vor Ort. Hinsichtlich der theologischen Dimension und Begründung der Dienstgemeinschaft wollte ich sehen: Wie verstehen sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Ev. Heimstiftung und wie verstehen sie ihre getane Arbeit? Vom zweiten Element des Leitbilds her, von rechtlichobjektiver Seite, bin ich der Frage nachgegangen, wie die Ausgestaltung der Arbeitsverhältnisse und -beziehungen in der alltäglichen Arbeit wahrgenommen und erfahren wird, wo die zentralen Leitgedanken der Dienstgemeinschaft zum Tragen kommen oder wo vielleicht auch nicht (Aktualität der Dienstgemeinschaft). Methodik und Forschungsprozess − Methode qualitativer Forschung: Leitfadeninterviews; − die Grundstruktur des problemzentrierten Interviews und die Wahl von Expert/innen als Interviewpartner/innen als die wesentlichen Merkmale meiner Forschung; − acht befragte Personen: Hauptgeschäftsführer, Vorsitzender der GMAV; dazu sechs Personen aus unterschiedlichen Einrichtungen (zwei Hausdirektor/innen, zwei MAVVorsitzende einer Einrichtung, eine Pflegedienstleitung, eine Sozialdiakonin). Im Rahmen der Datenauswertung und -verwendung habe ich relevante Kategorien, Themen und Aspekte herausgefiltert, diese zueinander in Beziehung gesetzt und mit Literatur verknüpft und daraus Anregungen und Impulse für eine Weiterentwicklung der Dienstgemeinschaft und damit für die Profilierung diakonischer Träger allgemein formuliert. Zur Aktualität und Weiterentwicklung der Dienstgemeinschaft in modernen Diakonieunternehmen 183 Darstellung der Ergebnisse und Weiterentwicklung der Dienstgemeinschaft Durchgehend vermuteten die Interviewpartnerinnen und -partner, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit dem Begriff „Dienstgemeinschaft“ nichts anfangen können, der Begriff taucht im Arbeitsalltag nicht auf. Hinsichtlich des Verständnisses der Mitarbeiterschaft berichteten mir die Gesprächspartner/innen, dass mit Sicherheit einige bewusst einen diakonischen Träger als Arbeitgeber wählen, aber dass doch zunächst der Arbeitsplatz im Vordergrund stehe. Es sei deutlich zu spüren, dass die Mitarbeiterschaft heute sehr heterogen sei, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter immer seltener einen religiösen oder spirituellen Hintergrund mitbringen und demnach auch ein Gemeinfinden über Begriffe nicht mehr selbstverständlich sei. In der Darstellung meiner Ergebnisse beschreibe ich, was gelungene Dienstgemeinschaft für meine Interviewpartnerinnen und -partner heißt und wo diese im Alltag in den Einrichtungen erfahrbar wird. Daneben benenne ich auch verschiedene Aspekte, welche die befragten Personen als Grenzen oder Gefahren für das Verständnis einer kirchlichen Dienstgemeinschaft wahrnehmen und einschätzen. Entsprechend einer unterschiedlichen Wahrnehmung der Gestaltung der Arbeitswelt durch die Gesprächspartnerinnen und -partner wird auch der Begriff „Dienstgemeinschaft“ als Wertbegriff wahrgenommen oder eben nicht. Für die Aufrechterhaltung des Leitbilds der kirchlichen Dienstgemeinschaft und damit für die diakonische Profilierung einer Einrichtung zeigen meine Ergebnisse zwei wesentliche Aspekte: Erstens muss der propagierte Anspruch übereinstimmen mit der erfahrenen Realität. Zweitens lässt sich eine notwendige Grundhaltung unter Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern als Grundkompetenz festhalten. Diese steht in Verbindung zu einer christlichen Sicht des Menschen, wird wahrgenommen in persönlichen und sozialen Kompetenzen und ist, so die Einschätzung meiner Interviewpartnerinnen und -partner, unabhängig von der fachlichen Qualifikation und von der formalen Zugehörigkeit zu einer christlichen Kirche. Für die Dienstgemeinschaft, beschrieben als die Unternehmenskultur in diakonischen Einrichtungen, halte ich aus den Ergebnissen meiner Forschung fest, dass eine Werteorientierung, dass Führungskräfte, Kommunikationsstrukturen, sowie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tragende Elemente darstellen. Für die Pflege eines diakonischen Profils und damit für die Weiterentwicklung der Dienstgemeinschaft beschreiben die Interviewpartnerinnen und -partner eine notwendige gemeinsame Übung. Zum einen bieten hier Rituale im Alltag eine wichtige Orientierung, zum anderen ist eine Übersetzungsarbeit im Alltag notwendig, ein gemeinsames Lernen und Verstehen der christlichen Werte und Grundsätze sowie der diakonischen Wurzeln und des diakonischen Auftrags. In dieser gemeinsamen Übung ist Werteorientierung zu verstehen als Prozess und die Dienstgemeinschaft ist aufzufassen als Richtungsnorm – sie ist keine 184 Eva Lang vorauszusetzende Tatsache, sondern Ziel. Dienstgemeinschaft meint zugleich auch Diskursgemeinschaft aller Beteiligten. Als Herausforderungen und Perspektiven für eine Profilierung diakonischer Träger halte ich fest, dass gerade in der Dienstgemeinschaft als Wertbegriff Chancen liegen für eine Identifikation mit dem Träger. In diesem Zusammenhang ist es notwendig, dass auch der Begriff „Dienstgemeinschaft“ als solcher auftaucht, dass er bewusst betrachtet und mit Inhalten gefüllt wird. Zum anderen kommt im Zuge einer immer häufiger fehlenden religiösen Bindung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einem verstärkten Kontakt und Austausch mit der örtlichen Kirchengemeinde eine wesentliche Bedeutung zu. Dies kann ein Ansatzpunkt sein, die Dienstgemeinschaft neu mit Leben zu füllen. Zudem gilt es, auch für jüngere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über neue Formen christlicher Spiritualität nachzudenke und auch zu überlegen, wie eine zunehmende religiöse Pluralität, auch in diakonischen Einrichtungen, genutzt werden kann für den Austausch und den Diskurs in der Gemeinschaft und wie vielleicht auch dadurch das eigene Profil geschärft werden kann. Des Weiteren ist eine Standortbestimmung diakonischer Träger im Sozialraum notwendig, die Bedeutung des Gemeinwesens nimmt zu. Wie kann der diakonische Auftrag (von diakonischer Einrichtung und Kirchengemeinde) bei den heutigen Gegebenheiten und Herausforderungen adäquat erfüllt werden („Gemeinwesendiakonie“)? Welche Bedeutung hat dabei die Kooperation und Vernetzung mit anderen, auch nicht-kirchlichen Trägern im Sozialraum und inwiefern liegen im Gemeinwesen vielleicht auch gerade Chancen, den diakonischen Auftrag auf eine breitere Basis zu stellen und dadurch das diakonische Profil zu stärken? Korruption und Entwicklungszusammenarbeit am Beispiel der Arbeit ausgewählter Nichtregierungsorganisationen in Kamerun Bettina Juliane Maier Das Thema Korruption wurde in den letzten Jahren stark in der Öffentlichkeit diskutiert. Auch im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit ist Korruption ein dauerhaft präsentes Thema – die Korruptionsrate ist in Entwicklungsländern sehr hoch. Gerade in Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit müsste Korruptionsbekämpfung eines der obersten Handlungsziele sein, da Korruption Armut fördert und Entwicklung hemmt. 1 Das Thema ist so ebenfalls für kirchliche und diakonische Akteure, die in der Entwicklungszusammenarbeit tätig sind, relevant und allgegenwärtig. Mehr als zwanzig kirchliche Werke arbeiten seit 2004 mit der Nichtregierungsorganisation Transparency International zusammen an Maßnahmen, die zur Korruptionsbekämpfung beitragen sollen.2 Korruption ist auch in Kamerun ein ständig präsentes Thema, da das Land als eines der korruptesten der Erde gilt.3 Durch den großen Ressourcenreichtum Kameruns könnte es ein wohlhabendes Land sein. Jedoch werden die eigentlich guten Chancen zur Entwicklung und zu einem hohen Lebensstandard unter anderem durch korrupte Strukturen negativ beeinflusst. 4 Mir persönlich ist Korruption bei meinem Aufenthalt in Kamerun im Sommer 2011 als problematisches Thema begegnet. Es ist dort täglich spürbar und sowohl in privaten als auch beruflichen Gesprächen allgegenwärtig. Durch mein Praktikum in einer politischen Stiftung in Kamerun war ich vor allem mit politischen und entwicklungspolitischen Themen konfrontiert, weshalb ich mich insbesondere auch dafür interessiert habe, wie NGOs, die für ein sozialeres und gerechteres Miteinander eintreten, in Kamerun mit dem Thema Korruption umgehen. Die Forschungsfrage der Masterthesis lautet deshalb: „Wie gehen die ausgewählten NGOs in Kamerun mit dem Thema interner und externer Korruption um?“ Um die Forschungsfrage klären zu können, war es notwendig in dem Theorieteil wichtige Grundlagen zu schaffen und so Begriffe wie Entwicklungszusammenarbeit, NGO und Korruption zu definieren sowie eine Abgrenzung der Begriffe Entwicklungszusammenarbeit, 1 2 3 4 Masterarbeit im europäischen Masterstudiengang „Diakonie – Führungsverantwortung in christlich-sozialer Praxis“. Vgl. Vereinte Nationen, 2002, 4, zit. nach Georg Huber-Grabenwarter, Korruptionsbekämpfung in der Entwicklungszusammenarbeit –Ansätze, Chancen und Herausforderungen, in: Lukas Achathaler/Domenica Hofmann/Matthias Pázmándy (Hg), Korruptionsbekämpfung als globale Herausforderung. Beiträge aus Praxis und Wissenschaft, Wiesbaden 2011, 83–110: 85. Vgl. Bernd Ludermann, Schwarze Schafe besser finden, in: welt-sichten 4 (2009), Frankfurt a.M., online abrufbar unter www.welt-sichten.org/artikel/3485/schwarze-schafe-besser-finden (Zugriff: 21.12.2011). Vgl. www.transparency.de/Tabellarisches-Ranking.2021.0.html (Zugriff: 21.12.2011). Vgl. Volker Seitz, Afrika wird armregiert oder Wie man Afrika wirklich helfen kann, München 2009, S. 101. 186 Bettina Juliane Maier Entwicklungshilfe und Entwicklungspolitik vorzunehmen. Daraufhin wurden die wichtigsten Eigenschaften, Ziele und Probleme der Entwicklungszusammenarbeit und Erscheinungsformen, Intensitäten, Ursachen, Auswirkungen sowie Probleme von Korruption aufgezeigt. Das Land Kamerun und seine strukturellen Merkmale wurden als Standort für NGOs näher beleuchtet. Es wurde hierbei auch auf die Strukturen, Handlungsfelder und Reglementierungen der NGOs in Kamerun eingegangen. Diese theoretische Basis ist vor allem wichtig, um die Aussagen aus dem methodischen Teil verstehen und einordnen zu können. Für den empirischen Teil der Arbeit wurde das problemzentrierte Interview als qualitative Forschungsmethode ausgewählt. Die Offenheit der qualitativen Forschung ermöglicht eine Öffnung gegenüber Meinungen und Wissen des Probanden, was ausschlaggebend für die Wahl dieser empirischen Methode war.5 Die Wahrnehmung der Befragten, die ihre soziale Wirklichkeit darstellt, wird durch Kommunikationsprozesse herausgearbeitet und kann deshalb nur durch die qualitative Herangehensweise abgefragt werden. Damit liegt eine Orientierung an den Sichtweisen der einzelnen NGOs vor. Die problemzentrierten Interviews wurden dann in Kamerun mit fünf Mitarbeitern ausgewählter kamerunischer NGOs durchgeführt. Von den Interviews wurden Transkriptionen angefertigt; mit Hilfe von Einzelfallanalysen wurden Kategorien zum Thema entwickelt. Im Laufe der Auswertung der Interviews beziehungsweise der Transkriptionen konnten drei Hauptkategorien entwickelt werden, die auf die Forschungsfragen hin orientiert waren. Die erste Kategorie stellt die Wahrnehmung der Befragten zu Korruption beziehungsweise ihre eigene Rolle in diesem Zusammenhang dar. Die Aussagen hierzu wurden mit Hilfe von Unterkategorien strukturiert. Diese zeigen die Wahrnehmung der Befragten bezüglich der staatlichen Involvierung, korruptionsanfälligen Sektoren, Merkmale von Korruption, der eignen Rolle bei der Korruption sowie der Gründe für Korruption und für Korruptionsbekämpfung. Durch die Interviews wurde deutlich, dass den Befragten die Grenzziehung in Hinblick auf die Frage, wann es sich um Korruption handelt, sehr schwer fiel und kein einheitliches Bild bestand. Dies zeigen die Ergebnisse der Interviews sehr deutlich. Zudem sahen die Befragten Korruption als strukturell bedingt an, was als Argument dafür benannt wurde, warum Korruption für NGOs unumgänglich sei. Die nächste gebildete Kategorie stellen die sich aus den Interviews ergebenden Strategien zur Korruptionsbekämpfung dar; hierfür wurden theoretische Vorannahmen herangezogen. Es wurden folgende Strategien herausgearbeitet: Transparenz, Regeln, Kontrollen, Vermeidung der Arbeit mit bestimmten Sektoren, Bildungs- und Weiterbildungsmaßnahmen sowie eine funktionale Trennung bei der Arbeit mit Partnern. Insgesamt wurde durch die Aussagen in den Interviews deutlich, dass diese Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung bzw. zum internen 5 Vgl. Friczewski, Franz, Ganzheitlich-qualitative Methoden in der Streßforschung, in: Gerd Jüttemann, (Hg.), Qualitative Forschung in der Psychologie. Grundfragen, Verfahrensweisen, Anwendungsfelder, Weinheim/Basel 1985, 282–296: 288. Korruption und Entwicklungszusammenarbeit 187 Schutz der NGOs nicht in allen befragten NGOs gleich stark umgesetzt wurden und auch unterschiedliche Meinungen zu der Wichtigkeit der verschiedenen Strategien vorherrschten. Zu den Chancen der NGOs durch Korruption, die die dritte gebildete Kategorie in der Masterthesis darstellen, wurden in den Interviews keine direkten Aussagen gemacht. Jedoch konnten einige Äußerungen dieser Kategorie zugeordnet werden, welche die positiven Auswirkungen von Korruption auf die Arbeit von NGOs generell beschreiben. Vor allem das Argument, dass Arbeitsprozesse durch Korruption erleichtert und beschleunigt werden, könnte als große Chance für NGOs betrachtet werden. Auch bei der schlechten Planung oder Umsetzung von Projekten können NGOs von Korruption profitieren, indem Kontrollen gegebenenfalls verhindert und negative Evaluationen vermieden werden. Die Gewinnung neuer Geldgeber durch Einladungen seitens der NGOs kann ebenfalls als ein Profit durch Korruption genannt werden. Auf der individuellen Ebene der Mitarbeiter sind ebenfalls positive Auswirkungen der Korruption zu finden. So kann durch Unterschlagung, eine Ausprägung von Korruption, das tägliche Überleben von Kamerunern gesichert werden. Zusammenfassend fiel es den Interviewpartnern aus den verschiedenen NGOs sehr schwer zu beschreiben, wie sie Korruption wahrnehmen und definieren und wo deren Grenzen liegen. Generell könnte diese Schwierigkeit daraus resultieren, dass die Befragten in ihren Antworten und Aussagen Korruption flexibler definieren, als ich das als Forscherin mit westlichen Ansichtsweisen tue. Gerade als westlicher Forscher muss deshalb darauf geachtet werden, dass an diese kamerunische Perspektive offen herangegangen wird. So muss vorsichtig damit umgegangen werden, Regeln und Ansichten aus Industrieländern direkt auf Entwicklungsländer zu übertragen. Zudem waren viele Aussagen der Interviewten sehr ambivalent; es wäre vorstellbar, dass die Befragten sich und ihre NGO mir als westlicher Forscherin gegenüber als besonders korruptionsresistent und stark im Kampf gegen Korruption darstellen wollten. Insgesamt entstand dennoch der Eindruck, dass alle NGOs Strukturen zur Bekämpfung von Korruption installiert hätten und somit Korruption weitgehend zu bekämpfen versuchen würden. Dennoch gab es in den Interviews mehrere Stellen, aus denen erkennbar wurde, dass die Befragten für sich persönlich oder ihre NGO auch Chancen durch Korruption sehen. Personalgewinnung in der Sozialpädagogischen Familienhilfe. Analyse und Empfehlungen zur effektiven Nutzung von Personalrekrutierungswegen durch die Caritas Heilbronn-Hohenlohe im Fachbereich der Sozialpädagogischen Familienhilfe Kerstin Rook-Pawletta Die Akquirierung von geeignetem Personal im Sozialbereich ist in den letzten Jahren immer diffiziler geworden. Auch für die Caritas Heilbronn-Hohenlohe wird dieser Prozess zusehends schwieriger. Tendenziell ist zu beobachten, dass die Anzahl der Bewerbungen sowie deren Qualität stetig abnehmen. Es ist der Caritas Heilbronn-Hohenlohe bisher immer gelungen, vakante Stellen zu besetzen. Auf der Grundlage von Studien ist jedoch davon auszugehen, dass unter anderem wegen des demographischen Wandels und den damit zusammenhängenden geringeren Absolventenzahlen die Gewinnung von gutem Personal künftig noch schwieriger werden wird. Zudem muss im Arbeitsfeld der Sozialpädagogik mit einem Frauenanteil von über 70% auch immer bedacht werden, dass durch die geschlechtsspezifische Fluktuation häufig Stellennachbesetzungen aufgrund von Elternzeit nötig sind. Die Arbeit soll einen Beitrag dazu leisten, Möglichkeiten und Zugänge der Personalgewinnung, speziell für die Sozialpädagogische Familienhilfe, zu erörtern und zu analysieren. Da es zu dieser spezifischen Thematik der Personalgewinnung in der Sozialpädagogischen Familienhilfe keine Literatur gibt, wurde auf allgemeine Literatur des Personalmanagements, insbesondere des Themengebietes Personalbeschaffung, zugegriffen. Im ersten theoretischen Teil werden sowohl der Arbeitsmarkt als auch das Berufsfeld der Sozialpädagogik kurz beleuchtet. Ebenso wird das Unternehmen „Caritas HeilbronnHohenlohe“ mit seinen Organisationsstrukturen, der verbandlichen Eingliederung und den Arbeitsbesonderheiten vorgestellt. Von der Gesamtansicht des Unternehmens geht der Blick detailliert auf den Arbeitsbereich der Sozialpädagogischen Familienhilfe. Nach der Klärung dieser Rahmenbedingungen werden zunächst die Themen Anforderungsprofil und Stellenbeschreibung beleuchtet, bevor der Blick auf die internen und externen Rekrutierungswege fällt. Diese werden mit ihren Vor- und Nachteilen vorgestellt. An den theoretischen Teil schließt sich die Analyse des Personalbeschaffungsprozesses bei der Caritas Heilbronn-Hohenlohe an. Die möglichen Personalgewinnungswege werden auf ihre Praktikabilität für die Caritas Heilbronn-Hohenlohe überprüft. Betrachtet wird an dieser Stelle ebenfalls, welche Rekrutierungswege bereits in welcher Form genutzt werden. Zur Erhebung des Ist-Zustandes wurde ein Interview mit der für den Fachbereich der Sozialpädagogischen Abschlussarbeit im berufsbegleitenden Masterstudiengang „Unternehmensführung im Wohlfahrtsbereich“. Personalgewinnung in der Sozialpädagogischen Familienhilfe 189 Familienhilfe zuständigen Fachleitung geführt. Weiterhin wurde methodisch eine schriftliche Erhebung via E-Mail durchgeführt. Schließlich werden Empfehlungen und Vorschläge zur gewinnbringenden Nutzung von geeigneten Rekrutierungswegen gegeben. Näher betrachtet werden folgende interne und externe Rekrutierungskanäle: innerbetriebliche Stellenausschreibung, Empfehlungen von Mitarbeitern, Print-Stellenanzeigen, Bundesagentur für Arbeit, Hochschulmarketing (Campus Recruiting) und Internet (Electronic Recruiting). Besonderes Augenmerk wird hierbei auf die modernen Medien sowie das Hochschulmarketing gelegt. Da es immer wichtiger wird, ein gutes Employer Branding zu haben um gegenüber anderen Dienstleistern zu bestehen, wird bei den Empfehlungen großen Wert darauf gelegt die Arbeitgebermarke „Caritas HeilbronnHohenlohe“ hervorzuheben. Der „Corporate Governance Kodex für die Diakonie in Baden“ als Organisationsentwicklungsinstrument des Change Managements in diakonischen Einrichtungen Eine empirische Untersuchung Luisa Sandritter Durch zahlreiche Unternehmensinsolvenzen und Kapitalmarktkrisen, die Glaubwürdigkeitsund Vertrauensverluste innerhalb des privat- als auch sozialwirtschaftlichen Unternehmenssektors nach sich zogen, rückten Grundsätze, die eine gute und verantwortungsvolle Leitung und Überwachung umschreiben, in den Fokus öffentlicher Diskussionen. Zur Vermeidung solcher Krisensituation ist es erforderlich, sich mit Fragen der Corporate Governance, auch in diakonischen Einrichtungen, auseinanderzusetzen. Der Spitzenverband der Diakonie verabschiedete im Jahr 2005 einen eigenen Diakonischen Corporate Governance Kodex (DGK) für seine Mitgliedsorganisationen. Dieser orientiert sich an den Inhalten des Deutschen Corporate Governance Kodex (DCGK) und ist darauf ausgerichtet, das duale Führungssystem, bestehend aus leitendem und beaufsichtigendem Gremium, innerhalb diakonischer Einrichtungen zu verorten. Dabei versteht sich der DGK „als Regelungswerk, das durch eine Kompetenzabgrenzung der Organe und Vorgaben zur Kommunikation dieser Organe untereinander eine qualifizierte Arbeit der Einrichtungen ermöglicht.“1 Innerhalb einiger Landesverbände, wie beispielsweise dem Diakonischen Werk der Evangelischen Landeskirche Baden e. V. (DW Baden), wurde ein eigener Kodex entwickelt und Anfang 2009 in Kraft gesetzt. Durch die Anwendung von Standards guter und verantwortungsvoller Führung soll „das diakonische Profil, die Fachlichkeit und die Wirtschaftlichkeit aller Mitgliedseinrichtungen gefördert werden“2 postuliert das Statut. Die Etablierung eines Kodex und demzufolge Implementierung von CorporateGovernance-Richtlinien in Organisationen bedingen einen Veränderungs- bzw. Reorganisationsprozess, der Organe, Strategien, Strukturen und Abläufe betrifft. Corporate Governance kann somit zu einem Entwicklungsinstrument werden, das den geplanten Wandel (Change Management) in einem Unternehmen beschreibt. Diese organisationstheoretische Betrachtungsweise führte dazu, die Realisierung von Corporate Governance als Instrument der Organisationsentwicklung in den Mitgliedseinrichtungen des DW Baden im Rahmen dieser 1 2 Masterarbeit im europäischen Masterstudiengang „Diakonie – Führungsverantwortung in christlich-sozialer Praxis“. DW EKD 2005, www.diakonie.de/DK-2005-05.pdf, 7. DW Baden 2009, www.diakonie-baden.de/fileadmin/documentpool/Diakonie_Baden/Corporate_Governance_Kodex-Diakonie_Baden.pdf, 5. Der „Corporate Governance Kodex für die Diakonie in Baden“ als Organisationsentwicklungsinstrument 191 Masterarbeit anhand einer quantitativen Erhebung zu untersuchen. Neben der Frage, welche Empfehlungen des Regelwerks von den Mitgliedseinrichtungen verwirklicht werden, sollte mittels statistischer Analyseverfahren maßgebliche, die Realisierung mitbestimmende Einflussfaktoren untersucht werden. Außerdem wurde angestrebt, aus den Antworten Hinweise auf einen inhaltlichen Veränderungs- bzw. Ergänzungsbedarf und Impulse zur Weiterentwicklung und Optimierung des badischen Corporate Governance Konstrukts zu gewinnen. Die Arbeit ist in zwei übergeordnete Teile gegliedert: Im ersten Teil werden die notwendigen theoretischen Grundlagen zu Corporate Governance und Organisationsentwicklung dargestellt. Daran schließt sich der zweite Teil an, in dessen Mittelpunkt die empirische Untersuchung sowie die darauf aufbauende Diskussion und Interpretation der Ergebnisse steht. Zunächst wird umfassend auf die Thematik Corporate Governance eingegangen. Neben einer Definition des Begriffs Corporate Governance in einem ersten Schritt wird der DCGK mit seinen Inhalten und Zielen erläutert. Darauf aufbauend wird die Bedeutung von Corporate Governance für den Nonprofit-Bereich herausgearbeitet. Dabei werden insbesondere Corporate Governance relevante Merkmale und Herausforderungen von NPOs diskutiert. Anschließend folgt die Einführung der Begrifflichkeiten Organisationsentwicklung und Change Management sowie die Beschreibung ihres Zusammenhangs. Dies bildet die Grundlage für die Darstellung der zentralen Handlungsfelder von Change Management in NPOs, von denen eines Corporate Governance ist. Im Weiteren werden die Erfolgsfaktoren und Phasen von Veränderungsprozessen erläutert. Dabei wird eine Übertragung des Prozesses auf die Entwicklung und Einführung des CGKDB als Organisationsentwicklungsinstrument anhand der vier Phasen „Analyse“, „Planung“, „Umsetzung“ und „Kontrolle“ vorgenommen. Im zweiten Teil der Arbeit erfolgt die Analyse des Umsetzungstandes des CGKDB und damit zunächst die theoretische und methodologische Grundlegung der quantitativempirischen Untersuchung. Hierzu werden die Rahmenbedingungen dargelegt, die neben den Zielsetzungen maßgeblich dazu beitrugen, die Empirie quantitativ anzulegen. Auf dieser Grundlage wird das Forschungsdesign konzipiert. Im Rahmen dessen werden die Grundgesamtheit und Zielgruppen der Studie beschrieben, die Auswahl der Erhebungsmethode begründet und die Entwicklung des standardisierten Fragebogens transparent gemacht. Abschließend wird der zeitliche Verlauf der Datenerhebung wiedergegeben. Daran schließt sich die „deskriptive“ und „explikative“ Datenauswertung an. Während es sich bei der deskriptiven Darstellung der Ergebnisse um Häufigkeitsverteilungen der Empfehlungen des CGKDBs innerhalb der Einrichtungen handelt, gibt der explikative Teil mittels der Überprüfung von Hypothesen darüber Auskunft, welche der identifizierten möglichen Einflussfaktoren in einem Zusammenhang mit der Umsetzung der Empfehlungen des CGKDB stehen. Bevor die 192 Luisa Sandritter Datenanalyse beginnt, werden Verzerrungseffekte der Befragung sowie der Umgang mit diesen aufgezeigt und eine Fehlerkontrolle vorgenommen. Schließlich werden die Untersuchungsergebnisse zusammengefasst und sogleich die forschungsleitende Frage beantwortet. Hierzu werden als erstes die Grenzen der Untersuchung erörtert und im speziellen Gütekriterien quantitativer Forschungsprozesse überprüft. Es folgt die Interpretation der Ergebnisse im Hinblick auf die Forschungsfrage. Wesentliche Ergebnisse zeigen sehr gute Resultate in den Bereichen der Satzungs- und Geschäftsordnungsstruktur sowie Controlling und Risikomanagement, aber auch die Notwendigkeit einer ethischen und werteorientierten Weiterentwicklung. Die Arbeit endet mit der Ableitung von Corporate Governance relevanten Handlungsempfehlungen für die Diakonie Baden, die weiterführende Fragestellungen für diesen Forschungsbereich beinhalten. Social Media als Medium zur diakonischen Identitätsgestaltung Verena Schader Grundfrage dieser Arbeit ist es, wie die Nutzung von Social Media zur Entwicklung und Stärkung diakonischer Identität beitragen kann. In dieser Arbeit wird Diakonie verstanden als eine Dimension von Kirche und zeigt sich in unterschiedlichen Erscheinungsformen von meist ehrenamtlich getragenen GraswurzelInitiativen aus Kirchengemeinden heraus bis zu diakonischen Großeinrichtungen und Werken mit professionellen Kräften. Diakonische Identität entsteht im „Bereich des Zwischen“ zwischen Diakonie und ihrer Umwelt (nach Martin Bubers Dialogischem Prinzip1) als Kommunikation zwischen innerer Absicht und äußerer Wahrnehmung. Der Prozess der diakonischen Identitätsentwicklung kann als diakonische Bildung im Sinn einer wechselseitigen Kommunikation zwischen Diakonie und Umwelt gesehen werden. Er kann niemals abgeschlossen sein, sondern ist als fortwährender Prozess zu verstehen. Mittels diakonischer Bildung entwickeln und stärken diakonische Mitarbeitende aller Professionen und Anstellungsarten ihre diakonische Kompetenz. Inhalte diakonischer Bildung sind nach Horstmann diakonische Elementaria. 2 Diese Elementaria (Grunderfahrungen, Wirkrichtungen, Gestaltungsmuster) können ebenfalls als Kommunikation verstanden werden. Diakonische Grunderfahrungen (z.B. Gebrauchtwerden, existenzielle Gleichheit und Nachtgesichtigkeit) werden Adressaten zugänglich gemacht bzw. ermöglicht und mit diesen reflektiert. Sie sollten auch von diakonischen Mitarbeitenden erlebt und reflektiert worden sein, dies geschieht idealerweise im Prozess der diakonischen Identitätsentwicklung. Die Art und Weise, wie die Kommunikation gestaltet ist, drückt sich in diakonischen Gestaltungsmustern (z.B. individuelle und strukturelle Hilfe, Aktion und Kontemplation, Mitleidenschaft und Ermächtigung) aus. Die diakonischen Wirkrichtungen (Versöhnung, Befreiung, Heilung und Befähigung zur Teilhabe) zielen auf die Auflösung der Abgrenzungen des „Bereichs des Zwischen“, ohne diese je vollständig realisieren zu können. Mit den diakonischen Elementaria kann die innere Substanz diakonischer Identität beschrieben werden. Social Media schaffen neue Möglichkeiten der Online-Kommunikation. Die grundlegende Weiterentwicklung gegenüber dem Web 1.0 ist die Möglichkeit der wechselseitigen Bezugnahme, welche ebenfalls im „Bereich des Zwischen“ stattfindet. Zwischen der diakonischen Profildiskussion und der Web 1.0-Marketing-Einbahnstraßen-Kommunikation 1 2 Abschlussarbeit im berufsbegleitenden Masterstudiengang „Führung in Diakonie und Kirche“. Siehe Martin Buber, Das dialogische Prinzip, 1997. Siehe Horstmann, Das Diakonische entdecken – didaktische Zugänge zur Diakonie, Heidelberg 2011, 245 ff. 194 Verena Schader sind Parallelitäten festzustellen, ebenso wie zwischen der diakonischen Identitätsentwicklung und dem Web 2.0- Pluralog. Unterschiedliche Gruppen nutzen Social Media unterschiedlich intensiv und kompetent. Diese Nutzergruppen sind innerhalb der Diakonie genauso vertreten wie außerhalb, evtl. bestehen leicht unterschiedliche prozentuale Verteilungen. Die Nutzer lassen sich grob in Digital Natives, Digital Immigrants und Digital Outsiders teilen. 3 Diakonie muss in Social Media aktiv sein, wenn sie weiterhin wahrgenommen werden, den sozioökonomischen Anschluss nicht verlieren und weiterhin gesellschaftsgestaltende Kraft sein will. Social Media sind eine Möglichkeit der Kommunikation von und mit Diakonie. Diakonische Social Media- Aktivität kann sowohl intern (z.B. als Bildungsangebot und fachliche Vernetzung) als auch extern (z.B. als Möglichkeit zur Rückmeldung äußerer Wahrnehmung und gesellschaftlicher Themensetzung) erfolgen. Wie diese konkret gestaltet sein könnte, kann nur beispielhaft dargestellt werden, da dies in bestimmten Situationen von einzelnen Menschen geleistet werden muss und wird. Grundlegende Orientierung kann dabei die Formulierung einer diakonischen Social Media-Policy (intern als Social Media Guidelines, extern als Netiquette) anhand der diakonischen Elementaria (Grunderfahrungen, Gestaltungsmuster, Wirkrichtungen) bieten. Grundsätzlich ist die Kommunikation mittels Social Media durch Digital Natives innerhalb der Diakonie am erfolgversprechendsten. So wie die Diakonie allgemein können auch diakonische Digital Immigrants als Brückenbauer angesehen werden, sowohl intern (z.B. zwischen Digital Natives und Digital Outsiders) als auch extern (z.B. zu Digital Natives der Umwelt). Insgesamt sind Social Media Kommunikationen als Möglichkeit zu Erhöhung von Anknüpfungspunkten zu sehen. Die Entwicklung einer vielverzweigten, pluriformen, vielfältigen diakonischen Community ist wünschenswert. Je häufiger einem in den unterschiedlichsten Zusammenhängen Diakonie begegnet, je feinmaschiger also das „diakonische Kommunikationsnetz“ insgesamt gewebt ist, desto größer ist die Chance, diakonische Identität zu entwickeln und diese kongruent zu (er-) leben. Unabdingbar relevant ist hierfür die Akzeptanz aller anderen Teilnehmenden als gleichberechtigte Partner im Pluralog auf Augenhöhe. Bleiben die aktuellen Entwicklungen der (Online-) Kommunikation von der Diakonie ungenutzt, ist dies für die Diakonie als zukunftsgefährdend und gesamtgesellschaftlich als Schwächung anzusehen. Diakonie ist eine grundlegende gesellschaftliche und gesellschaftsgestaltende Kraft und kann dies mittels des adäquaten, also pluralogischen Einsatzes von Social Media auch zukünftig sein und ihre Identität authentisch und glaubwürdig entwickeln. 3 Siehe DIVSI: DIVSI Milieu-Studie zu Vertrauen und Sicherheit im Internet, 2012, online abrufbar unter www.divsi.de/publikationen/studien/divsi-milieu-studie/. Social Media als Medium zur diakonischen Identitätsgestaltung 195 Abschließend stelle ich die diakonische Identitätsentwicklung in Social Media grafisch wie folgt dar: Die blaue Fläche steht hierbei für die Diakonie und die weiße für deren Umwelt. Die die unterschiedlichen Kommunikationen abbildenden Pfeile überspannen den „Bereich des Zwischen“. Die diakonische Community wird, wie deutlich gemacht, in unterschiedlichen Anteilen von den verschiedenen Nutzergruppen sowohl in der Diakonie als auch in deren Umwelt gebildet. Zur Bedeutung von salutogenetischen Aspekten in der Organisationskultur einer diakonischen Einrichtung Gabriele Strobel Als Mitglied einer evangelischen Lebens-, Glaubens-, und Dienstgemeinschaft habe ich dieses Thema der Masterarbeit gewählt, um folgender Problemstellung nachzugehen: Wir leben in einer Zeit, die geprägt ist zum einen vom Geist der Postmoderne mit Wertevielfalt und beliebigkeit und zum anderen vom Geist der Ökonomisierung aller Lebensbereiche, auch des Sozialen. Damit einhergehend steigt u.a. der Druck der Professionalisierung sowie der Rationalisierung mit der Konsequenz z.B. von Ressourceneinsparung und damit verbunden verdichteter Arbeit. Auftrag einer diakonischen Organisation ist es m.E., in diesen Gegebenheiten aus dem Motiv der christlichen Nächstenliebe heraus in der Gesellschaft sozial engagiert zu sein. Leitfrage und damit verbunden das Ziel der Arbeit, diesen Fragen nachzugehen, ist: Welches sind strategische Wege, auf denen (1) die diakonische Identität in der diakonischen Organisationskultur gestärkt und (2) die Gestaltung der diakonischen Organisationskultur Gesundheitsförderung unterstützt wird? Meine Überlegungen führten mich zum einen zum inhaltlich „Diakonischen“, den diakonischen Elementaria von Martin Horstmann. Es sind die diakonischen Grunderfahrungen, diakonischen Gestaltungsmuster, diakonischen Wirkrichtungen. Und sie führten mich zum anderen zum „Salutogenetischen“. Darunter verstehe ich das salutogenetische Kohärenzgefühl nach Aaron Antonovsky als eine dynamische Grundorientierung des Vertrauens im Leben bzw. als eine Zusammenwirkung eines ausgeprägten Gefühls der Verstehbarkeit, der Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit. Menschen mit einem ausgeprägten Kohärenzgefühl bewegen sich auf dem GesundheitsKrankheits-Kontinuum in Richtung Gesundheitspol. Sie betreiben Selbstfürsorge – als eine Form der Selbstliebe – in einer gesunden Balance zur Nächstenliebe. Allein die Tatsache, dass das inhaltlich Diakonische in der diakonischen Organisationskultur einen hohen Stellenwert gewinnt, hat m.E. etwas Salutogenetisches, da so in der Organisationskultur dem Eigentlichen ein hohes Maß an Bedeutsamkeit beigemessen wird. Den Ansatzpunkt zur Stärkung des Diakonischen und Salutogenetischen in der Organisation sehe ich in einem diese Richtung verfolgenden, bewussten Weg der Organisationskulturentwicklung. Für dieses Anliegen werden zunächst in Kapitel 1 bis 3 die theoretischen Grundlagen geschaffen. In Kapitel 1 werden der Organisations-, und der Kulturbegriff in ihrer Verstehbarkeit und Bedeutsamkeit erläutert. Dazu werden die Erfolgsfaktoren von Peters/ Waterman in ihrer Vernetzung bzw. die Wesenselemente von Glasl/Lievegoed in ihrer Abschlussarbeit im berufsbegleitenden Masterstudiengang „Führung in Diakonie und Kirche“. Zur Bedeutung von salutogenetischen Aspekten in der Organisationskultur einer diakonischen Einrichtung 197 Differenzierung dargestellt. Weiter wird die Bedeutsamkeit der Organisationskultur herausgestellt. Dabei wird das Kulturanalysemodell von Edgar Schein, erweitert um das Modell von Sonja Sackmann, knapp erläutert. Bei den genannten Konzepten wurde bezogen auf den Organisations-, Werte- und Kommunikationsbegriff sowie auf das Menschenbild eine Kompatibilität festgestellt. In Kapitel 2 schließlich habe ich nach der Erläuterung des Diakoniebegriffs in seinen verschiedenen Bezügen versucht zu zeigen, inwiefern die in Kapitel 1 vorgestellten Organisations- und Organisationskulturkonzepte anschlussfähig sind an den Typus der diakonischen Organisation bzw. den Typus der Lebens-, Glaubens- und Dienstgemeinschaft. Der gemeinsame Konsens ist dabei das erweiterte Menschenbild des homo oeconomicus. Die diakonischen Elementaria von Horstmann habe ich zu dem „Konzept der diakonisch-spirituellen Nächstenschaft in der diakonischen Organisationskultur“ zusammengeführt. In Kapitel 3 stelle ich zunächst das „Salutogenetische“ im Konzept der Salutogenese von Antonovsky vor, anschließend die Bedeutsamkeit dieses Konzeptes für die gesundheitsförderliche Organisationskultur, und schließlich versuche ich wiederum die Kompatibilität zu den zuvor genannten Organisationskonzepten, bezogen auf die bereits genannten Begrifflichkeiten sowie bezogen auf das Menschenbild, darzustellen. In Kapitel 4 skizziere ich zunächst knapp theoretische Grundlagen des Kulturentwicklungsprozesses von Sackmann, um dieses Konzept als Anhaltspunkt zu nehmen für ein eigens entwickeltes Kulturanalysekonzept, dem „Konzept der salutogen-orientierten, diakonisch-spirituellen Nächstenschaft in der diakonischen Organisationskultur“. Dieses Konzept integriert die in der Arbeit vorgestellten Konzepte zu einem Kulturanalysekonzept mit acht Teilkonzepten. Zur praktischen Reflexionsanwendung habe ich dazu methodisch ein zweiteiliges Kulturanalyseinstrument entwickelt: (1) ein Leitfragensystem, das je nach Gruppe und Situation in der praktisch sprachlichen Anwendung modifiziert bzw. angepasst werden kann, (2) eine Drehscheibe als visuelles Reflexionsinstrument. Das Besondere der Drehscheibe ist es, grundsätzlich oder aus aktuellem Anlass Schlüsselsituationen in der diakonischen Organisationskultur in ihren Varianten reflexiv durchzuspielen und so günstige Konstellationen zur gezielten Kulturgestaltung ausfindig zu machen. Das Ergebnis der Arbeit ist das entwickelte Kulturanalysekonzept und -instrument mit der noch zu überprüfenden Hypothese: Werden innerhalb der verschiedenen Kulturebenen in der diakonischen Organisationskultur – auf der Basis des Selbstverständnisses der Gottes-, Nächsten-, Welt- und Selbstliebe – diakonische Elementaria, das salutogenetische Kohärenzgefühl, die Erfolgsfaktoren/Wesenselemente und die Artefacte reflexiv gestaltet, vernetzt und weiterentwickelt, so kann die Kulturqualität der Organisation eine Entwicklung hin zum Diakonischen und Salutogenetischen nehmen. Praktisch zeigt Kapitel 4.3 knapp und ansatzweise Wege, wie das Diakonische und Salutogenetische in der formellen/informellen Kommunikationsstruktur in der Dienstgemeinschaft einer Lebens-, Glaubens- und Dienstgemeinschaft inhaltlich Gestalt 198 Gabriele Strobel gewinnen kann. Diese Wege müssen langfristig begleitet sein durch ein konsistentes, parallel angelegtes Lernsystem salutogen-orientierter diakonischer Bildungsprozesse. Langfristige Auswirkung wäre m.E. eine diakonische Organisationskultur mit der Identität des Diakonischen und Salutogenetischen. Ich bin der Überzeugung: Eine solche diakonische Organisation, z.B. in Form einer Lebens-, Glaubens- und Dienstgemeinschaft, könnte ein ansprechendes sozial-diakonisches Organisationsmodell für die Gegenwart und (nahe) Zukunft unserer postmodernen Gesellschaft sein. Kommunale Strategien zur Bekämpfung von Kinderarmut Naile Sulejmani In meiner Masterarbeit „Kommunale Strategien zur Bekämpfung von Kinderarmut“ beschäftigte ich mich mit zwei zentralen Fragestellungen. Diese lauteten: − Wie kann die Situation von Kindern und Jugendlichen langfristig verbessert werden? − Wie können finanzielle Aufwendungen zur Bekämpfung von Kinderarmut effektiv gebündelt werden, um diese einzudämmen und möglicherweise zu überwinden? Dazu stelle ich der Arbeit folgende Hypothesen heran: 1. Die finanziellen Aufwendungen des Bundes zur Bekämpfung der Kinderarmut sind nicht langfristig angelegt, sondern werden nach dem „Gießkannenprinzip“ verteilt. 2. Die Mittel des Bundes zur Verbesserung der Lage von armen Kindern und Jugendlichen wären beim Träger und Verantwortlichen der Kinder- und Jugendhilfe, der Kommune, besser investiert. Die Arbeit gliederte sich in fünf Kapitel. Die Einleitung umriss den Aufbau der Arbeit, stellte die Hypothesen und die Fragestellungen heraus. Im zweiten Kapitel wurde das theoretische Gerüst der Arbeit dargestellt. Der Lebenslagenansatz und die Resilienzforschung unterstützten meine Fragestellungen und meine Hypothesen. Es war mir in diesem Kapitel sehr wichtig herauszustellen, dass die Armut von Kindern und Jugendlichen trotz der Wichtigkeit diese separat zu betrachten, niemals ohne die Armut der Eltern zu lösen bekämpft werden kann. Daher verwies ich mehrmals auf die Wichtigkeit, dass der Bund und die Länder strukturelle Ursachen von Armut bekämpfen müssen. Zudem erarbeitete ich den Ist-Zustand von armen Kindern und Jugendlichen anhand der vier zuvor als wesentlich deklarierten Lebenslagendimensionen (Wohnen, Gesundheit, Einkommensarmut, Bildung und gesellschaftliche Teilhabe). Zusammenfassend lauteten die Ergebnisse, dass arme Kinder und Jugendliche in den zentralen Dimensionen der Lebenslagen benachteiligt sind. Sie sind schlechter gebildet, häufiger krank und in Unfälle verwickelt, in ihrer Entwicklung liegen sie meist hinter anderen Kindern. Sie haben meist von der traditionellen Familie abweichende Konstellationen, leben häufiger in sog. Sozialen Brennpunkten, besuchen häufiger die Hauptschulen, brechen häufiger die Schule ab, sind häufiger arbeitslos. Sie sind seltener in ein starkes Umfeld eingebunden und bereits im Kindes- und Jugendalter von der Gesellschaft abgeschnitten. Daraufhin erläuterte ich in Kapitel 3. die verschiedenen Maßnahmen des Bundes und der Länder zur Kinder- und Jugendhilfe und unterfütterte dieses Kapitel mit belastbaren Masterarbeit im europäischen Masterstudiengang „Diakonie – Führungsverantwortung in christlich-sozialer Praxis“. 200 Naile Sulejmani Zahlen, die unter anderem aus dem 4. Armuts- und Reichtumsbericht der vorangegangenen Bundesregierung und des 14. Kinder- und Jugendberichts stammten. Dies sollte veranschaulichen, dass der Bund und die Länder relativ hohe finanzielle Kosten hat, diese zum großen Teil in nicht förderliche Maßnahmen fließen. Das vierte Kapitel, welches die kommunale Sozialpolitik im Auge hatte, befasste sich daher mit den Rahmenbedingungen kommunaler Sozialpolitik und der Finanzierung dieser. Zudem wurde in einem Unterkapitel das Spannungsverhältnis Kommune-Bund-Länder aufgezeigt, da dies ein wesentliches Charakteristikum im Kampf gegen Armut ist. Deutlich wurde dies im weiteren Verlauf des Kapitels. Anhand diakonischer Armutsbekämpfung sollte exemplarisch aufgezeigt werden, wie Zivilgesellschaft, Verbände, Kirchen in den Kommunen aktiv werden können und in welchem Spannungsverhältnis sie sich befinden. Den Abschluss des vierten Kapitels bildete die Bündelung der verschiedenen bis dahin ausgearbeiteten Ergebnissen. Ziel war ein Konzept zu entwickeln, welches Bezug auf die verschiedenen Maßnahmen von Bund und Ländern nimmt, die Zivilgesellschaft als eigenständige Kraft wahrnimmt, den Kommunen als Hauptverantwortlichen in der Kinder- und Jugendhilfe die Planungshoheit gibt. Daher war ein weiterer wichtiger Punkt die FInanzierung dieses Konzeptes. Eine wesentliche Idee war die Einführung einer Kinder- und Jugendumlage, die hälftig von Arbeitnehmern und Arbeitgebern getragen werden sollte. Dahinter steht der Ansatz, dass EInsparungen innerhalb der KOmmunen zu einem Entlastungseffekt führen, der wiederum auf die BügerInnen umgelegt werden kann. Die Zweckbindung einer solchen Umlage sollte sicherstellen, dass die KOmmunen diese Mittel nicht zur Sanierung des Haushaltes nutzen. Im letzten Kapitel fasste ich die Ergebnisse zusammen und verwies auf die Wichtigkeit, dass Armut nur strukturell bekämpft werden kann, weshalb die Lösung globaler gedacht werden muss. Dabei lauteten die wesentlichen Ergebnisse, dass die wachsende Zahl der Kinder und Jugendlichen, die in Deutschland in Armut aufwachsen zunimmt. Kommunen können aufgrund ihrer Rahmenbedingungen nicht die familiäre Armut bekämpfen, sie sind aber in der Lage kindspezifische Angebote zu schaffen, welchen armen Kindern und Jugendlichen zugute kommen. Die Verflechtung von Bund, Ländern und Kommunen in der Kinder- und Jugendhilfe erschwert langfristige und nachhaltige Armutsbekämpfung bei Kindern und Jugendlichen. Die Kommunen sind für diese Maßnahmen der beste Ort, da hier der Bedarf unmittelbar ermittelt werden kann und auf spezifische Probleme vor Ort eingewirkt werden kann. Eine Maßnahme ist die Etablierung von Sprachrohren für Kinder und Jugendliche um eine starke Interessenvertretung für diese Bevölkerungsgruppe zu erreichen. Dies sollte zu verbesserten politischen Teilhabechancen führen. Die Kommunen könnten ihre Ausgaben für Kinder- und Jugendpolitik durch eine Kinder- und Jugendumlage finanzieren lassen. Dies würde Einsparungen für Bund und Länder bedeuten. Um diese vorgestellten Ansätze zu Kommunale Strategien zur Bekämpfung von Kinderarmut 201 verwirklichen, bedarf es dem erklärten politischen Willen der Interessenvertreter. Es bedarf einer starken Allianz aus Kommunen, sozialen Akteuren, Kirchen und Verbänden. Personalentwicklungsmaßnahmen in Organisationen der Altenpflege unter Berücksichtigung veränderter Rahmenbedingungen Fernanda S. Thiago Bogado Diese Masterarbeit widmet sich den Veränderungen in den Strukturen der Arbeit im Altenpflegebereich und der Möglichkeit, aktuelle Personalentwicklungsanpassungen in Organisationen der Altenpflege zu implementieren. Überprüft wird die Hypothese, ob aktuelle Entwicklungsanpassungen im Bereich Personalmanagement, vor allem in der Gestaltung von Personalentwicklungsmaßnahmen, Altenpflegeeinrichtungen unterstützen können, sich den neuen Anforderungen anzupassen. Gegenstand der Arbeit ist die Analyse der Arbeitsbedingungen in der Altenpflege unter Berücksichtigung der veränderten Rahmenbedingungen, die die Arbeit in der Pflege beeinflussen. Ziel war es, den Altenpflegeeinrichtungen ein entscheidungsunterstützendes Instrumentarium zur Entwicklung eines eigenen Personalentwicklungskonzeptes unter Berücksichtigung der pflegespezifischen Anforderungen zur Verfügung zu stellen. Folgende Forschungsfragen liegen der Arbeit zugrunde: − Wie sehen die Rahmenbedingungen und Arbeitsanforderungen in der Altenpflege aus? − Welche Instrumente stehen für eine Personalentwicklung in der Pflege zur Verfügung? − Wie kann durch Personalentwicklung die Leistungsfähigkeit und die Zufriedenheit der Mitarbeiter sowie die Attraktivität der Altenpflegeeinrichtungen erhalten bzw. erhöht werden? Die Arbeit gliedert sich in vier Bereiche, erstens Grundlagen der Personalentwicklung mit ihrer Instrumenten und Methoden, zweitens einer Beleuchtung der veränderten Rahmenbedingungen und Anforderungen an die Personalentwicklung in der Altenpflege, drittens einer Analyse der Arbeitsbedingungen in Altenpflegeeinrichtungen. Diese wird anhand von Ergebnissen des von der Universität Wuppertal in den Johanniter-Seniorenhäuser GmbHs durchgeführten Forschungsprojekts „3Q-Studie“ untersucht. Der vierte Bereich bietet Prämissen und Handlungsalternativen zur Erarbeitung eines Personalentwicklungskonzepts in Altenpflegeeinrichtungen. Ziel dieser Vorgehensweise war es, veränderte Rahmenbedingungen und Anforderungen, die die Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter in der Pflege beeinflussen, zu zeigen. Als veränderte Rahmenbedingungen und allgemeine Anforderungen in der Altenpflege sind folgende Aspekte zu berücksichtigen: − Struktur der Beschäftigung und Arbeitsanforderungen Abschlussarbeit im berufsbegleitenden Masterstudiengang „Unternehmensführung im Wohlfahrtsbereich“. Personalentwicklungsmaßnahmen in Organisationen der Altenpflege 203 − demografischer Wandel − wachsende Internationalisierung und Globalisierung − Tendenz zu Werte- und Einstellungswandel − fehlende Attraktivität des Berufes und des Arbeitsplatzes − Trend zur Wirtschaftlichkeit und Wettbewerb − Veränderung der Arbeitsinhalte Auch Führungsqualität sowie Frauen in Führungspositionen gehören zu den wesentlichen Anforderungskriterien in der Altenpflege, da die Führungsqualität erhebliche Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen hat. Festzustellen ist, dass es aufgrund der zunehmenden Anforderungen und der veränderten Rahmenbedingungen in der Pflege erforderlich wird, innovative Personalentwicklungsmaßnahmen in Organisationen des Pflegebereiches zu integrieren, um die Beschäftigungsfähigkeit der Mitarbeiter kontinuierlich zu fördern und zu entwickeln, sowie die Attraktivität des Pflegeberufes und der Pflegeeinrichtungen zu erhöhen. Erkennbar wird die Notwendigkeit eines gesamten und integrativen Konzepts, das die Veränderungsbedarfe der Organisation mit den Interessen der Mitarbeitenden sinnvoll verbindet. Eine integrative Personalentwicklungsstrategie bedeutet die Besonderheiten der Zusammenarbeit älterer und jüngerer Mitarbeiter, behinderter und nicht behinderter Mitarbeiter, Männer und Frauen sowie Zuwanderer und Einheimischer zu berücksichtigen, um die Leistungen und komplementären Kompetenzen aller Mitarbeiter sinnvoll zu nutzen. Für die effektive Einführung eines Personalentwicklungskonzepts, das die veränderten Rahmenbedingungen sowie die Interessen und Ziele der Mitarbeiter berücksichtigt, zeigt die vorliegende Untersuchung, dass es bestimmte Voraussetzungen gibt. An erster Stelle liegt die Unterstützung vonseiten der Geschäftsführung sowie Leitern auf allen Ebenen. Eine weitere Voraussetzung ist die langfristige Betrachtung solcher Ansätze und die Implementierung von Instrumtenten und Methoden aus dem Bereich Personalentwicklung. Auch die Qualifizierung der Führung spielt eine zentrale Rolle, denn viel wichtiger als die Erarbeitung von Konzepten für die Personalentwicklung ist die Sicherstellung, dass die verantwortlichen Mitarbeiter in der Lage sein werden, die Maßnahmen der Personalentwicklung umzusetzen. Suchet der Stadt Bestes! Strategische Entscheidungsentwicklung zum Aufbau eines Integrationsunternehmens in Berlin am Beispiel des Bereichs „Komm und Sieh“ der Berliner Stadtmission Matthias Waldhoff Einleitung Wie lassen sich missionarische, diakonische und wirtschaftliche Aspekte in der Diakonie miteinander verbinden? Am Beispiel des Bereichs „Komm & Sieh“ der Berliner Stadtmission gibt die Masterthesis Einblick in eine Strategieentwicklung, die diese drei Themenkomplexe miteinander verbindet. Die Berliner Stadtmission ist Träger verschiedener diakonischer Projekte und Einrichtungen in Berlin und Brandenburg. Das Projekt „Komm & Sieh“ ist ein Arbeitszweig, in dem in einigen Läden Second-Hand-Artikel sowie Antiquitäten und Trödel verkauft werden. Ehemals wohnungslose, suchtkranke oder arbeitslose Menschen werden so wieder an das Berufsleben herangeführt. Ziel der Masterthesis ist die Entwicklung einer Strategie ausgehend von der Vision der Stadtmission, aus diesem Projekt ein Integrationsunternehmen aufzubauen. Die Masterthesis geht dabei in drei Schritten vor: Im ersten Teil wird der Bereich „Komm & Sieh“ der Berliner Stadtmission strategisch analysiert. Dem folgt eine Forschungsstudie über Integrationsprojekte in Berlin hinsichtlich Vision, Wirtschaftlichkeit und Marktstrategien anhand von Experten-Interviews aus verschiedenen Perspektiven. Im dritten Teil werden auf Basis der vorangegangen Analyse-Ergebnisse für „Komm & Sieh“ sowie für den Aufbau eines Integrationsunternehmens unter Berücksichtigung normativer Perspektiven StrategieAlternativen entwickelt. Im Anschluss wird eine Strategieempfehlung formuliert. Strategische Analyse des Geschäftsbereichs „Komm & Sieh“ Für „Komm & Sieh“ werden eigene interne Stärken und Schwächen sowie Chancen und Risiken des Umfelds analysiert, während die Analyse der eigenen Wertorientierung zusätzlich normative Aspekte aus dem neuen St. Galler Management Modell in die klassische SWOTAnalyse mit einfließen lässt. Masterarbeit im europäischen Masterstudiengang „Diakonie – Führungsverantwortung in christlich-sozialer Praxis“. Suchet der Stadt Bestes. Strategische Entscheidungsentwicklung zum Aufbau eines Integrationsunternehmens 205 Seine Stärken hat der Bereich vor allem im diakonisch-missionarischen Profil, in einer kompetenten Führung sowie einem ausgewogenen Mix aus angestellten und ehrenamtlichen Mitarbeitern. Ferner kann „Komm & Sieh“ auf ein positives Image, ein gutes Netzwerk und Ressourcen innerhalb des Konzerns der Berliner Stadtmission zurückgreifen. Dagegen ergeben sich im Bereich von Marketing und Werbung Schwächen, die sich auf den eigenen Bekanntheitsgrad auswirken. Zudem führen die mangelnde Laden- und Sortimentsgestaltung, die Prozessabläufe im Transport und die hohen Personalkosten zu einem negativen Betriebsergebnis. Für jeden Laden von „Komm & Sieh“ ergeben sich individuelle Stärken und Schwächen, die von guter oder schlechter Lage des Ladens über die Motivation der Mitarbeiter bis hin zur Ausprägung des diakonisch-missionarischen Profils reichen. Daneben lassen sich Chancen und Risiken aus dem eigenen Umfeld ermitteln: Der SecondHand- und Öko-Trend in Berlin kann als Chance genutzt werden, gleichzeitig kann sich „Komm & Sieh“ durch sein missionarisch-diakonisches Profil gegen den Wettbewerb abgrenzen. Die niedrige Transparenz des Marktes kann genauso Chancen bergen wie der allgemeine Konjunkturanstieg oder politische Entscheidungen, das Ehrenamt zu stärken. Dagegen ergeben sich marktseitig Risiken durch die Menge der Mitbewerber, geringe Markteintrittsbarrieren und die Abhängigkeit von qualitativ hochwertigen Sachspenden, während auch die Einsparung von Beschäftigungsmodellen sowie der Verfall religiöser und kultureller Werte Gefahren vermitteln. Wesentliche Chancen und Risiken liegen zudem in dem Umgang mit Anspruchsgruppen (Stakeholdern), je nachdem wie die Beziehungen zu Spendern, Kunden und Käufern sowie zur Nachbarschaft der Läden oder zu anderen Stadtmissionseinrichtungen gestaltet werden. Die Resultate dieser strategischen Analyse bilden die erste Grundlage zur Strategieentwicklung. Integrationsunternehmen in Berlin Zur Analyse der Integrationsunternehmen in Berlin werden die 27 existierenden Unternehmen quantitativ betrachtet, während aus vier Experten-Interviews qualitative Aspekte ermittelt werden. Für die Strategie zum Aufbau eines Integrationsunternehmens im Rahmen der Berliner Stadtmission ergeben sich daraus folgende Aussagen: Die Motivation zur Gründung eines Integrationsunternehmens sollte immer die Inklusion der Menschen mit Behinderung sein, nie die wirtschaftliche Situation eines bestehenden Projekts bzw. Unternehmens. Denn ein Integrationsunternehmen muss sich am Markt behaupten wie jedes andere Unternehmen auch. Die Fördermittel aus der Ausgleichsabgabe sind eine „schöne“ Zugabe, mehr nicht. Deshalb ist es einfacher, einen neuen Bereich als Integrationsprojekt aufzubauen, als einen bestehenden zu verändern. Ein Integrationsunternehmen hat eine völlig andere Ausrichtung und Philosophie 206 Matthias Waldhoff als ein Sozialunternehmen oder ein Wirtschaftsbetrieb: Nicht die Mitarbeiter müssen die Stelle ausfüllen, sondern die Stellen müssen auf die Mitarbeiter zugeschnitten werden. Die Fragen, „was kann der behinderte Mensch machen, welche Stelle kann für ihn geschaffen werden und wie kann dies erfolgen?“, stehen dabei im Vordergrund. Hier ist ein Umdenken bei den bestehenden Mitarbeitern erforderlich, was Schulung erfordert. Zum Aufbau neuer Bereiche sind Pilotprojekte in einfach strukturierten Arbeitsprojekten sinnvoll, in denen auch die meisten Integrationsunternehmen in Berlin agieren: Housekeeping; Reinigungsdienst; Küchenarbeit in Kantinen, Restaurants und Hotels. Strategische Entscheidungsvorbereitung Auf Basis der Analysen werden für „Komm & Sieh“ nun mögliche Strategie-Alternativen entwickelt. Dabei sind insbesondere Differenzierungen durch Kundenbeziehungen (persönlicher Kontakt), Nischenstrategien (Abgrenzung zum Gesamtmarkt) und Wachstumsstrategien in bestehenden Märkten (neue Kunden, neue Leistungen) und neuen Märkten (neue Läden, neue Sparten) sinnvoll. Während aus der Analyse deutlich wird, dass eine sofortige Umwandlung von „Komm & Sieh“ strategisch nicht sinnvoll erscheint, lassen sich für den Aufbau eines Integrationsunternehmens vier Alternativen finden: Einerseits kann die Umwandlung nach erfolgter Sanierung erfolgen, andererseits können erst Teile umgewandelt werden, um das Risiko zu minimieren. Ebenfalls kann ein Integrationsunternehmen unabhängig von „Komm & Sieh“ innerhalb der Berliner Stadtmission aufgebaut werden. Auch die Entscheidung gegen ein Integrationsunternehmen ist noch möglich. Neben diese Optionen werden normative Perspektiven gestellt, um als Korrektiv zur möglichen Strategieentscheidung zu dienen. Der missionarische und diakonische Auftrag für „Komm & Sieh“ ergibt sich bereits aus dem Leitwort der Stadtmission und fordert, Menschen aufzusuchen und eine Gebetskultur zu entwickeln. Zudem entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen christlichem Auftrag und wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit, der jedoch nicht aufgelöst werden kann: Beides muss in gleicher Weise erreicht werden. Der Aufbau eines Integrationsunternehmens lässt sich aus einem christlichen Menschenbild und dem Gebot der Nächstenliebe begründen, was darüber hinaus einen Auftrag zur Inklusion und Integration beinhaltet. Hieraus lassen sich nun konkrete Strategien für „Komm & Sieh“ allgemein und für ihre einzelnen Geschäftsbereiche empfehlen. Ein Mix aus den o. g. Strategie-Optionen führt zum Ziel, wenn diese immer auf der Kernkompetenz des missionarisch-diakonischen Profils basieren. Kundenbeziehungen sind hier ein Schlüsselansatz, ebenso Wachstum durch neue Läden, Marketing-Aktionen und die Erschließung neuer Leistungsmöglichkeiten. Für die Läden Suchet der Stadt Bestes. Strategische Entscheidungsentwicklung zum Aufbau eines Integrationsunternehmens 207 sind unterschiedliche Profile durch verschiedene Warenangebote, Begegnungsräume und missionarisch-diakonische Angebote zu entwickeln. Das Integrationsunternehmen sollte unabhängig von „Komm & Sieh“ aufgebaut werden, um die Risiken der Umwandlung zunächst zu vermeiden und im geschützten Rahmen Erfahrungen in der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen zu machen. Langfristig kann der gesamte Bereich „Komm & Sieh“ für die Umwandlung in ein Integrationsunternehmen vorbereitet werden. Schluss Die Arbeit endet mit der Vorstellung dieser verschiedener Strategieoptionen und formulierungen sowie Empfehlungen. Die Auswahl der umzusetzenden Strategie sowie deren Implementierung selbst bleiben Aufgabe der Leitung von „Komm & Sieh“ und des Managements der Berliner Stadtmission. Es wurde deutlich, dass wirtschaftliche und diakonisch-missionarische Aspekte oft im Gegensatz zueinander stehen. Die vorliegende Arbeit zeigt, dass sich in der Praxis dieses Spannungsverhältnis nicht immer auflösen lässt, aber auch nicht aufgelöst werden muss. Dennoch stößt die Verfolgung beider Ziele gelegentlich an ihre Grenzen. Employer Value Management durch organisations- und berufsgruppenspezifischen Abgleich von Mitarbeiterbedürfnissen mit den Einschätzungen der Führungskräfte Madeleine Worringer Die zunehmende Nachfrage nach Gesundheitsleistungen im stationären Versorgungssektor wird durch einen erhöhten Wettbewerb der Einrichtungen untereinander sowie sinkenden fachlichen Nachwuchskräften immer bedeutsamer. Unter dem Begriff „war of talents“ werden für den Gesundheitsmarkt gravierende Personalengpässe prognostiziert, die sich insbesondere im Bereich der medizinischen Fachkräfte des ärztlichen und pflegerischen Personals niederschlagen werden. Die vorliegende Arbeit leistet einen Beitrag dazu, wie Universitätskliniken – als größte Einrichtungen der Gesundheitsversorgung – im Rahmen eines strukturierten Employer Value Managements beginnen können, ihre internen Strukturen so zu verbessern, dass bestehende medizinische Fachkräfte am Standort gehalten werden können. Da die Umsetzung eines Employer Value Management in der Literatur nur wenig beschrieben ist, wurde in dieser Arbeit ein Ansatz entwickelt, wie ein derartiges Konzept aussehen und umgesetzt werden kann. Es wurde ein individueller Ansatz zur Erhebung von Mitarbeiterbedürfnissen am Beispiel der Klinik und Poliklinik für Dermatologie und Venerologie der Uniklinik Köln entwickelt und umgesetzt. Diese individuelle Form der Erhebung von berufsgruppenbezogenen Bedeutsamkeiten von Mitarbeiterangeboten und Bewertung täglicher Arbeitsbedingungen (Organisatorischen Regelungen) sollte anstelle einer pauschalen Zufriedenheitsbefragung zu einer Neuausrichtung der Klinikstruktur führen. Im Rahmen des strukturierten Employer Value Managements (EVM) wurden somit zwei klinik-individuelle Fragebögen mit Vertretern der einzelnen Berufsgruppen für Mitarbeiter und Führungskräfte der Klinik entwickelt und als Vollerhebung im Dezember 2011 durchgeführt. Abschlussarbeit im berufsbegleitenden Masterstudiengang „Unternehmensführung im Wohlfahrtsbereich“. Weitere Abschlussarbeiten (2012–2013 ) Europäischer Masterstudiengang „Diakonie – Führungsverantwortung in christlich sozialer Praxis“ Jennifer Ellinger: Selbstpflege und betriebliche Gesundheitsförderung als (Heraus-)Forderung in der Pflegearbeit. Berufsbegleitender Masterstudiengang „Unternehmensführung im Wohlfahrtsbereich“ Tonio Manser: Empirisch-theoretische Analyse des Hilfebedarfs bei „schwierigen“ Mietern auf dem kommunalen Wohnungsmarkt in Weimar und Erhebung von Hilfsangeboten als Grundlage für Entscheidungen über mögliche Veränderungen. Günter Sänger: Strategische Kommunikation für eine diakonische Einrichtung im Aufgabenfeld der Arbeitslosenhilfe. Stephan Werthebach: Überlegungen zur Konzeption einer Center-Organisation in einem Beratungsunternehmen. Berufsbegleitender Masterstudiengang „Führung in Diakonie und Kirche“ Dieter Gläser: Diakonische Kultur als Teil der Schulkultur. Ergänzungsstudiengang Diakoniewissenschaft (Diplom) Evi Nachtmann: Das Problem der Armut in der Soziallehre der Bahaireligion und der Methodistenkirche – ein Vergleich. In Kap Park: Theologie und Praxis der Diakonie im Lebenswerk von John Wesley – ihre Bedeutung für die Korean Methodist Church. 4. Einblicke in neuere Publikationen Diakonische Partnerschaften im geteilten Deutschland Volker Herrmann Rezension von Diakonische Partnerschaften im geteilten Deutschland. Zeitzeugenberichte und Reflexionen, hg. vom Diakonischen Werk der EKD, bearbeitet von Michael Häusler/Christian Oelschlägel, Leipzig 2012, 200 S., 16,80 Euro, Evangelische Verlagsanstalt, ISBN 978-3-374-03109-2 „Eine solche Tagung wird es nie mehr geben können.“ (S. 191) Zu diesem Schluss kommt Reinhard Turre, Leipziger Diakoniewissenschaftler und früherer Direktor des Diakonischen Werkes der Kirchenprovinz Sachsen (Magdeburg) in seinem Resümee dieses Bandes. Knapp 20 Jahre nach Maueröffnung trafen sich im Mai 2009 in der Stephanus-Stiftung in Berlin-Weißensee frühere leitende Mitarbeitende der Diakonie in Ost und West, um sich der Auseinandersetzung mit dem Thema der partnerschaftlichen Beziehungen zwischen der ostdeutschen und der westdeutschen Diakonie zu Zeiten des geteilten Deutschlands zu widmen. Dabei wurde großer Wert darauf gelegt, dass dies in der Form geschah, dass sie sich als Zeitzeugen gegenseitig Bericht gaben und darüber ins Gespräch kamen. Mit der Veröffentlichung der Beiträge dieser Tagung im vorliegenden Band werden nun die dort gegebenen Zeitzeugenberichte erfreulicherweise einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Eröffnet wird der Band – wie die Tagung auch – durch die Einführung des damaligen Diakonie-Präsidenten Klaus-Dieter K. Kottnik sowie die einführenden Beiträge des Kirchenhistorikers und früheren Magdeburger Bischof Axel Noack und des Heidelberger Diakoniewissenschaftlers Theodor Strohm. Es folgen dann 16 Beiträge, die dem Tagungsthema auf den verschiedenen Ebenen der Diakonie nachgehen, angefangen auf der Bundesebene, für die Ernst Petzold (1976-1991 Direktor des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirchen in der DDR) und Karl-Heinz Neukamm (1984-1994 Präsident des Diakonischen Werkes der EKD) sprachen. Von Neukamm und einem Kreis von ehemaligen Landespfarrern war auch maßgeblich die Initiative für diese Tagung ausgegangen. Weiterhin wurde das Thema ebenso auf den Ebenen diakonischer Landesverbände, Einrichtungen und Fachverbände, Bruder- und Schwesternschaften sowie der Fortbildung jeweils mit Beiträgen aus ost- und westdeutscher 212 Volker Herrmann Seite beleuchtet. Am Ende des Bandes erfährt die innerdeutsche Auseinandersetzung eine Erweiterung durch ein Interview, das die Perspektive der österreichischen Diakonie wiedergibt. Den Abschluss des Bandes bildet das eingangs bereits angeführte Resümee „Zeitzeugen haben zurückgeblickt“ von Reinhard Turre. Bis auf zwei Ausnahmen handelt es sich bei den 16 Zeitzeugenberichten zu den verschiedenen Ebenen diakonischer Partnerschaften um Erstveröffentlichungen. Auch wenn diese von ganz unterschiedlicher Länge sind, angefangen von zwei oder drei Seiten bis hin zu elf oder zwölf Seiten, geben sie doch allesamt einen lebendigen Eindruck wieder von Zeitzeugen, die in der Zeit bis 1989 (und darüber hinaus) die Identität der Diakonie in Ost wie West mitgeprägt haben. Insofern gibt der Klappentext den Inhalt gut wieder: „Die Protagonisten von damals beschreiben in lebendiger Weise die Tiefe der beruflichen und persönlichen Beziehungen und die praktischen Probleme der grenzüberschreitenden Arbeit.“ Damit stellt der Band eine Ergänzung zu den bisherigen Auseinandersetzungen mit dem Thema dar, wovon hier nur der 1999 erschienene und inzwischen vergriffene Band „Diakonie im geteilten Deutschland“ (hg. von Ingolf Hübner/Jochen-Christoph Kaiser) genannt sei. Weiterhin macht der Band deutlich, wie aus ursprünglich materiellen Patenschaften rasch fachliche und menschliche Partnerschaften wurden und diese auch eine wichtige Klammerfunktion zwischen den Kirchen ist Ost und West darstellten. Pflegemuseum Kaiserswerth Volker Herrmann Rezension von Pflegemuseum Kaiserswerth. Katalog zur Dauerausstellung, hg. von Norbert Friedrich im Auftrag der Fliedner-Kulturstiftung, Essen 2013, 128 S., 20,00 Euro, Klartext Verlag, ISBN 978-38375-0949-6 Im November 2011 wurde das Pflegemuseum Kaiserswerth eröffnet, das erste seiner Art in Deutschland. Im „Herzen“ der Kaiserswerther Diakonie im ehemaligen Schwesternkrankenhaus Tabea (aus dem Jahre 1903) ansprechend gestaltet führt die Dauerausstellung durch 15 thematische Räume. Die Themenräume reichen vom Wo über das Wie bis zum Wer gepflegt wurde, aber sie behandeln auch die Fragen, was hilft Pflegenden und wer bezahlt die Pflege. Und sie gehen u.a. auch den Fragen nach, wieso gerade Kaiserswerth, was bewegte Theodor Fliedner und wie war der Alltag und der Feierabend der Diakonissen. Auch wenn es eine Engführung ist, die Tätigkeitsbereiche von Diakonissen nur in der Pflege suchen zu wollen, so ist umgekehrt die Bedeutung der Diakonissenbewegung für die Entwicklung der neuzeitlichen Krankenpflege ebenso wenig zu schmälern. Insofern ist der langjährige Prozess von Kaiserswerther Diakonie und Kaiserswerther Verband, der mit der Gründung der FliednerKulturstiftung 2002 begann und nun zur Eröffnung des Pflegemuseums Kaiserswerth geführt hat, nur konsequent und sehr zu begrüßen. Seit Februar 2013 liegt nun auch der Katalog zur Dauerausstellung vor, der eine gute Vor- und Nachbereitung für Einzelne wie für Gruppen sowie für Aus- und Fortbildungskontexte ermöglicht. Der Band ist sehr ansprechend gestaltet, gut gegliedert und reich illustriert mit zeitgenössischen Darstellungen, aber auch mit aktuellen Fotos. Enthalten sind verschiedene Textformen, neben einem durchlaufenden Haupttext, auch kurze Hintergrundinformationen, Tabellen etc. sowie die Texte der Audio-Dateien der Ausstellung. Entstanden ist so nicht nur ein Katalog zur Dauerausstellung, sondern zugleich auch ein sehr anschauliches und empfehlenswertes Lese- und Arbeitsbuch zur Geschichte der Krankenpflege wie der Diakonissenbewegung. . Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland (1945–1953) Volker Herrmann Rezension von Christoph Sachße/Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 4: Fürsorge und Wohlfahrtspflege in der Nachkriegszeit 1945-1953, Stuttgart o.J. [2012], 234 S., 29,90 Euro, Kohlhammer Verlag, ISBN 978-3-17-022225-0 Die Fortführung eines Klassikers, so ließe sich das Erscheinen dieses Bandes auf den Punkt bringen. Christoph Sachße, emeritierter Professor für Geschichte und Theorie der Sozialen Arbeit, und Florian Tennstedt, emeritierter Professor für Sozialpolitik, beide an der Universität Kassel, legten bereits im Jahr 1980 den ersten Band ihrer „Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland“ vor (Vom Spätmittelalter bis zum 1. Weltkrieg, ²1998). 1983 arbeiteten sie das Thema als „Bild-Lesebuch“ auf (Bettler, Gauner und Proleten. Armut und Armenfürsorge in der deutschen Geschichte), bevor dann 1988 und 1992 die Bände 2 (Fürsorge und Wohlfahrtspflege 1871–1929) und 3 (Der Wohlfahrtsstaat im Nationalsozialismus) folgten. Der vorliegende vierte Band widmet sich der unmittelbaren Nachkriegszeit, also von Kriegsende bis zum Ende der ersten Legislaturperiode des deutschen Bundestages (1953). Diese Zeit wird als Einheit verstanden und übergreift die Gründung der Bundesrepublik Deutschland (1949). In dieser Zeit geht es um die schrittweise Überwindung der Kriegsfolgen, sozialpolitisch begann dies mit der Flüchtlingsgesetzgebung der Jahre 1945/1946 und wurde abgeschlossen mit dem Erlass des Lastenausgleichsgesetzes im August 1952. Damit konzentrieren sich Sachße/Tennstedt mit ihrer Darstellung auf die Zeit „vor dem Wohlfahrtsstaat“ (S. 10), der dann mit der zweiten Legislaturperiode begann. Hier ist auf einen Folgeband des bewährten Autorenteams zu hoffen. Der Untersuchungszeitraum lässt sich signifikant charakterisieren durch ein „Spannungsviereck von neuen gesellschaftlichen Problemgruppen, überforderten Verwaltungsstrukturen, unzeitgemäßen Rechtsgrundlagen und gestärkter Freier Wohlfahrtspflege“ (S. 10–11). Vor allem Caritas und Diakonie hatten nach Kriegsende „einen ,Organisationsvorsprung‘ vor der parzellierten öffentlichen Gewalt“ (S. 10). In ihrer Rezension von Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland (1945–1953) 215 Untersuchung beziehen sich die Autoren v.a. auf die amerikanische Besatzungszone und zwar konkreter auf das Land Hessen mit lokalen Schwerpunkten auf Frankfurt/M. und Kassel. Anders als die früheren Bände basiert dieser Band nun vor allem auf einer umfangreichen Verarbeitung von Sekundärliteratur und weniger auf eigenen Archivstudien. Aber entscheidender sind die gewohnt gelungenen Einordnungen dieser Zeit in die übergeordneten Zusammenhänge. Die christliche Liebesthätigkeit Volker Herrmann Rezension von Gerhard Uhlhorn, Die christliche Liebesthätigkeit, Teil II: Die christliche Liebesthätigkeit im Mittelalter und Teil III: Die christliche Liebesthätigkeit seit der Reformation), hg. im Auftrag der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte von Inge Mager (Gerhard Uhlhorn, Gesammelte Schriften, Bd. 2, Teil II und III), Lutherisches Verlagshaus, Teil II: Hannover 2012, 546 S., 49,90 Euro, ISBN 978-3-7859-1074-0; Teil III: Hannover 2006, 565 S., 48,00 Euro, ISBN 978-3-7859-0926-3 „Die christliche Liebesthätigkeit“ von Gerhard Uhlhorn erschien erstmals in drei Einzelbänden in den Jahren 1882, 1884 und 1890. Die zweite Auflage erschien ohne Anmerkungen als Ausgabe in einem Band 1895, der dann 1959 fotomechanisch vom Neukirchener Verlag und von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft wieder nachgedruckt wurde. In dieser zweiten Auflage schrieb Uhlhorn auch, dass er die erste Anregung zu dem Werk 1863 von Theodor Fliedner im Jahr vor dessen Tod erhalten hatte. Von da an dauerte es aber noch ca. zwei Jahrzehnte bis zum ersten Band und ca. drei Jahrzehnte bis zum Abschluss des Werkes. Der 1826 geborene Uhlhorn († 1901) war u.a. promovierter Kirchengeschichtler, Hofprediger, Vorsteher des Henriettenstifts Hannover, Oberkonsistorialrat, Abt des Klosters Loccum und Mitbegründer der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte. Eben diese Gesellschaft arbeitet auf Anregung des Diakonischen Werkes (im Herbst 1987) an einer Ausgabe der Gesammelten Schriften Uhlhorns. Als erster Band waren 1990 Uhlhorns „Schriften zur Sozialethik und Diakonie“ erschienen (hg. im Auftrag der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte von Martin Cordes und Hans Otte unter Mitarbeit von Elke Helma Rothämel). Als Band 2 erschien nun in den Jahren 2006 und 2012 in zwei von insgesamt drei Teilbänden die „christliche Liebesthätigkeit“, herausgegeben von Inge Mager, emeritierte Kirchenhistorikerin in Hamburg (1993–2003) und zuvor in Göttingen (1987–1993). Der Edition der beiden vorliegenden Bände (Mittelalter und seit der Reformation) liegt der Text der zweiten Auflage zugrunde (die wenigen Textvarianten der ersten Auflage sind auch enthalten), ergänzt um die Anmerkungen der ersten Auflage. Diese Anmerkungen sind in der Rezension von Die christliche Liebesthätigkeit 217 vorliegenden Edition nicht nur überprüft und erheblich ergänzt, sondern auch um viele weitere Anmerkungen zu Personen etc. erweitert. Der Herausgeberin sowie allen an der Edition Beteiligten ist sehr für diese Sisyphus-Arbeit zu danken. Zudem wird in den Anmerkungen auch auf neuere Literatur verwiesen, die ebenfalls am Ende des Bandes noch einmal aufgeführt wird. Dort finden sich auch ausführliche Register zu Bibelstellen, Orten, Personen und Sachen. Weiterhin sind der Edition der Uhlhornschen Texte jeweils sehr instruktive Einleitungen der Herausgeberin vorangestellt (Teil II, S. 11–20, Teil III, 11–26). Mit dieser Edition des Uhlhornschen Werkes ist der diakoniehistorischen Forschung ein großer Dienst erwiesen. 5. Neuerscheinungen Neuerscheinungen 219 Diakonie in der Sozialökonomie Studien zu Folgen der neuen Wohlfahrtspolitik (VDWI 47) von Johannes Eurich und Wolfgang Maaser Diakonische Einrichtungen befinden sich in einem vielseitigen Transformationsprozess – nicht zuletzt seit der Einführung sozialwirtschaftlicher Rahmenbedingungen Anfang der 1990er Jahre. Der vorliegende Aufsatzband vermisst das Feld der aktuellen Herausforderungen. Der Spannungsbogen zwischen theologischem Selbstverständnis, Dienstleistungskonzept und Organisationsentwicklung sowie Sozialanwaltschaft wird sorgfältig analysiert. Ebenso kommen die Verwicklungen von verfasster Kirche, Verband und diakonischen Einrichtungen im Orientierungs- und Steuerungsprozess wie der Diskurs um das kirchliche Arbeitsrecht in den Blick. In diesem komplexen Verantwortungsfeld lotet der Band Orientierungsmöglichkeiten zwischen Sozialmanagement und theologisch fundiertem Leadership aus. Evangelische Verlagsanstalt Leipzig 2013 416 Seiten Paperback ISBN 978-3-374-03152-8 220 Neuerscheinungen Diaconia against Poverty and Exclusion in Europe Challenges – Contexts – Perspectives (VDWI 48) herausgegeben von Johannes Eurich und Ingolf Hübner Armut und Ausgrenzung sind wachsende Herausforderungen in allen europäischen Ländern. Diakonische Organisationen zeichnen sich schon seit Langem durch den Kampf gegen Armut und Ausgrenzung aus. Nicht immer gelingt dabei eine strukturelle Veränderung der Lebenssituation betroffener Menschen. Oftmals bleiben sie weiterhin in Abhängigkeitsverhältnissen und erreichen keine wirkliche Teilhabe am Leben der Gesellschaft. Welche Schwierigkeiten treten in der diakonischen Arbeit gegen Armut und Ausgrenzung auf? Welche Innovationen sind in Diakonie und Zivilgesellschaft notwendig, um den künftigen Herausforderungen begegnen zu können? Der englisch-sprachige Band enthält Beiträge aus verschiedenen europäischen Ländern, die die Herausforderungen aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten und neue Perspektiven aufzeigen. Evangelische Verlagsanstalt Leipzig 2013 264 Seiten Paperback ISBN 978-3-374-03168-9 Neuerscheinungen 221 Diakonische Bildung Grundlegung einer Didaktik diakonischen Lernens an der Schule (VDWI 49) von Walter Boës An zahlreichen Schulen wurden die Chancen diakonischen Lernens erkannt und entsprechende Bildungsangebote eingerichtet. Die vorliegende Untersuchung geht der Frage nach, wie diakonische Bildung an der Schule zu begründen ist, und zeigt auf, welchen Beitrag diakonische Bildung leisten kann und soll. Sie entwirft eine Didaktik diakonischen Lernens, die dem Paradigma der Erzählung vom Barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37) folgt: Diakonisches Lernen vollzieht sich in drei Schritten: Ansehen – Deuten – Handeln. Die Ausarbeitung dieses Dreischrittes führt zu einem diakonischen Kompetenzmodell. Dieses weist diakonische Bildung als wesentlichen Beitrag zur allgemeinen Bildung aus und bietet sich als Instrument für das ganz konkrete Arbeiten in Praktika, Unterricht und Schule an. Evangelische Verlagsanstalt Leipzig 2013 284 Seiten Paperback ISBN 978-3-374-03153-5 Neuerscheinungen Diakonisches Hilfehandeln Hilfehandeln als Vertrauensbeziehung Eine institutionenökonomische Analyse unter besonderer Berücksichtigung diakonischer Finanzierungsstrukturen (VDWI 51) von Tobias Staib Welche Finanzierungsformen sind heute für diakonische Unternehmen angesichts der immer schwierigeren wirtschaftlichen Rahmenbedingungen geeignet? Die Finanzierungsstruktur muss nicht nur tragfähig sein, sondern auch dem besonderen Charakter diakonischen Hilfehandelns entsprechen, das nicht nur planbare, sondern auch spontane und emotionale Elemente hat. Diakonisches Hilfehandeln kann deshalb als Vertrauensbeziehung interpretiert werden, in der wesentliche Erwartungen nicht vertraglich festgelegt werden können, sondern in der konkreten Hilfesituation erkannt werden müssen. Daraus ergeben sich zahlreiche Fragestellungen, die Tobias Staib luzide aus ökonomischer und theologischer Perspektive betrachtet: Wie muss eine Finanzierungsstruktur aussehen, damit sich diese Vertrauensbeziehung entfalten kann? Welche Konsequenzen ergeben sich für die beteiligten Personen und Institutionen? Wie ist Vertrauen ökonomisch und theologisch überhaupt zu fassen? Evangelische Verlagsanstalt Leipzig 2013 ca. 368 Seiten Paperback ISBN 978-3-374-03349-2 Das DWI-Jahrbuch ist Nachfolger des DWI-Info. Hier schreiben Studierende, Dozierende, Ehemalige, Freundinnen und Freunde des Diakoniewissenschaftlichen Instituts für alle Interessierten aus den Bereichen Diakoniewissenschaft, Diakonie, Kirche und darüber hinaus. Die Artikel geben jeweils die Meinung derer wieder, die sie verfasst haben. ISSN 2199-1960 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einrichtung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz und Layout: Dietmar Kauderer, Heidelberg Cover: Thomas Renkert, Heidelberg © 2013 Diakoniewissenschaftliches Institut der Universität Heidelberg Karlstraße 16, 69117 Heidelberg, Tel. 06221/54 33 36
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