IV Unterrichtsmodelle Kapitel 4-1 „Kannst Du nicht schlafen?" Die Frage nach Gott im Bilderbuch 1 Die Frage nach Gott ist deswegen besonders schwer, weil gar nicht so klar ist, nach was eigentlich gefragt wird, wenn wir nach Gott fragen. Zunächst einmal sind viele Menschen geprägt durch das, was von den Religionen im Laufe der Jahrtausende überliefert ist, die Bilder über das, was „Gott“ meint, beinhaltet und für unser Leben bedeutet. Darum könnte man versucht sein, schlicht nach dem Inhalt dieser Bilder zu fragen, um damit zu verstehen, was Gott ist. Doch zumindest die tiefere Bedeutung der Bilder, nicht nur ihre oberflächliche Bezeichnung, erschließt sich erst mit der Zusatzbedingung, dass sie für uns auch einen Sinn machen. Das heißt diese Bilder bezeichnen nicht nur bestimmte Inhalte, die die Religionen überliefern, sondern bringen auch den Bezug, den sie für uns gewinnen können, zum Ausdruck; sie sind für ihre Hörer und Betrachter eingebunden in den Kontext einer bereits vollzogenen Gotteserfahrung oder zumindest einer Tradition, die mehr oder weniger selbstverständlich Verlässlichkeit bürgt. Wenn wir aber erst einmal wissen wollen, was Religion und Religiosität, Gotteserfahrung und Glauben überhaupt sind, müssen wir auch diese Voraussetzungen bedenken. Wer dies tut, nähert sich einer philosophischen Auseinandersetzung mit Gott und Religion. Von der philosophischen Frage nach Gott unterscheidet sich die religiöse insofern, als sie den Sinn einer solchen Erfahrung nicht mehr hinterfragt, während für die Philosophie das Grundlegendere von Interesse ist, was es ist, dass wir überhaupt nach Gott fragen und was wir darin zur Erfahrung bringen könnten; erst von daher und nach Bedenken dieser Frage kommt für die Philosophie in den Blick, was Gott ist. Die Bilder, in denen die Religionen von Gott sprechen, bleiben aufgrund dieser Einschränkung in ihren Gehalten nicht unberücksichtigt, doch das philosophische Fragen zielt in erster 1 Dieses Kapitel bietet die um wenige den Kontext erläuternde Passagen ergänzte Rohfassung des Kapitels 11 meines Buchs zum Thema „Philosophieren mit Bilderbüchern“, das 2002 im BeltzVerlag erscheinen wird. Das Buch ist konzipiert sowohl als Einführung ins Philosophieren über Bilderbücher; in diesem Zusammenhang fragt das Kapitel 11 nach Religion und Gott. Zugleich gibt es Hinweise zur Erschließung von Bilderbüchern unter philosophischen Aspekten. In beiden Zielsetzungen richtet es sich nicht zuerst an Fachphilosophen, sondern an Eltern, Erzieherinnen und Lehrer/innen. Der für eine solche Einführung notwendige Stil wurde für die vorliegende Fassung beibehalten. 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch 249 Linie darauf, in ihnen und aus ihnen herauszulesen, was überhaupt Religiosität für den Menschen bedeutet. Unter Berücksichtigung dieser Einschränkung soll nachfolgend gleichwohl der Versuch gemacht werden, die Frage nach Gott über Bilderbücher zu erschließen. Hintergrund dafür ist ein doppeltes Interesse. Zum einen: Zur Auseinandersetzung mit dieser fundamentaleren Frage sind ausdrücklich religiöse Kinder- und Bilderbücher nur bedingt geeignet. Die meisten dieser Titel haben religiöse Traditionsgüter, insbesondere biblische Geschichten zum Thema und wollen mit ihnen bekannt machen, richten aber dabei ihr Augenmerk zumindest nicht vorrangig und häufig gar nicht auf die philosophisch entscheidende Frage, was denn an diesen Überlieferungen überhaupt religiös sei, genauer, warum und wie Menschen in solchen Bildern ihre religiösen Urerfahrungen festgehalten haben. Dies aber setzt eben eine andere Fragehaltung voraus als die eher historische, wer oder was denn nun den „liebe Gott“ sei, oder was denn dieser Jesus gesagt und getan habe; vielmehr geht es um die elementare anthropologische Ebene, welche Rolle das Religiöse für Menschsein spielt, d.h. es ist von urmenschlichen Erfahrungen auszugehen, um in ihnen das Religiöse auszumachen, was dann erst nach Gott fragen lässt. Das andere Interesse gilt der Form der Erkundung von Gott und Religion. Wenn Religiosität nicht irgendeine beliebige Ebene menschlicher Lebenserfahrung ist, sondern eine elementare, die Tiefen seiner Existenz betreffende, wird es kaum möglich sein, dies in faktische Sprache zu fassen. Religiöse Überlieferungen arbeiten daher vor allem mit dem Modus der Verdichtung, griechisch der Symbolisierung solcher elementarer Erfahrungen.2 Neben dichter Sprache sind es aber insbesondere Bilder, die solche Verdichtungen auszudrücken in der Lage sind. Freilich sind dann bloß äußere Illustrationen letztlich uninteressant. Bedeutsam sind für die Ebene des Religiösen nur solche Bilder, in die es sich lohnt hineinzugehen und den Erfahrungen, die in ihnen versammelt sind, nachzuspüren. Mit diesem doppelten Interesse sollen nachfolgend nur vier Bücher betrachtet werden, um mit ihnen vier ganz grundlegenden Fragen von Religiosität zu erläutern. Indirekt werden wir damit jedoch auch Kriterien in Erfahrung bringen können für gelungene Bilderbücher zu konkreteren Themen aus der Tradition des Religiösen. Denn auch bei der Thematisierung z.B. konkreter biblischer Geschichten gewinnen Bilderbücher ihre Qualität dadurch, dass sie, wie erläutert, der in ihnen bewahrten Urerfahrung Ausdruck verschaffen können. 2 Vgl. dazu ausführlicher das Kapitel 2-2. 250 1 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch Religiöse Urerfahrungen Eine solche menschliche Urerfahrung wird durchaus auch in vorderhand nichtreligiösen Bilderbüchern zu Thema gemacht, man muss sie nur als solche zu verstehen wissen. Zum Beispiel macht sie der kleine Bär, der den ganzen Tag mit dem großen Bären gespielt hat und nun, als es dunkel wird, ins Bett gebracht wird; „aber der kleine Bär konnte nicht schlafen“ heißt es dann lapidar in dem Buch Kannst du nicht schlafen kleiner Bär3. Das Bild S.7 braucht diesen erklärenden Satz gar nicht: der kleine Bär turnt unter seinem Bettzeug herum, wirft sich das Kopfkissen über den Kopf, ein zweites Kissen und selbst das Spielmännchen aus Stoff sind schon aus dem Bett gefallen. Und die Augen des kleinen Bären blicken gespannt aus der dunklen Ecke der Bärenhöhle zum großen Bären, der es sich bereits mit einem spannenden Bärenbuch gemütlich gemacht hat. Aber warum kann der kleine Bär nicht schlafen? Die Folgeseite bringt eine Erklärung, die keiner weiteren Erläuterung bedarf und zugleich die Aussichtslosigkeit aller Hilfestellung vor Augen hält: „Ich fürchte mich“, sagt der kleine Bär. Und zwar fürchtet er sich vor der „Dunkelheit rundherum“. Und die kann der große Bär mit allen Anstrengungen nicht beiseite schaffen, weder mit kleinen Lichtchen noch mit den größten Laternen. Die Aussichtslosigkeit wird deutlich durch die völlig hilflose Wendung des kleinen Bären an den großen, der wiederum noch so zugewandt schauen, zureden und auch sich verhalten kann, die Furcht kann er dem kleinen Bären nicht nehmen, die Furcht, die so groß ist, dass der Kleine sich nur noch an seinen Füßchen, an sich selbst festhalten kann. 3 Martin Waddell/Barbara Firth: Kannst du nicht schlafen, kleiner Bär? Wien/München (Betz) 1989 (London 1988) 32 S. 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch 251 Warum? Um zu spüren, dass er noch da ist. Und darum muss er auch nach allen weiteren Versuchen in seinem Bettchen herumturnen, um sich ja nicht zu verlieren an die große Dunkelheit. Und diese große Dunkelheit gibt es, es ist die Nacht, im Buch draußen vor der Bärenhöhle, in unser aller Wirklichkeit im Eindämmern und Schlaf, in dem wir ja nicht mehr wissen noch spüren, dass wir bei uns sind. Mit aller Dramatik, lebensnah konkret und doch in eine vielfältig lesbare Bildergeschichte gepackt und so überhaupt erträglich, ist hier eine existentielle Herausforderung auf Papier gebracht. Es ist doch so: Gerade die vielleicht selbstverständlichste Sache unseres Lebens, dass wir einschlafen und dann auch wieder aufwachen, ist so selbstverständlich nicht. Denn da passiert etwas mit uns, das wir geschehen lassen müssen, dem wir noch elementarer uns ausliefern müssen als dem Hunger oder dem Durst, die wir bis zu einem gewissen Grad aufschieben können. Und ausliefern müssen wir uns dem Schlaf, weil der andererseits sich nicht so unwillkürlich vollzieht wie der Atem oder der Herzschlag. Diese können wir zwar, wenn wir acht geben, auch erspüren und ebenfalls in bestimmtem Rahmen steuern, aber im Alltag vollziehen sich Atem und Herzschlag, ohne dass wir es merken. In den Schlaf dagegen sich zu begeben, das merken wir stets, jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, an dem wir auch einschlafen. Und das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, dass wir es merken, ja dass es uns vollständig bewusst wird, dass unser Bewusstsein und unser Gespür ausgeschaltet werden. Schon die Paradoxie, dieses Phänomen in Sprache zu fassen, muss verunsichern: Beim Einschlafen wird unser Bewusstsein ausgeschaltet, und eben dessen werden wir uns im Akt des Einschlafens bewusst. Und dann haben wir natürlich auch keine absolute Sicherheit wieder aufzuwachen. Das verunsichert nicht nur, das entzieht uns alle Möglichkeiten zu reagieren, macht Angst. Und diese Angst braucht ein Ventil, nämlich in der Furcht vor irgendetwas eher Greifbarem, etwa der Dunkelheit. Darum ist auch nicht ungezogen oder gar krank, wer nicht einschlafen kann. Gewiss, im Alter haben viele Menschen Probleme, und es gibt aufgrund anderer körperlicher Störungen auch pathologische Fälle, in jedem Lebensalter. Aber das 252 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch Nicht-Einschlafen-Wollen kleiner Kinder, das ist weder Krankheit noch Ungezogenheit, sondern dahinter steht jene ganz tief sich äußernde Furcht, sich verlieren zu können, plötzlich, ohne dass man es merkt, nicht mehr da zu sein, und das zu einem Zeitpunkt der Lebensentwicklung, wo man gerade im Begriff ist, für dieses Dasein seiner selbst ein Gespür zu entwickeln. Da helfen keine Ersatzhandlungen wie Vorlesen oder Lichtanlassen oder Auf-den-Arm-Nehmen und Herumlaufen, auch wenn mit ihnen das Einschlafen häufig gelingt; das zugrundeliegende Problem wird damit nur verdeckt oder kurzfristig in Vergessenheit gebracht. Erst recht helfen keine biologischen oder psychologischen Erklärungen, etwa die von unserem physischen Sosein, das uns nun mal wie allen Lebewesen den Schlaf aufzwinge. Nein, im Einschlafen werden wir konfrontiert mit jenem von Leibniz als metaphysisch qualifizierten Übel allen Menschseins. Leibniz unterscheidet in seiner Theodizee zwischen drei Formen des Übels, denen wir Menschen unterworfen sind, dem physischen Übel von Krankheit und Gebrechlichkeit, dem moralischen Übel, das Böse zu erleben und auch es selbst tun zu können, und dem metaphysischen Übel der Endlichkeit.4 Einen Satz von Bloch abgewandelt ließe sich sagen: Ich bin, aber ich habe mich nicht, sondern werde mir im Einschlafen auch selbst entzogen, darum müssen wir das Vertrauen des Einschlafens lernen, das die Zuversicht des Wiederaufwachens einschließt.5 4 5 Vgl. Leibniz (1985 [1720]), I,21, S.241. “Man kann”, so Leibniz im Abschnitt 21 seiner Theodizee, „das Übel [le mal] metaphysisch, physisch und moralisch auffassen. Das metaphysische Übel besteht in der bloßen Unvollkommenheit [imperfection], das physische Übel im Leiden [souffrance]und das moralische Übel in der Sünden [péché].“ – Im Folgesatz macht Leibniz einen qualitativen Unterschied zwischen dem metaphysischen Übel einerseits, das es „schon vor der [Ur]Sünde“ als „eine ursprüngliche Unvollkommenheit im Geschöpf“ gebe, und andererseits dem physischen und dem moralischen Übel, die „nicht notwendig“ seien. Das heißt, das physische Übel des Leidens und der Krankheit wie auch das moralische Übel des Bösen sind durch die Kontingenz menschlichen Daseins bzw. die böse Tat des Menschen verursacht. Das metaphysische Übel hingegen bezeichnet so etwas wie ein ursprüngliches menschliches Sosein, eine conditio humana. Daraus ergibt sich, dass das metaphysische Übel den anderen Übeln als Grundbedingung vorgelagert ist, während umgekehrt die Möglichkeit des physischen Übels und die Gefahr zu moralischem Übel ihren Grund in dieser ursprünglichen Unvollkommenheit haben. – Für unseren Zusammenhang bedeutet das, dass das Nicht-Einschlafen-Können natürlich zunächst einmal als physisches Übel sich darstellt. In der Auseinandersetzung damit aber werden wir mit der metaphysisch zu nennenden Unvollkommenheit als Grund für ein solches Übel konfrontiert. Eben darum geht es im vorliegenden Bilderbuch. Ernst Bloch beginnt seine „Tübinger Einleitung in die Philosophie“ (Bloch (1963)) mit den oft zitierten Sätzen: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“ – Mit ihnen ist nicht nur die fundamentale Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit menschlichen Daseins auf einen kurzen Begriff gebracht; eindrücklich bringt Bloch mit ihnen auch die Zwiespältigkeit menschlichen Selbstverhältnisses zum Ausdruck, um die es in unserem Zusammenhang geht: Wollen wir Menschen uns mit uns selbst auseinandersetzen, erfahren wir, dass im Akt der Auseinandersetzung der Gegenstand der Auseinandersetzung, so selbstverständlich wir seiner inne sind, sich uns stets auch entzieht. Darum zählt das „Ich“-Sagen zu den komplexesten philosophischen Problemen, die begrifflich nie eineindeutig zu fassen sind, was Kant gültig klar im Problem der Paralogismen vor Augen geführt hat, die sich aus Problemen einer rationalen Psychologie ergeben, d.h. aus dem 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch 253 Was hat das mit der Frage nach Religion und Gott zu tun? Nun, ich behaupte, eben hier mit dieser Erfahrung beginnt, was die Philosophie die Religiosität oder die religiöse Ebene von Menschsein nennt. Das wissen auch die großen religiösen Traditionen, etwa die Bibel: „Ich lege mich nieder und schlafe ein, ich wache wieder auf, denn ER beschützt mich“, heißt es scheinbar banal in Psalm 3, 9. Lesen wir diesen Satz mit seinen vier Teilen aufmerksam noch einmal. Belanglos mag noch die Beschreibung der ersten drei Satzteile sein, denn wem widerfährt das nicht, sich hinzulegen, einzuschlafen, wieder aufzuwachen. Nicht mehr selbstverständlich ist der letzte Satzteil, der für die Selbstverständlichkeit der ersten drei zunächst behauptet, dass sie keineswegs selbstverständlich sind, sondern dass sie einen Grund haben, einen Grund dafür, dass es so ist, wie es ist, dass ich zeitweise wache und zeitweise schlafe, und des weiteren, dass ich einen Grund haben muss, mich auf diese Befindlichkeit auch einlassen zu können, so dass ich es bin, der einschläft und wieder aufwacht. Zum zweiten liefert der letzte Satzteil diesen Grund gleich mit, indem er versichert, dass ich in diesem Akt, in dem ich mich meiner Befindlichkeit unmittelbar ausgeliefert finde, einem Gegenüber begegne, hier „ER“ genannt, das mich in dieser Erfahrung trägt, so dass ich vertrauensvoll mich darauf einstellen kann, wie es meiner Befindlichkeit entspricht. Der Psalm 91 weiß dies noch genauer: „Wer im Schutz des Höchsten wohnt und ruht im Schatten des Allmächtigen, der sagt zum Herrn: ‘Du bist für mich Zuflucht und Burg, mein Gott, dem ich vertraue.’ … Du brauchst dich vor dem Schrecken der Nacht nicht zu fürchten, noch vor dem Pfeil, der am Tag dahinfliegt … Denn der Herr ist deine Zuflucht, du hast dir den Höchsten als Schutz erwählt … Denn er befiehlt seinen Engeln, dich zu behüten auf all deinen Wegen.“ Nicht mehr und nicht weniger als die Einsicht in die eigene Endlichkeit und das Vertrauen, sich ihr auch stellen zu können, wird hier auf den Begriff gebracht, und zwar in einer Sprache, die mit Bildern, die jeder sich vorstellen kann, das Unvorstellbare bannt und so überhaupt erträglich macht. Diese Bilder haben religiösen Charakter, weil sie benennen, was auf einer ganz elementaren Ebene Vertrauen und Verlässlichkeit schafft, was aber trotzdem oder wohl gerade deswegen nur in Bildern sich ausdrücken lässt. Jene Einsicht aber in die eigene Hinfälligkeit wie dieses Vertrauen, sich ihr auch stellen zu können, die ich religiöse Urerfahrungen nennen würde, brechen nirgends so fundamental auf wie in der Erfahrung des Einschlafens bzw. des (kindlichen, d.h. natürlichen und nicht pathologischen) Nicht-Einschlafen-Könnens, wenn sie denn ernst genommen wird in ihrer uns elementar in Frage stellenden Tiefendimension. (letztlich nie gelingenden) Versuch, festzumachen, was wir als „Ich“ im Ichsagen stets voraussetzen. 254 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch Um es nochmals zu betonen: Damit ist nicht behauptet, dass religiös sei, wer die Erfahrung des NichtEinschlafens mache; vielmehr gewinnt umgekehrt an dieser menschlichen Urerfahrung Religiosität eine für den Menschen fassbare Form. Religiös im engeren Sinne ist erst derjenige Mensch, der zugleich sich auf diese Erfahrung einlässt und um eine sie verlässlich tragende Antwort bemüht ist. Eine solche Antwort, die Lösung des Vertrauens, sich der eigenen Endlichkeit auch stellen zu können, wird in unserem Bilderbuch ebenfalls angeboten: Der Konfrontation mit der großen Dunkelheit „da draußen“ begegnet der große Bär mit dem verblüffenden Vorschlag, doch hinauszugehen in die große Dunkelheit, sich ihr also quasi zu stellen. Und das ist kein psychologischer Taschenspielertrick, denn der kleine Bär darf sich ganz fest an den großen drücken und vermag so zu sehen, was er sich alleine nicht zu sehen getraut hätte: „den großen leuchtenden Mond“, der mitten in der Nacht die Dunkelheit erhellt und der damit, wir ahnen es, einen Vorschein für die wieder kommende Helligkeit des Tages bietet. Möglich gemacht aber hat dies das Vertrauen, das der kleine Bär gegenüber dem großen gewinnen kann, denn „tief und fest und geborgen in den Armen des großen Bären“ kann er einschlafen. 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch 255 Wiederum ist damit nicht behauptet, das Erstaunen im Angesicht des Vollmonds und vor allem die Erfahrung, vom anderen geliebten Menschen getragen zu sein und sich ihm anvertrauen zu dürfen, das seien bereits in sich religiöse Erfahrungen. Und doch dürfen sie als Erfahrungen ernst genommen werden, die eine religiöse Tiefendimension in sich tragen, weil derjenige, der diese Erfahrungen macht, intuitiv weiß, dass sie nicht allein für sich selbst stehen, sondern Bild, Angeld für etwas sind, was dahinter wirkt. Nennen wir dies ruhig eine Kraft oder Macht: Das Erstaunen vor dem Mond oder die Erfahrung des In-den-Arm-Genommen-Werdens verdeutlichen uns, dass so etwas überhaupt möglich ist, dass wir getragen sind, dass wir uns verlassen können. Wer eine solche Erfahrung macht, ist, so behaupte ich, in einem weiten oder elementaren Sinn religiös. Zur Klarheit: Ein solcher Mensch glaubt deswegen noch nicht notwendig oder hätte gar eine bestimmte Religion, meinen doch „eine Religion haben“, „glauben“ und „religiös sein“ keineswegs das Gleiche. Religiös zu sein ist die Voraussetzung für die sehr viel konkreteren anderen beiden Verhältnisse, kann aber auch unabhängig von den anderen sich vorfinden; religiös in solch elementarem Sinne aber ist jeder Mensch, so wie jeder Mensch, zumindest potentiell, fühlen, denken, handeln, genießen kann. Diese Einsicht ist an der Erfahrung des Nicht-Einschlafen-Könnens in unserem Bilderbuch zu gewinnen. Und wie kann dies zusammen mit Kindern erschlossen werden? Nun, Kinder leben zunächst einmal in einer Welt der unmittelbaren Wahrnehmung, in der alle Sinne aktiv sind. Diese Unmittelbarkeit, das stellt sich in der Auseinandersetzung mit verschiedensten Bilderbüchern immer wieder heraus6, kann durch nichts so angemessen in seiner Vielfalt wie auch Eindringlichkeit dargestellt werden wie durch Bilder. Erneut bietet es sich also an, mit den Kindern in die Bilder „hineinzugehen“ und diese Wege miteinander zur Sprache zu bringen. Dazu wieder ein paar Anregungen: • Schon die erste Doppelseite des Buchs bringt das Thema in eindrücklicher Weise zum Ausdruck: Da stehen inmitten des großen weiten Waldes auf einer freien verschneiten Fläche der große und der kleine Bär, ganz klein beide, und trotzdem eingebunden in die weite Welt um sie herum. Und der Kleine schaut, die Ärmchen fragend nach unten und leicht nach hinten gewandt, in vollem Vertrauen den Großen an: Was machen wir jetzt? Bist du auch immer da? Hilfst du mir? Ohne den Großen stünde der Kleine sehr verloren und einsam da. Und doch gibt es ja für beide noch die gemütliche Bärenhöhle, in die sie sich abends zurückziehen; und selbst der Wald ist in seiner Weite nicht unfassbar, sondern in einer geheimen 6 Wie eingangs des Kapitels erwähnt, stellt das vorliegende Kapitel eine leicht veränderte Fassung eines Kapitels meines Buchs zum Thema „Philosophieren mit Bilderbüchern“ dar. 256 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch Ordnung stehen die Bäume da, hinter ihnen wachsen andere, und durch den Nebelschimmer werden sie alle erleuchtet vom Schein der winterlichen Sonne, der durch die lichten Wolken hindurch alles erhellt. Dies und einiges mehr lässt sich gemeinsam durch dieses Bild erzählen, weil in ihm nicht nur einfach etwas abgebildet wird, Wald, Schnee, Sonne, zwei Bären, sondern diese Bilder unmittelbar, ohne dass dies ausgesprochen werden muss, jedoch dadurch dass sie Geschichten freisetzen, für Urerfahrungen von Ausgeliefertsein und Vertrauen stehen. • Oder wir greifen auf das oben abgebildete Bild zurück, auf dem der kleine Bär seine Füßchen hält und der große das Bett-Tuch nimmt, um ihn zuzudecken: Worüber werden sich die beiden unterhalten? Was sagt der kleine, und wie sagt er es? Und ist der große lieb zum kleinen, warum? Woran können wir das sehen? • Oder das drittletzte, ebenfalls oben abgebildete Bild, auf dem der große Bär den kleinen auf dem Arm nach draußen trägt, dem großen die Nacht erleuchtenden Mond entgegen: „‘Ich hab dir den Mond gebracht, kleiner Bär’, sagte der große Bär.“ - so der Text im Buch. Vielleicht sagt der große Bär aber noch mehr? Vielleicht singt er ein Lied: „Weißt du wie viel Sternlein stehen an dem großen Himmelszelt“? Oder vielleicht spricht er ein Gebet, etwa den oben zitierten Psalm? Für die religiösen Leser ist ein solcher Hinweis selbstverständlich. Aber lässt er sich auch für nichtreligiöse Eltern erschließen? Sind nicht alle diese Inszenierungen, die Eltern beim Einschlafen ihrer Kinder aufwenden, sei es das Licht-Anlassen, die Gute-Nacht-Geschichte, das Gute-Nacht-Lied, das Betrachten eines Bildes, das Gebet, das Händchen-Halten, sind nicht all dies Bilder des Vertrauens, eines Vertrauens, das zwar die Eltern vermitteln, das aber seinen Ursprung viel tiefer hat als bloß in ihnen selbst? 2 Glaubenserfahrung Nun lautet das vorliegende Kapitel „Die Frage nach Gott“, und darum ist über die eben benannte Grunderfahrung von Religiosität hinauszugehen zu den anderen bereits angedeuteten Ebenen von Gläubigkeit und Religionszugehörigkeit. Auch hier ist, orientiert man sich jedenfalls an den großen religiösen Traditionen, nicht von Definitionen, sondern von Erfahrungen auszugehen. In ihren Glaubensgeschichten erzählen die heiligen Texte der Religionen ausführlich und eindringlich davon. Eine dieser Glaubensgeschichten ist die von Jona. Sie ist durch ihre Bilderkraft, vor allem das Bild vom großen Fisch, der Jona verschlingt und dann wieder ausspeit, oft zur Darstellung gekommen. Für unseren Zusammenhang, die 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch 257 philosophische Frage nach Gott, ist unter allen Bilderbüchern herauszuheben das von Sekiya Miyoshi7, gerade weil es weder mit dem Text noch vor allem mit seinen Bildern die biblische Vorlage schlicht und damit schlecht bloß illustriert, sondern seine Deutungskraft ganz auf die uns hier interessierende exemplarische und vorbildhafte Glaubens-Erfahrung des Jona konzentriert. Die erste Doppelseite bringt gleich die Pointe dieses Zugangs zum Ausdruck: Wir sehen rechts nicht etwa Jona, wie er in der biblischen Überlieferung gleich im ersten Satz als Adressat eines Handlungsauftrags eingeführt wird, sondern ein lediglich blau-weiß gestaltetes Bild, durch die klare Trennlinie zwischen dem kleineren oberen weißen Teil mit zwei blauen Farbflecken und dem größeren unteren blauen Teil, das ganz unten in Grüntöne übergeht, unmittelbar als Meer mit Himmel auszumachen: 7 Sekiya Miyoshi: Jona. Hamburg (Wittig) 1978 (Tokyo 1977), 28 S. 258 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch Daneben findet sich links der einfache Satz: „Vor langer Zeit lebte ein riesengroßer Fisch, der leuchtete in allen Farben des Regenbogens.“ Nun wissen wir, dass einerseits die Farben des Regenbogens, wenn sie gebündelt werden, Weiß ergeben, andererseits Blau traditionell die Farbe des Transzendenten, Unendlichen und auch Unsichtbaren ist - in die Tiefe des Meeres vermag ja niemand zu blicken. Kein Wunder mithin, dass wir auf dem ersten Bild diesen Riesenfisch nicht sehen, und doch ahnen wir, dass er da ist. Auch auf der zweiten Doppelseite sehen wir den Fisch noch nicht als Fisch, aber immerhin bereits die Farben des Regenbogens, die nun in der Verbindung der Elemente von Wasser und Luft zur lebendigen Erde als bewohntem Raum sichtbar werden. Im Blickzentrum dieses Bildes erblicken wir oben auf einer Klippe liegend, den Kopf zur Ruhe auf einen Arm gestützt, eine Gestalt, offensichtlich Jona. Dem Bild nach zu urteilen hört und sieht er hier weniger, vielmehr vernimmt er, ganz eingebunden ins Zentrum des sich entfaltenden Regenbogens, dessen Glanz, was im Text ausgedeutet wird, er höre im Schlaf eine Stimme. Ganz selbst von diesem Glanz erfüllt, strahlt er quasi hinaus auf das ihn umgebende Land und Meer. Dass er laut biblischem Text den Auftrag erfahren hat, die Botschaft des Guten gegen das Böse zu tragen, braucht durch zusätzlichen Text eigentlich nicht mehr erschlossen werden. 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch 259 Eine solche Erfüllung aber führt nicht notwendig zur sofortigen Umsetzung. Es kommen vielmehr Bedenken, Einwände und Angst, ja vielleicht gehören sie notwendig dazu, damit Handeln nicht fremdgesteuert oder bloß aus einem zufälligen Impuls entstanden geschieht, sondern selbst verantwortet und begründet entschieden: Miyoshi gestaltet das folgende Bild in dunklen Tönen, die wie eine Beklemmung auf den unten rechts gebeugt fliehenden Jona eindrücken: Jona flieht vor Gottes Auftrag, so die biblische Überlieferung; - ist er der Aufgabe wirklich gewachsen, oder bricht er unter der Last zusammen? Das erste Mal taucht der Fisch sichtbar im nächsten Bild auf, das Jona schlafend auf dem Schiff zeigt, auf dem er mitfährt, um ans Ende der Welt zu kommen, ganz weit weg von dem, was er gehört hat. Die weitere Geschichte aus der Bibel dürfte bekannt sein: Das Schiff gerät in einen Sturm, und Jona, dem die Schuld daran gegeben wird, weil er vor seinem Gott davongelaufen ist, wird ins Meer geworfen. Dort aber, mitten in der Tiefe des Wassers, „wartete“ bereits, so der Text bei Miyoshi, „der große Fisch mit offenem Maul. Mit einem Schluck verschlang er Jona.“ Dieses Bild hat natürlich vielfältige Deutungen evoziert. Eine gibt die Bibel selbst, die Jona psalmartig klagen lässt: „Aus der Tiefe der Unterwelt schrie ich um Hilfe … Du hast mich in die Tiefe geworfen, in das Herz der Meere; mich umschlossen die Fluten, all Deine Wellen und Wogen schlugen über mir zusammen … Das Wasser reichte mir bis an die Kehle, die Urflut umschloss mich … Bis zu den Wurzeln der Berge, tief in die Erde kam ich hinab; ihre Riegel schlossen mich ein für immer.“ Nicht nur eine bestimmte Lebensform, sondern die Existenz überhaupt ist hier in Frage gestellt: Wenn wir Menschen dazu in der Lage sind, aus unserem biologischen Daherleben heraus zu treten und so nicht nur da zu sein, sondern selbständig zu 260 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch ek-sistieren (wörtl: herauszutreten, nämlich ins Dasein)8, dann wird diese conditio humana hier auf den Kopf gestellt: Mit den Abgründen der Elemente konfrontiert ist das Leben über Jona zusammengebrochen, der Möglichkeit von Existenz ist im wahrsten Sinne des Wortes der Boden entzogen. Die religiösen Überlieferungen nennen häufig diese Metaphern existentieller Erschütterung, die uns scheinbar aus den Angeln heben, aber so wiederum freilegen, was uns gleichwohl trägt: So ging es Gautama Siddharta bei seiner Erleuchtung, durch diese Abgründe hindurch musste Jesus in der Wüste, und mitten auf dem Meer drohte unterzugehen auch der Fischer Simon. Doch wer das erfahren hat, hat sich selbst nicht verloren, sondern gewinnt sich selbst, so Simon, der in seinem scheinbaren Untergang von Jesus erfahren darf, dass er Petrus, ein Fels und damit Halt sein kann für andere.9 Und so auch Jona: „…Du aber hörtest mein Rufen … Du holtest mich lebendig aus dem Grab herauf.“ Denn die Fluten, die Jona umschlossen, haben sich als die lebensspendenden und die Existenz tragenden Wasser Gottes erwiesen. Auch Jona wendet sich mit neuem Mut seiner zuvor abgewiesenen Aufgabe zu. Für die existentielle Bedrohung im Bauch des Fisches hat Miyoshi in seinem Buch kein Bild gefunden. Der Fisch in dem entscheidenden, die Geschichte wendenden Mittelbild des Bilderbuchs ist durchweg freundlich, eher die Verbildlichung der Energie, die Jona nun gestärkt kommenden Aufgaben entgegen sehen lässt. Wie lustvoll solche Energie sein kann, bringt Miyoshi eindrucksvoll in das Folge-Bild, in dem der Fisch Jona mit aller Farbenvielfalt des Regenbogens ausgestattet in einem hohen Bogen an Land schleudert. 8 9 Diese Deutung des Existenzbegriffs hat am klarsten Martin Heidegger herausgestellt, wenn er in den handschriftlichen Randbemerkungen zu seinem eigenen Exemplar von „Sein und Zeit“ zu dem hervorgehobenen Satz „Das Dasein ist seine Erschlossenheit“ (Heidegger 1979, S.133) notiert: „Dasein existiert und nur es; somit [ist] Existenz das Aus- und Hinaus-stehen in die Offenheit des Da: Ek-sistenz.“ (Heidegger 1979, S.442). Vgl. dazu meine Ausführungen in Kap. 4-2. 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch 261 Welches Kind und welcher Erwachsene ist nicht gern in solcher, uns die Sinne nehmenden wie zugleich sie ganz vereinnahmenden Weise schon einmal eine lange Rutschbahn hinabgerutscht oder mit der Achterbahn gefahren? Jona kommt nun, wie aus der biblischen Geschichte bekannt, seinem Auftrag nach, geht nach Ninive und verkündet Gottes Gerechtigkeit. Die biblische Vorlage eröffnet damit die Diskussion der schwierigen Frage, ob diese Gerechtigkeit Gnade für alle bedeutet oder auch Strafgericht gegen die Bösen, bzw. ob es auch für die Bösen Vergebung geben kann, obwohl damit das Böse nicht ungeschehen gemacht werden kann. Im biblischen Kontext wird diese Diskussion nicht analytisch, sondern subjektiv in den Reaktionen Jonas zur Sprache gebracht. Dies tut auch Miyoshi: Jona predigt voller Energie, hat gleichwohl Angst vor den Reaktionen, fragt sich, ob es Vergebung geben kann, läuft rot an vor Zorn über ausbleibende Vergeltung, doch bei allem weiß er sich letztlich erfüllt vom Auftrag Gottes, der seine subjektiven Reaktionen bestehen lässt wie auch zugleich relativiert: Der Fisch bleibt stets als ausgleichendes Element im Horizont des Geschehens: Auch die gelbe Farbe des Neids und die Röte des Zorns gehören wie zuvor das Grün der Energie zu den Farben des Regenbogens. Und so endet das Bilderbuch auch anders als die biblische Vorlage, nämlich wie es begonnen hatte, mit dem Fisch: Die beiden Abschlussbilder mögen kritische Betrachter kitschig finden, eines machen sie jedoch deutlich, den Versuch Miyoshis, für die alles übersteigende Güte Gottes, die für uns Lebensgrundlage und Vielfalt des Erlebens bedeutet, Bilder zu finden: Das vorletzte Bild zeigt den wieder nach Hause zurückgekehrten Jona inmitten einer friedlichen Landschaft, friedlich, da nicht eindimensional, sondern entfaltet zur Lebendigkeit aller Farben des Regenbogens, die aber in einen Ordnungszusammenhang sich fügen: Stimmigkeit und 262 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch Lebensfreude sollen von diesem Bild ausgehen. Liegt hier der Akzent auf Einheit und Harmonie, so verstärkt das letzte Bild den Aspekt der Differenz und Vielfalt: Gegen eindimensionales Schwarz-Weiß-Denken plädiert es für das Bunte: Inmitten des scheinbar eindimensional blauen Meeres, scheinbar getrennt durch den Horizont vom farblosen Weiß des Himmels bekommt der große Fisch viele Kinder und Kindeskinder in allen Farben des Regenbogens leuchtend. Inwiefern nun kommt mit diesem Bilderbuch eine Antwort zur Darstellung auf die Frage, was nicht nur ein religiöser, sondern ein gläubiger Mensch ist? Dazu sind die im Nachvollzug des Buchs entwickelten Deutungen nur noch einmal kategorial für sich auszusprechen: • Auf einer ersten Ebene geht es um eine den alltäglichen Lebenslauf irritierende Erfahrung; sie wird als Anspruch, Aufruf, Impuls zur Veränderung oder zumindest zum Bedenken wahrgenommen. • Die zweite Ebene ist die Auseinandersetzung mit diesem Anspruch. Natürlich muss ich zunächst einmal mich dafür öffnen, um den Anspruch wahrnehmen zu können. Dies geschieht in einer Öffnung der Sinne. Dann folgt das Fragen und Hinterfragen, auch Infragestellen, das nicht selten, so wie hier bei Jona, eine Erschütterung und das Gefühl existentiellen Verlusts bedeutet. • In dieser Auseinandersetzung spüre ich dann aber, und das ist der entscheidende Schritt, dass es nicht irgendetwas ist, von dem ich mich herausgefordert fühle und mit dem ich mich auseinandersetze, sondern etwas, das mich in meiner Existenz trägt. Nur scheinbar ist diese Erfahrung eine von Fremdbestimmung. In Wahrheit merkt der gläubige Mensch in der elementaren Konfrontation mit seiner Existenz, dass er sich diese nicht selbst gegeben hat, sich ihr aber gleichwohl je neu zu stellen und sie je neu zu verantworten die Kraft hat; insofern erfährt der Glaubende seine Existenz als Geschenk. Die Religionen nennen den Spender dieses Geschenks Gott. • Bei dieser Erfahrung bleibt es aber nicht als einem bloß punktuellen und einmaligen Erleben. Vielmehr greift, da es sich ja um eine existentielle Erfahrung handelt, diese Erfahrung über in die konkrete Lebensgestaltung. Auch dies erfolgt nicht bruchlos, sondern in Freisetzung aller Gefühle, Entschlüsse, Bedenken, Einsichten, also in ständiger Auseinandersetzung, nicht blindem Gehorsam. • Daraus aber erwächst die Kraft, sich immer wieder neuen Lebenssituationen stellen zu können wie auch die lebensentscheidenden Fragen nach Herkunft, Ziel und Gerechtigkeit des Lebens angehen zu können. 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch 263 Die eben genannten Ebenen gläubiger Religiosität haben wir aus der genauen Betrachtung des Bilderbuchs erschlossen, mit der biblischen Bildergeschichte von Jona im Hinterkopf. Diese Ebenen lassen sich in fast allen von den Religionen dokumentierten Glaubens-Erfahrungen wiederfinden. So kann auch eine Formel zur „Definition“ verständlich werden, die mir einleuchtend erscheint, weil sie die genannten Dimensionen genau in Begriffe zu fassen versucht: Der Religionswissenschaftler Gustav Mensching bestimmt Religion „als erlebnishafte Begegnung mit heiliger Wirklichkeit und als antwortendes Handeln des vom Heiligen existentiell bestimmten Menschen“. 10 3 Wer ist Gott? Damit kann unsere Frage nun in eine dritte Richtung gewendet werden: Nachdem wir erstens in Erfahrung gebracht haben, was die Religiosität des Menschen ist, und zweitens was dann ein Mensch ist, der sich dieser Religiosität auch stellt, also seine Existenz als glaubende erfährt, muss es nun drittens um die genauere Bezeichnung dessen gehen, das ich als den meine Existenz tragenden Grund erfahren habe, also um das, was wir Gott nennen. Das aber ist nur in zweierlei Hinsicht möglich: Entweder frage ich nach dem, was hinter allem als alles tragender Grund steht, oder ich frage nach dem, was sich in konkret erfahrbarer Wirklichkeit als das es in seiner Besonderheit Prägende offenbart. Die erste Frage ist eine Frage, in der sich Theologie und traditionelle Metaphysik verbinden, die zweite Frage vollzieht eine Kehre weg von der Frage nach dem Sein als tragendem Grund des Seienden hin zu einer Phänomenologie des konkreten Seienden selbst. Auch für diese beiden komplizierten Fragestellungen gibt es Bilderbücher, mit denen die Richtung dieser Fragen sich erspüren lässt, Hinter dem Hügel11 und Ein Stiefel fiel vom Himmel12. 10 11 12 Mensching (1961); ausführlicher zur Erläuterung der in dieser „Definition“ enthaltenen Elemente siehe oben imKap.1-3. Shigeko Yano: Hinter dem Hügel. Dt.Text v. U.Wölfel. Düsseldorf (Patmos) 1985 (Tokyo 1977), 24 S. Kåre Bluitgen/Chiara Carrer: Ein Stiefel fiel vom Himmel. Wuppertal (P.Hammer) 2001, 32 S. 264 3.1 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch Gott als tragender Grund meiner Existenz Auf dem ersten Bild von Hinter dem Hügel steht ein Kind, uns den Rücken zugewandt, am Horizont einer für uns sichtbaren Landschaft, einer hügeligen ganz in Gelbtönen gehaltenen, Wärme ausstrahlenden, doch spezifisch nicht bestimmbaren Landschaft. In der linken Hand hält es einen Wanderstab, wie Hirten ihn haben, und blickt in die Ferne, die im Bild farblos bzw. weiß bleibt. Es sieht ganz offenkundig in eine unserem Blick verborgene Landschaft (oder das Meer) hinter dem Hügel, und dann werden wir durch den Satz überrascht „Was hinter dem Hügel ist, kann ich nicht sehen.“ Das Bild bringt die Ambivalenz dieser Erfahrung besser zum Ausdruck als die Sprache es zu tun vermag. Natürlich können wir auf einen Hügel laufen, und dann sehen wir, was dahinter ist, werden es zumindest sehen können. Oder ich war schon einmal dort, und darum weiß ich beispielsweise, und so fährt der auch der Text fort: „Da ist eine Wiese.“ Die so erläuterte Erfahrung könnte man erkenntnistheoretisch aufbereiten: Banalerweise weiß ich natürlich von nichts, was mir noch nicht vor die Augen gekommen ist, nichts kann im Verstand sein, was nicht zuvor den Sinnen sich gezeigt hat. Wenn ich aber dann doch von etwas weiß, was gleichwohl hinter dem Sichtbaren meinem Blickfeld verborgen ist, dann wohl deshalb, weil ich die Fähigkeit habe, Erfahrungen, die ich früher einmal gemacht habe, zu speichern und mich später daran zu erinnern. Und so wäre der Satz auf der Ebene physischer Wahrnehmung und psychischer Erinnerungsleistung völlig klar: „Was hinter dem Hügel ist, kann ich nicht sehen. Aber ich weiß doch, ich weiß: Da ist eine Wiese.“ Die Ambivalenz dieser Erfahrung bleibt ihrer kognitionstheoretischen Differenzierung vorbehalten, doch auch ihre sprachliche Gestalt deutet immerhin an, dass das nicht alles ist: „…ich weiß doch, ich weiß…“ repetiert der Text 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch 265 bedeutungsschwanger, - Wissen hat auf unterschiedlichen Ebenen seine Basis, nicht nur auf der der sinnlichen Wahrnehmung des physisch vor uns Liegenden. Worin aber dieses Mehr des Wissens liegt, darüber erfahren wir durch den Text nichts weiter. Mehr aber „sagt“ hier das Bild: • Auf der ersten Ebene der unmittelbaren Betrachtung wird unser Blick ganz in das Bild mit seiner weiten gelben Fläche hinein und zugleich über diese Fläche hinausgetragen, in jenen Horizont, der hinter dem durch die Trennung des gelben Hügels und des weißen Himmels angedeuteten optisch-geografischen Horizont verläuft. • Auf einer zweiten Ebene können wir genauer beobachten: Zunächst fällt die große gelbe Fläche auf, die sich ganz durch den Mittelteil des Bildes zieht. Es ist ein warmer Gelbton, der durch seine rotbraune Färbung und die kleinen Einsprengsel in grünlichen Tönen gleich an eine Wiese oder ein Feld denken lässt. Als Landschaft, Erde, auf der wir stehen können, gibt diese Fläche dem Bild und damit uns als Betrachtern Halt. Im unteren Teil wird das Gelb heller und stärker mit den grünlichen Partikeln durchsetzt und läuft in der Mitte aus dem Bild heraus. An dieser Stelle scheinen wir als Betrachter zu stehen und werden so vom helleren Teil durch den größten dunkleren in der Mitte des Bildes nach oben zum höchsten Punkt der gelben Fläche hingezogen. Das Bild wird im unteren Teil rechts und links begrenzt durch sehr helle, fast weiße Flächen; sie sind nicht weiter strukturiert, und so wird der Blick ins Bild hinein deutlich von der unteren Mitte her gelenkt. Oben aber am Horizont der gelben Fläche geht diese relativ schnell in ein schmales, sehr helles und gleichwohl intensives Gelb über, das sich bruchlos in das Weiß des oberen Teils verliert. Der Horizont, der so markiert wird, ist insofern nicht scharf, sondern als Übergang gezeichnet, wodurch der Effekt, den Blick in jenes nicht mehr als Etwas auszumachende Weiß zu wenden, verstärkt wird. • Wenn wir als Betrachter unseren Blick in der Mitte des Bildes, genauer ganz im rechten Teil der linken Bildhälfte in den Horizont richten, steht das Kind, die Hauptperson des Bildes wie des ganzen Buches, quasi rechts neben uns. Neben ihm blicken wir mit ihm hinter den Hügel. Dieses Kind nun ist einerseits wie wir noch ganz der diesseitigen Welt verbunden, andererseits ebenso sehr schon in die jenseitige Welt aufgenommen. Warum? Seine Füße können wir eigentlich nicht sehen, sie sind wie verwurzelt ganz in den kaum kniehohen Gräsern auf dem Hügel verborgen. Aber auch das uns Sichtbare des Kindes sehen wir eigentlich nur schemenhaft, und doch entdecken wir beim genauen Hinsehen mehr: Das Kind scheint nämlich nicht mehr zu stehen, sondern sich bereits in den Horizont hineinzubewegen, vom Kamm des Hügels zur anderen Seite hinabzusteigen: Das 266 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch rechte Füßchen scheint leicht nach vorn gewandt, jedenfalls suggeriert dies die an dieser Stelle leicht nach rechts oben verlaufende Grasnarbe. Und der linke Arm ist physiologisch ganz entsprechend nach links vorne gewandt, so als ob der Wanderstab schon einen ersten Schritt hinab getan hätte; jedenfalls ahnen wir hier genau die nach rechts hinten leicht zurückgeschwungene rechte Hand. Und dann hat das Kind einen blauen Kittel an. Von der blauen Farbe wissen wir, dass sie ein Symbol der Weite und Unendlichkeit ist, aber mit diesem Bild bringen wir auch sinnlich in Erfahrung, dass es vor allem dieses Blau ist, das unsere Aufmerksamkeit hinter den Horizont zieht. • Und schließlich sehen wir im oberen Teil das Weiß des Himmels. Kein Himmel ist natürlich real so weiß, selbst wenn wir Nebel haben. Nebel anzunehmen, dazu bietet aber die Stimmung des Bildes keinen Anlass. Vielmehr steht das Weiß wohl dafür, dass etwas sichtbar ist, ohne dass wir dies in dem, was es ist, genauer sehen können, ohne dass wir sagen oder gar bezeichnen zu können, was dieses Etwas ist. Da ist schlicht etwas. Und dieses Etwas bestimmt das ganze Bild in dem, was es ist in seinen Details; denn ohne das Weiß des Himmels sähen wir gar nichts von den auf der Diesseite des Bildes uns zugänglichen Dingen. Dieser Bildbefund birgt schon Richtungen seiner Deutung. Sie lassen sich in unsrem Kontext der Frage nach Gott kennzeichnen mit den drei Begriffen Metaphysik, Transzendenz und Negative Theologie: (1) Die erste in unserer genaueren Beobachtung festgestellte Ebene ist die der Metaphysik: Hinter oder auch jenseits des vor uns Liegenden, der sichtbaren gelben Fläche oder des begehbaren Hügels wissen wir um etwas, das nicht mehr physisch-materiell sichtbar ist. Der sichtbare Horizont zwischen dem gelben Hügel und dem weißen Himmel ist der Vordergrund einer nicht mehr sichtbaren Grenze zwischen dem sinnlich vor uns Liegenden und dem dahinter, hinter (griech. „meta“) dem sinnlich Fassbaren (griech. “physika“) sich verbergenden, dessen Vorhandensein uns durch den sichtbaren Horizont gleichwohl intuitiv klar ist. (2) Auf einer zweiten Ebene werden wir mit den Schäferkind über die Kammgrenze hinausgezogen in jene jenseitige Welt. Wir über-schreiten, „trans-zendieren“ (lat.), das vor uns Liegende, Diesseitige, auf etwas nicht mehr konkret Begehbares und Sichtbares hin, einen jenseitigen „Raum“ der Transzendenz. (3) Dieses dem unmittelbaren Zugriff entzogene und verborgene Jenseitige ist aber nicht einfach eine Anderwelt, über die wir wie über die diesseitige TatsachenWelt definierende und sie als ein Etwas artikulierende Aussagen machen können. Sondern nur negativ können wir im Sagen, dass dies nicht eine als Etwas, nicht 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch 267 eine als Tatsache zu bezeichnende Welt ist, Aussagen machen. Solche Aussagen bezeichnen durchaus etwas, aber etwas, das dadurch charakterisiert ist, dass es sich nicht in sprachlich fixierbare, weil Tatsachen beschreibende Ausdrücke fassen lässt. Ein philosophischer Ausdruck zur Bezeichnung eines solchen Etwas ist „Nichtseiendes“. Und der theologische Ausdruck dafür ist nur scheinbar positiver, ist bei Lichte besehen aber auch lediglich eine Chiffre für etwas, was eben nicht sich benennen lassen kann, nämlich „Gott“. Auf dieser Ebene versucht Yano das Bilderbuch weiter zu gestalten: Die vorsichtigen Aquarelltöne mögen Ausdruck sein für die Vorsicht, das in den Bildern „Gezeichnete“ mit der Bezeichnung zugleich wieder aufzuheben, nur als Beispiel für eine auch anders mögliche Erfahrung anzusehen. Die Schafe auf der dritten Doppelseite mögen noch deutlich als Schafe auszumachen sein. Die Sterne einige Seiten später sind es nicht mehr so klar: An einigen Stellen verschwimmt der optische Eindruck von einem gelben Fleck, der als Stern auszumachen wäre, in eine nur noch gelblich schimmernden Tönung, die das Blau des Himmels färbt. Und auch die Blätter der Bäume sind wie durchsichtig gezeichnet: Verschwommen „sehen“ wir zugleich in sie hinein, in ihren feinen Gliederungen erkennen wir Lebenselemente. Und das Bild von der untergegangenen Sonne am Ende des Buchs liefert auch nur den „farbigen Abglanz“ des Lichts (Goethe), den die Atmosphäre uns widerspiegelt von der hinter dem Horizont am Abend bereits verschwundenen Sonne, von der wir aber gerade durch ihr Verschwundensein vielleicht klarer wissen, dass sie da ist, als wenn sie noch „am Himmel“ stünde, weil wir dann nie genau in sie hineinsehen könnten, ohne zu erblinden. 268 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch Manche Betrachter halten das letzte Bild des Buchs, das das Kind mit seinen Eltern grau, fast als Schatten, von hinten zeigt, und seinen Text für überflüssig: „Alles kommt her von Gott, und Gott ist überall. Aber ich sehe ihn nicht. Ich weiß nur, ich weiß: Er ist da.“ Überflüssig scheint mir dieser Text in der Tat, wenn er nur aufschriebe, was durch die Bild-Erfahrung vorher sehr viel offener und zugleich klarer hat erfasst werden können. Aber im Muster der vorangegangenen Sätze leistet vielleicht auch dieser Satz etwas anderes als eine „Erklärung“; möglicherweise gibt er eine gut geeignete Antwort auf die ja immerhin berechtigte Kinderfrage, doch einmal zu sagen, wer oder was Gott ist, von dem die Religionen ja ständig reden. Im Muster der vorangegangenen Sätze verdeutlicht dieses Ende, dass auch für „Gott“ gilt, dass er/sie kein eindeutig zu fassendes Etwas ist, das wir als klare und distinkte sinnliche Erfahrung ausmachen könnten. Aber wir können „Gott“ ausmachen im Erfassen der Durchsichtigkeit von jedem als „etwas“ zu Bezeichnendem. Mit Kindern kann das Buch insgesamt leicht erschlossen werden als Bild-Meditation oder auch als Traumreise unter Hören des Textes mit geschlossenen Augen. Denn seine „Botschaft“ ist nicht das Erfassen der begrifflichen Hintergründe, deren Benennung, wie wir sie vorgenommen haben, für uns Erwachsene die Erschließung dieses Buchs erleichtern sollten, sondern um das unmittelbare Erfassen einer Stimmung, einer Erfahrung, die den Nährboden bieten kann, auf dem später solche Erfahrungen begrifflich gefasst werden können. 3.2 Gott als Alltagserfahrung Die letzte Ebene unser Auseinandersetzung mit der Gottesfrage, die Thematisierung Gottes durch eine genaue und darum tiefgründige Phänomenologie des konkret vor uns liegenden Seienden, ist die Kehrseite der eben geleisteten Auseinandersetzung. Lautete eben die Frage, wie wir über das Diesseits konkreter Erfahrungen hinausgelangen können zu einem Jenseits, das sich als tragender Grund des Diesseits erweist, fragen wir nun, ob und wie sich ein solcher unsere Wirklichkeit tragender Grund auch konkret in der Wirklichkeit des So-Seienden zeigt. Religiös ist das die Frage, wie Gott im Alltag zu erfahren sei. 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch 269 Nun leben wir, sagen Soziologen, in einer patchwork-Gesellschaft.13 Die ermöglicht nicht nur Pluralität, sondern führt immer mehr auch zu einem Auseinanderlaufen der vielfältigen Ebenen von Wirklichkeit, zu Diversifikation. Diversifiziert, so meinen Religionssoziologen, stellt sich in modernen Gesellschaften auch Religion dar: Wir leben nicht nur im Kontext vieler unterschiedlicher Religionen, sondern die Menschen „nutzen“ die Traditionen und Angebote der einzelnen Religionen auch durcheinander. So bedeutet Protestant zu sein heute keineswegs, nicht auch ganz selbstverständlich an einer katholischen Osternachtsfeier teilzunehmen, einen Kurs für buddhistische Zen-Meditation zu belegen, mit indianischer Naturverehrung zu sympathisieren oder den Hindu Mahatma Gandhi als persönliches Vorbild für sich anzusehen. Ja, vielleicht gehört es heute auch zu möglichen Formen, seine Religiosität zu leben (wenngleich dies i.d.R. eher nicht bewusst geschieht), in ein Eisstadion zu gehen und Wunderkerzen anzuzünden und in Fan-Gesänge einzustimmen oder ein Auto mit einem Stern über die Straßen zu bewegen und ihm einen kleinen Tempel in Form der Garage zu weihen, oder auch den ritualisierten Konsum der täglichen Tagesschau, der QuizSendung, der vorabendlichen Soap-Reihe, des Abendkrimis, der Live-Sendung wie die religiöse Liturgie zu einer heiligen Feierstunde zu stilisieren. Mit einem patchwork, mit unterschiedlichen Feldern auf die ganze Seite verteilt, beginnt und endet auch das letzte in unserem Rahmen vorzustellende Bilderbuch Ein Stiefel fiel vom Himmel. Die Geschichte ist schnell erzählt: In Bewunderung seines Regenbogens verliert Gott, auf einer Wolke sitzend, einen seiner Stiefel. Er begibt sich auf die Erde, um ihn wiederzufinden, fragt den Parkwächter, den vorbeieilenden Geschäftsmann, den Pfarrer, das Fundbüro, den Schuhladen. Doch alles ist umsonst. 13 Vgl. dazu meine Ausführungen oben Kap.1-1. 270 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch Bei einer Militärparade wird er als verrückter Landstreicher von der Polizei in Gewahrsam genommen, über dessen Verrücktheit sie jedoch so zu lachen anfangen, dass sie vergessen, die Gefängnistür zu verschließen. So kann Gott sich in der Nacht davonschleichen. Am frühen Morgen trifft er einen kleinen Jungen beim Angeln, einer zeitaufwändigen Beschäftigung; und weil er sich so viel Zeit nehmen kann, hat er tatsächlich auch den Stiefel Gottes gefunden und lässt sich darauf ein, Gottes Geschichte zu hören. Theologisch bewanderte Leser können in dieser Geschichte eine ganze Christologie entdecken: Auch für Jesus ist überliefert, dass er zwar nicht der Stiefel, aber der Sohn Gottes ist, etwas, das Gott „schon seit Ewigkeiten“ hat und sehr liebt. Und geboren wird auch dieser Jesus unter Umständen, wo ihn zunächst keiner vermutet und niemand ihn findet. Sogar vom Schuhe-Binden ist bei diesem Jesus die Rede. Offenkundiger ist die Parallele, dass auch er, wie der Gott unseres Buchs, sich auf alle Alltäglichkeiten einlässt und dabei Probleme bekommt: Jesus darf am Sabbat nicht aufs Weizenfeld, Gott im Buch nicht auf den Rasen des Parks. Das Heil sucht Jesus bei den Armen und Aussätzigen, Gott sucht seinen Stiefel im Müll. Hören will keiner so recht auf Gott, selbst die Pharisäer und Schriftgelehrten haben eher vorgefertigte Meinungen, setzen sich aber nicht auseinander, ebenso wenig wie viele Menschen, die eher aus Konvention nach Jerusalem kommen denn aus innerer Überzeugung; und ebenso trifft Gott im Buch kurz vor dem Sonntag nur ein Fundbüro mit vergessenen Sachen oder das Schuhgeschäft mit Devotionalien; nur eine kleine Verkäuferin hat ein wenig Mitleid mit Gottes geschundenen Füßen und schlägt eine Behandlung vor, ebenso wie jene Sünderin, die Jesus mit ihrem Haar die Füße salbt. Und sogar um einen König geht es, der hoch leben soll; diese Szene kennen wir von Jesu Einzug nach Jerusalem. Als König aber hat Gott in der Welt nichts verloren und wird eingesperrt, wie auch Jesus, der als König der Juden eher Spott als Ärger auslöst. Im Gefängnis wird Gott dann sogar gequält, jedenfalls in den Bildern, wie auch Jesus. Und doch kann er eigentümlich geheimnisvoll fliehen, unter Zurücklassung nur von „wunderlichen Fußspuren“; Gott ist einfach aufgestanden und gegangen. Und in dieser neuerlichen (auferstandenen?) Daseinsweise trifft er keinen anderen als einen Fischer, so wie es die ersten Jünger Jesu auch waren. Und der allein hat Zeit, die Geschichte zu hören, so viel Zeit, dass er sie auch wird weitererzählen können. Das Interessante an diesem Buch ist aber nicht nur die hier kurz skizzierte, einige vielleicht verstörende Aktualisierung der Gottesgeschichte, sondern auch die Bilder, denen auf den ersten Blick gar nichts Religiöses eigen zu sein scheint, die aber immer wieder mit kleinen religiösen Anspielungen arbeiten, eben auf der Ebene irgendwie patchworkartig bekannter religiöser Versatzstücke. So sehen wir Gott als Mann mit weißem Rauschebart, oder wir erkennen den immer wieder kehrenden 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch 271 Finger Gottes aus Michelangelos berühmtem Sixtinischem Erschaffungs-Fresko. Das Wichtigste und auch für Kinder Lesbare dieser Bilder aber scheint mir zu sein, dass sie durch ihren Collagen- oder Patchwork-Charakter beim Betrachter überall Anregungen zum Nachfragen und Weitererzählen freisetzen. Das geschieht auf zwei Ebenen: Auf einer ersten Ebene sind alle Bilder bereits als Bildergeschichten gestaltet, mehrere Szenen oder auch Perspektiven oder auch Bezugsebenen sind zugleich dargestellt. Das ist aber nicht nur irgendein auf alle möglichen Themen anwendbares Gestaltungsprinzip, sondern ein besonders auf unser Thema bezogenes: Gleich das erste Gott auf der Erde zeigende Bild stellt uns Gott vor als in eine Geschichte eingebundene Person: Über den Text hinaus wird auf dem oberen Rand die „Geschichte“ vom Verlust des Stiefels noch einmal erzählt, und zwar einerseits von Gott selbst, indem er mit seinem linken Zeigefinger auf diese Bilderkette hinweist und andererseits durch die Bilderkette selbst, in der (wohl durch Menschen) diese Geschichte in Bilder gefasst worden ist. „Was bedeutet das?“ – so lassen die Bilder unwillkürlich ihre Betrachter fragen und fordern sie damit ihrerseits zu einem Nacherzählen auf. Das ist mehr als ein didaktisches Element, das gibt Einblick in das von uns gesuchte Verständnis von Religion im Alltag: Zunächst wird die vorhin angesprochene Problematik der Illustration von Geschichten aus der religiösen Tradition hier zugleich aufgenommen wie hinterfragt. Die einzelnen Bilder bezeichnen einerseits etwas, was auf ihnen zu sehen ist, den Regenbogen, die Wolke, das Hinabgleiten des Stiefels, aber auch stärker abstrakte Bilder wie den Finger Gottes, das Frage- und das Ausrufezeichen. Mit der Erläuterung dieser Bezeichnung ist aber noch nicht alles, ja das Wesentliche noch nicht gesagt. Denn einen Sinn gewinnen die Bilder erst, indem jemand sie – so eine zweite Dimension - als Geschichte auch einem anderen erzählt, also dadurch, dass etwas erst ist, was es ist, indem es zugleich vermittelt wird. Und darin, dies ist 272 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch eine dritte Dimension, mag dann deutlich werden, dass hier etwas erzählt wird, das nicht allein Wort oder Bild des Autors ist, sondern das eine göttliche Botschaft zu tragen vermag: Religiöse Bilder und Worte beanspruchen stets einen Zuspruch und Anspruch zum Ausdruck zu bringen, der zwar in der Gestalt menschlich fixierter Bilder oder Worte daherkommt, das menschlich Sagbare aber zugleich übersteigt, indem es einen Sinn erst gewinnt, wenn ich als Leser oder Hörer mich darauf auch einlasse in einer meine Existenz herausfordernden Art. Soweit zur ersten Ebene der Bildgestaltung. Auf einer ganz anderen Ebene spielt das Bild, in dessen Rahmen auch diese Bilderkette eingebettet ist, die Auseinandersetzung zwischen Gott und dem Parkwächter im Park, den Gott unerlaubterweise betreten hat. Auf den Parkinseln finden sich nur Bäume, Sträucher, ein Ententeich, auf den Bäumen auch Vögel; nur Gott hat es sich bequem gemacht auf einem Stück Parkfläche, alle anderen Menschen bleiben ordnungsgemäß auf den Wegen oder sandigen Flächen. Und dabei steht doch dabei „public park“, öffentlich für wen? Und was heißt das, dass dafür Regeln und Schilder aufgestellt werden? Ordnungen gelten wohl nicht ohne Grund, aber warum gibt es überhaupt Ordnungen, ja selbst einfach wie die Zahlenordnung? Damit ist die zweite Ebene der Bildgestaltung angesprochen: Ständig provozieren die Bilder zur Frage nach der Ordnung von allem über den Sinn von Regeln und Ordnungen über die geordnete Alltagswelt hin zur Ordnung von Zahlen, von Abläufen hin zur Ordnung aller Ordnung und des Lebens, also dem Prinzip von Ordnung überhaupt. Verwirrend und zunächst ohne Deutungsmöglichkeiten präsentieren sich vor allem die vielen Zahlen, die z.T. ordnend, z.T. messend, z.T. aufzählend und summierend sich durch die einzelnen Bilder ziehen. Zahlenfrei sind nur die ersten beiden Bilder vor Gottes Erdengang; auf dem letzten ist Gott am rechten Ärmel nur noch ein kleiner Zahlenzettel haften geblieben. Zahlen sind wie Buchstaben Möglichkeiten, die Welt als Ordnung zu verstehen und als Ablauf, in dem wir eine Rolle spielen können. Wer sich mit Zahlen, Buchstaben, Summen und Sätzen auseinandersetzt, reflektiert somit auf unser Menschsein als geschichtliches, das meint als ein in ein Geschehen eingewobenes Sein. Geschehen als Ordnung und Ablauf zu verstehen, unterstellt ihm aber einen Sinn. Und dieser Sinn ist auch die Voraussetzung dafür, dass wir uns auf Vergangenes und auf Künftiges beziehen können als etwas, wodurch unser Hier und 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch 273 Jetzt Sinn, was wörtlich meint eine Ausrichtung, gewinnen kann. Und dies ist Voraussetzung dafür, dass wir in das Hier und Jetzt gestaltend eingreifen können, weil es stets auch anders sein könnte als es sich uns im Augenblick darstellt. Und dies ist wiederum der Hintergrund dafür, dass wir uns Geschichten erzählen können: Und eben dazu gibt das Buch Anregungen, nicht nur durch die Schluss-Seite, auf der erzählt wird von der Zeit, die Gott sich endlich nehmen kann, seine Geschichte zu erzählen, sondern vor allem durch die Bilder, die den tieferen Sinn dieses Schlusses einholen: Wer sich Zeit nehmen kann, Geschichten zu erzählen und ihnen zuzuhören, und eben dazu fordern die Bilder des Buchs auf, der bekommt ein Gefühl und allmählich vielleicht auch einen Begriff davon vermittelt, dass wir Zeit zu gestalten in der Lage sind und so Geschichte machen können. Zu sprengen wäre in dieser Perspektive das bloße Nebeneinander von Ereignissen, Dingen, Menschen, Verhältnissen, die Menschen ihrerseits auf bloße Nummern oder Objekte zu reduzieren drohen: Einzelereignisse können, geschichtsphilosophisch gesehen, mit dieser Perspektive, erzählt zu werden, in ihrer Besonderheit festgehalten werden, gewinnen einen Wert 274 4-1 Die Frage nach Gott im Bilderbuch als Besonderheiten in dem Sinne, „im kleinen die Maße des bloß Seienden zu sprengen“ und sie insofern „vom Standpunkt der Erlösung“ aus zu sehen (Adorno).14 Was hat nun diese Einsicht mit Religion zu tun? Nun, in der Tat sind wir eben deshalb, weil wir dies tun können, religiös. Denn eine Geschichte erzählen bedeutet eben, eine Macht aufbieten zu können gegen das Realitätsprinzip, dass alles so sei wie es ist, eine Macht, von der her das Hier und Jetzt einen Sinn gewinnen kann, sei es zur Bestätigung, sei es, um es zu verändern auf ein besseres Leben hin. Zumindest die abendländischen sog. Offenbarungsreligionen haben ihre Pointe eben darin, das Leben zu reflektieren auf eine andere, in ihm sich dauernd geltend machende, es aber gleichwohl auch transzendierende Dimension hin, die wiederum zu weltveränderndem oder zumindest -gestaltendem Leben führt. 14 Vgl. Theodor W. Adorno: Die Aktualität der Philosophie [1931], in: Ges.Schriften, Bd.1, Frankfurt 1973, S. 344; sowie der berühmte Schluss-Aphorismus 153 aus Adorno: Minima Moralia [1951]. Kapitel 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ Eine Skizze erfahrungsdimensionierter Bibelerkundung 1 Wie ist es möglich, mit der biblischen Botschaft so vertraut zu werden, dass einerseits der oberflächliche Verlauf einer „Geschichte“ zur Kenntnis genommen wird, andererseits zugleich Wege ihrer Deutung freigesetzt werden, konkreter, dass der tiefere Sinngehalt wie auch die äußere Bedeutung2 eines biblisch überlieferten Geschehens zugleich wahrgenommen, ja auseinander erschlossen werden können? Die Frage ist komplizierter und auch schwieriger zu beantworten, als es auf den ersten Blick klingt. Fakt ist, dass einige Religionslehrerinnen und -lehrer und auch manche Religionspädagogen3 meinen, beide Zugänge würden sich gegenseitig ausschließen und könnten zumindest für Kinder nicht miteinander vermittelt werden. Denn, so ließe sich vordergründig einsichtig argumentieren, konfrontiere ich die Kinder damit, dass ja alles „in Wirklichkeit“ gar nicht so gemeint sei, wie wir es in der Bibel lesen, sondern einen ganz anderen Sinn habe, nehme ich sie mit ihrem unmittelbaren und naiven Zugang zu den Texten und ihren Bildern nicht ernst. Vermittle ich ihnen andererseits biblische Geschehnisse als historische Fakten, setzte ich sie der Gefahr aus, einen Aberglauben aufzubauen, der dann später dazu führt, dass „das“ ja alles gar nicht wahr sei (weil die Tatsachen der Wirklichkeit eben anders aussehen), oder aber einen Fundamentalismus auszubilden, dass es eben ent1 Dieses Kapitel ist für diese Arbeit neu geschrieben worden, geht aber zurück auf eine mehrfach von mir im Religionsunterricht der Klasse 11 durchgeführte Unterrichtseinheit und entsprechende Notizen zur Unterrichtsvorbereitung. Sie wurden hier für die Abschnitte 1 und 2 ausführlicher entfaltet. Der abschließende Abschnitt 4, der diese Einheit in einen Entwurf für die gesamte Jahrgangsstufe 11 einbindet, geht zurück auf ein schriftliches Konzept aus dem Jahr 1996, das hier gestrafft wiedergegeben wird. 2 Die Begriffe „Sinn“ und „Bedeutung” werden hier bewusst benutzt im Sinne der Fregeschen Unterscheidung, wonach die „Bedeutung“ den mit einem Ausdruck gemeinten Gegenstand, sein Referenzobjekt meint, „Sinn“ hingegen die Konnotation, also das, was dieser Gegenstand für mich meint (Frege 1892). Dass dieser Unterscheidung keine akademische ist, sondern für das Verständnis religiöser Sprache eine elementare Voraussetzung auf den Begriff bringt, das wird genauer im Kapitel 2-2 erläutert. 3 Für Ethik-Lehrkräfte und Philosophie-Didaktiker gilt dieser Verdacht natürlich nur eingeschränkt, weil hier kaum längere Erfahrungen vorliegen. Die Anforderung, Texte und Geschichten differenziert lesen, erschließen und deuten zu können, gilt freilich für den Ethik- und Religionsunterricht in gleichem Maße und dürfte hier wie dort keineswegs selbstverständlich vorauszusetzen sein. 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ 277 gegen der normalerweise faktisch verlaufenden Wirklichkeit ab und zu eine andere Wirklichkeit gäbe, die quasi die Naturgesetze außer Kraft setzend zuweilen in die normale Wirklichkeit einbreche. Eine Möglichkeit zur Lösung wäre es, entwicklungspsychologisch untermauert die Ansicht zu vertreten, eine solche Schizoidität sei nicht so schlimm, weil wir alle uns durch verschiedene Stadien des Verhältnisses zu Wirklichkeiten hindurch allmählich zu einem erwachsenen Verhältnis erst empor bilden würden. Und deshalb seien bestimmte animistische oder fabulierende oder naive Stadien durchaus als solche zu akzeptieren und für jüngere Kinder beizubehalten.4 Später würde dies dann ganz natürlich durch einen sachangemessenen Zugang abgelöst. Doch mit dieser Lösung ist das Problem wahrlich nicht gelöst. Denn in welchem Verhältnis sieht dann das erwachsene Bewusstsein beide Ebenen, die der äußeren Bedeutung und die des inneren Sinns zueinander? Bleibt es bei zwei Welten, oder wird eine von ihnen ins Recht gesetzt, die andere dagegen als unrichtig zurückgewiesen? Und wie steht es um das angeblich bloß fabulierende Stadium von Kindern; hat denn das gar keinen Inhalt, ist denn damit gar kein Sinn gemeint? Allgemein formuliert ist auf dieser Grundlage nicht zu beantworten, wie eine Person, die als Person doch immer dieselbe bleibt, Einheit auch zwischen verschiedenen Stufen des Bewusstseins soll stiften können, es sei denn, Stufen der Vergangenheit würden tatsächlich als im Nachhinein „falsch“ markiert.5 Gibt es also eine Möglichkeit der Verbindung beider Ebenen in einem einheitlichen und doch klar differenzierbaren Zugang? Ich glaube ja. Und ich will dies exemplarisch verdeutlichen durch ein über mehrere Jahre für die Klasse 11 erprobtes Modell der Verbindung von Bibelkunde und Sinnorientierung.6 Entsprechende Rückschlüsse 4 Diese Bemerkungen beziehen sich (polemisch) auf Aussagen insbesondere der Piaget-Schule, etwa Piaget (1926). Ebenso nehme ich damit deutlich Partei für eine Pädagogik der sog „Zweiten“ Naivität, wie sie etwa Halbfas vertritt, gegen die These des Beibehaltens einer sog. „Ersten“ Naivität bei Grundschulkindern, wie sie am deutlichsten von Bucher gegen Halbfas behauptet wird (Bucher 1989 sowie 1990). – Durch meine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Ansatz von Halbfas (Petermann 1992) habe ich selbst in diese Diskussion eingegriffen, was zu einer heftigen Entgegnung, namentlich durch Bucher (1992b) führte. - Zur Weiterentwicklung meines Verständnisses von „Zweiter Naivität“ vgl. den Abschnitt 2 des Kapitels 3. 5 Ganz ausdrücklich äußert diese Kritik Halbfas z.B. im Lehrerhandbuch 3 seines Unterrichtswerks (Halbfas 1983ff), S. 202, wenn er meint, meiner Meinung und auch religionsunterrichtlicher Erfahrung nach völlig zu Recht: „Doch dürften die von den meisten Religionspädagogen und Lehrplänen für das 7. bis 9. Schuljahr angesetzten Bibellektionen auf kognitiven Treibsand gesetzt werde, wenn nicht vom ersten Schuljahr an diese breit angelegte und intuitiv indendierte Propädeutik [sc. intuitiver, „stark auf erzählerische, bildliche und symbolische Möglichkeiten“ setzende Bibelkunde] stattfindet.“ 6 Sowohl evangelischerseits wie katholischerseits sehen die Bildungspläne in Baden-Württemberg als Themen für die Klasse 11 seit langen Jahren eine Einführung in den sachgerechten Umgang mit der Bibel zum einen und eine Auseinandersetzung mit der Frage nach Sinn und gelingendem Leben zum anderen vor. Schon früh in meiner religionsunterrichtlichen Tätigkeit hatte ich die Idee, beide 278 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ für jüngere Kinder liegen dabei auf der Hand, können aber nur hier indirekt angedeutet werden. In einem ersten Punkt (1) wird durch einen sog. präsentativen Zugang ein Bild zur Berufung der ersten Jünger gedeutet. Dem folgt (2) eine Erschließung der biblischen Bezugstexte. Sie wird (3) wieder zurückgebunden an das Impuls-Bild, das damit eine auch theologische Bedeutung gewinnt. Aus diesem Verfahren sind schließlich Konsequenzen für meine These zu ziehen (4), d.h. diese Deutung wird als Beleg ausgewertet dafür, dass es einen die äußere Bedeutungsebene wie zugleich die innere Sinnebene einschließenden Zugang zu religiösen Traditionsgütern gibt. Ein abschließender Punkt (5) schließlich verweist kurz auf die schulischen Rahmenbedingungen, in deren Kontext die Idee entstanden ist. 1 Duccios Berufungsbild Zunächst betrachten wir ein abgedrucktes Bild von Duccio di Buoninsegna.7 Dieser präsentative Einstieg hat nicht den Sinn einer nur vorläufigen Hinführung zum Thema, sondern bietet uns bereits in sich die ganze Komplexität des Themas an: Sachkundlich führt dieses Bild ins Zentrum des zur Auseinandersetzung stehenden Unterrichtsgegenstands, als ästhetischer Reiz spricht es den Betrachter auf der Ebene des Affektiven an, die unmittelbarer die existentielle Aussage zu verdeutlichen vermag, und durch seine diffizile Komposition bietet es zugleich eine hervorragende Folie zur Reflexion und Diskussion der Sache.8 Für den Einsatz im Unterricht empfiehlt es sich, die nebenstehende Abbildung als Folie zu reproduzieren. Für die Erschließung empfehle ich einen vierfachen Zugang9: Themen nicht, wie oft üblich, getrennt voneinander zu verhandeln, sondern miteinander zu vernetzen. Zur Erläuterung dieser Idee vgl. den Abschnitt 5 dieses Kapitels. 7 Duccio di Buoninsegna: Christus beruft die Apostel Petrus und Andreas. 43,5x46 cm, Bild „d“ der Predella der Rückseite der „Maestà“ des Duccio für dem Dom von Siena (vor 1311), heute Washington, National Gallery of Art; hier aus: C. Jannella: Duccio di Buoninsegna. Firenze: Scala 1991, Abb.43, S. 38. 8 Zur genaueren Begründung des Präsentativen vgl. die Erläuterungen zur zweite Ebene von Erfahrung als sinnlicher Erfahrung im Abschnitt (2) der Einleitung (S. 36ff). 9 Das folgende Deutungsschema habe ich in Unterricht und Seminaren vielfach erprobt. Wissenschaftlich ist es angelehnt beispielsweise an Erwin Panofsky: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 1975 [New York 1957]; sowie Panofsky: Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst [1931], in: ders: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft. Berlin 1974, S.85-97; sowie neuerdings: Stefan Müller-Doohm: Bildinterpretation als struktural hermeneutische Symbolanalyse; in: R.Hitzler/A.Honer (Hg.): Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Opladen: Leske+Budrich 1997, S. 81-108. 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ 279 • Einer Phase erster unmittelbarer Wahrnehmung (1.1) • sollte (1.2) eine detaillierte ikonografische Entschlüsselung einzelner Bildelemente folgen, • dann (1.3) der Versuch eines ikonologischen, das Bild als Gesamtbild fassenden Eindrucks; • am Ende kann dann eine offene rezeptionsästhetische Einbindung des Wahrgenommenen in die eigene Erfahrungswelt stehen. Auf diese Phase verzichte ich hier, weil sie aufgenommen wird in den Punkten 3 und 4 (zur Erläuterung s.u.). 280 1.1 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ unmittelbare Wahrnehmung Auf einer ersten Ebene geht es darum, dem ästhetischen Zugang, den ein Bild zu bieten vermag , möglichst umfassend Raum zu geben. Insofern es hier noch nicht auf Reflexion des Wahrgenommenen ankommt, sondern das Wahrnehmen selbst, ist es durchaus angemessen, von einem „stummen“ (besser „stillen“) Impuls zu sprechen.10 Von allen Deutungsversuchen oder Einordnungen in möglicherweise bereits bekannte Schemata oder Kenntnisse sollte darum möglichst abgesehen werden. Gleichwohl sind gezielte Lenkungen des Blicks sinnvoll, ja erforderlich, um die Wahrnehmung auch wirklich auf das Wahrnehmen zu konzentrieren. Verstellende oder gar in die Irre führende Assoziationen können so ausgeschieden werden, eine Gefahr, die jeder Einsatz vordergründig gegenständlicher Bilder hat. Darum schlage ich für das vorliegende Bild ein noch ganz auf der assoziativen Ebene bleibendes, gleichwohl gezieltes Verfahren vor. Sinnvoll scheinen mir dafür folgende Anweisungen: Betrachten wir das Bild zunächst einmal völlig losgelöst von seinem etwa vorhandenen Titel oder der Zuordnung zu einem möglicherweise bekannten Ereignis und nennen es probeweise einfach „Begegnung am Ufer“. Unter dieser von aller inhaltlichen Besetzung befreiten Perspektive schauen wir zunächst auf mögliche Auffälligkeiten bei den drei Personen: Was mögen sie gerade tun, fühlen, denken? 10 Im schulischen Unterricht beliebt ist der sog. Stillimpuls oder auch stumme Impuls. Sein Einsatz wird in der Regel damit begründet, die Schülerinnen und Schülern in ihrem Eindruck nicht zu präformieren und den weiteren Unterricht ganz aus diesen subjektiven Erfahrungen weiter zu entwickeln. Das sollte dann freilich auch das genaue Kriterium dafür sein, einen Impuls auch wirklich als stillen einzusetzen. Das aber scheint mir für nur ganz wenige Themen wirklich gut geeignet, bei solchen nämlich, in denen die je eigene und ganz zufällige Erfahrungswelt nicht nur die Form der Erschließung sein soll, sondern auch ihr Gegenstand, ihr Inhalt; oder es geht um solche Impulse, die, wie etwa die Karikatur, ein Thema schon so offenkundig zum Ausdruck bringen problematisieren, dass sie selbst schon eine Deutung des in ihnen ausgedrückten Gehalts darstellen. Ansonsten empfehle ich eher ganz gezielte, auf den Horizont der Zielsetzung abgestimmte Leitfragen einem präsentativen Impuls mitzugeben. Den Ausdruck „stummer“ Impuls halte ich für verfehlt, es sei denn, er meint die banale Aufforderung, bei einer Bildbetrachtung nicht zu reden. Der Impuls selbst, also etwa das Bild, bleibt natürlich nicht stumm, sondern will als Impuls ja gerade etwas anstoßen, (im metaphorischen Sinn) zur Sprache bringen. In jedem Falle aber sollte ein solcher Stillimpuls, wenn er denn einen Sinn hat, auch irgendwie im weiteren Verlauf wieder zur Sprache oder zumindest in Erinnerung gebracht werden können. Dafür scheint mir wenigstens die Anweisung sinnvoll, erste Assoziationen zu einem Bild nach einer Phase der stillen Betrachtung in Stichworten ins Heft zu notieren. 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ 281 Sodann betrachten wir den Raum, in dem sie gemalt sind. Fällt an ihm irgend etwas auf, etwa was das Boot angeht, das Wasser, den Felsen zur Linken, aber auch die Größenverhältnisse? Schließlich nehmen wir noch die Farben in Augenschein. Haben sie irgendeine besondere Wirkung auf uns? Alle Beobachtungen können wir nach einer jeweils angemessen langen Phase der Betrachtung in Stichworten festhalten, am besten, indem wir sie als Fragen formulieren. Zum Abschluss ist es möglich, zu diesem Bild aufgrund unserer Beobachtungen auch eine kleine Geschichte zu schreiben, was sich hier ereignen mag. 1.2 ikonografische Entschlüsselung Dieser zweite Schritt dient dazu, die unmittelbaren Beobachtungen aus dem ersten Schritt mit einigen Informationen zu konfrontieren. Darum war es sinnvoll, die Beobachtungen möglichst in Frageform zu notieren. Nun bietet sich ein eher umgekehrtes Vorgehen an, also das Erarbeiten von Informationen zu folgenden Punkten: Eine erste Information hinsichtlich der Wirkung sollte der Größe des Bildes im Original gelten (s.o. ca. 50 x 50 cm). Zusätzlich kann es von Bedeutung sein, dass dieses Bild (ursprünglich, s.u.) in eine ganze Reihe von Bildern mit ähnlichen Situationen eingebunden war (wobei eine Aufklärung über den biblischen Kontext zunächst noch ausgespart bleiben sollte). Zur Einordnung des Bildes könnte das Alter geschätzt werden, weniger um mit möglicherweise vorhandenen Vorinformationen zu glänzen, sondern um sich dem Thema des Bildes und seiner eigentümlichen Bearbeitung zu nähern. Die Beobachtung der Farben sollten zu einer Aufklärung über das Material führen. Es handelt sich um Ölfarben sowie Blattgold, was auf vorbehandeltes Holz in sehr leichter und dünner Form aufgetragen ist. Eine Zusatzinformation zur Ikonenmalerei, bei der das Gold auch den Sinn hat, Hintergründiges durchschimmern und erstrahlen zu lassen, ist sinnvoll. Hinsichtlich der Räume ist wohl klar, dass es sich um ein Geschehen handelt auf einem Gewässer einerseits, wo gerade der Vorgang des Netz-Einholens unterbrochen wird, und auf einem felsigen Gelände andererseits, auf dem die 282 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ Person links steht. Das löst die Frage aus nach irgendwelchen Situationen, in denen Wasser, Land und Fischfang eine so wichtige Rolle spielen, dass es sie zu malen lohnt. Auch die eigentümliche Färbung des Himmels sollte als Datum festgehalten werden. Damit ist fast schon die Frage nach den dargestellten Personen angesprochen. Als Vorinformation kann der Hinweis nützlich sein, dass die unterschiedliche Größe auf eine unterschiedliche Bedeutsamkeit der Personen verweist. Im Detail kann dann über Beschreibung ikonografischer Topoi zu einer Identifizierung der Personen fortgeschritten werden: Der Mann links am Ufer mit dem glatten dunklen Haar, dem leichten Bartwuchs ist Jesus, der sich über die ausgestreckte rechte Hand den beiden im Boot zuwendet. Der Mittlere mit dem weißen kürzeren Haar und dem eher rundlichen Gesicht ist Simon Petrus, der sich offensichtlich von diesem Jesus angesprochen fühlt und mit seiner Rechten darauf reagiert. Und der ein wenig finster dreinblickende Mann rechts im Boot ist Andreas, der in den neutestamentlichen Zeugnissen als der Bruder des Simon beschrieben wird. Abschließend kann die Information geliefert werden über den Zusammenhang, in dem dieses Bild ursprünglich gehängt war: Es bietet als Berufung der Jünger Simon und Andreas am See Genezareth das wahrscheinlich vierte von ursprünglich wohl neun Bildern zu Szenen aus dem Leben und Wirken Jesu, offensichtlich mit dem Sinn, den Betrachtern Schlüsselszenen des Neuen Testaments vor Augen zu halten.11 1.3 ikonologische Sinngebung Mit der ikonografischen Entschlüsselung und Zur-Kenntnis-Nahme der äußeren „Bedeutung“ des Bildes ist für das Ziel der Erschließung noch nicht viel erreicht. Aber über die genaue Betrachtung des Bildes haben wir uns auch seiner tieferen Sinngebung genähert. Damit gelangen wir zur entscheidenden Phase dieses ersten Elements. Die Beobachtungen aus der ersten Phase sind nun durch gezielte Fragen 11 Zum Gesamtaufbau des Werks vgl. den o.a. Band: Jannella: Duccio die Buoninsegna (1991), S. 21f. Daraus geht hervor, dass es sich ursprünglich um eine riesige Altartafel zur Gottesmutter Maria handelte, bestehend aus ca. 65 Einzelbildern auf vorder- und Rück-Seite zu verschiedenen biblischen Zyklen und einem großen Altarbild mit der thronenden Gottesmutter. Das Werk wurde in mehreren Jahren Anfang des 14. Jahrhunderts von Duccio und Schülern geschaffen, 1771 nach mehreren Umstellungen jedoch in Einzelteile zersägt, so dass sich inzwischen viele Einzelteile in verschiedensten Museen der Welt befinden. 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ 283 und Deutungsversuche zu präzisieren, erneut nach der Reihenfolge der ersten Fragereihe, beispielsweise: Was fällt zunächst auf an den einzelnen Personen? Wie äußert sich Jesus, welche Haltung, vielleicht welche Worte unterstellt ihm Duccio, indem er ihn als Berufenden so zeichnet, wie er ihn zeichnet? Wie ist die Haltung des Simon zu deuten; was läuft hier bei ihm ab, als er den Ruf Jesu hört; wie vor allem ist seine Handhaltung, und zwar sowohl rechts als auch links zu verstehen? Und was können wir aus der Haltung seines Bruders Andreas folgern, wie reagiert er auf den Anruf Jesu? Auch die Gegenstände spielen eine sinngebende Rolle. So fragen wir zunächst weiter nach dem Boot: Was ist das für ein eigenartiger Kahn, ist er geeignet zum Fischfang, ist er sicher? Dann sollte der Fels ins Spiel gebracht werden: Natürlich ist damit das Ufer des Sees bezeichnet, aber warum mag es gerade ein Steilufer sein, auf was könnte der Fels als Untergrund zum Stehen und auch als Begrenzung des Wassers verweisen? Haben auch die Farben des Bildes einen inneren Sinn? Wie steht es beispielsweise mit dem blendend gold gefärbten Himmel? Was erreicht der Maler, indem er dieses dritte Element neben dem irdischen Fels und dem flüssigen Gefilde des Wassers so auszeichnet? Und warum tragen die drei Personen Gewänder gerade in diesen Farben, Jesus in kräftigem Blau und Rot, Andreas in eher abgetöntem Rot und Petrus in der Mitte in einem relativ blassen Blau? Eigens zu verweisen ist auf die Bildgestaltung: Wo liegen Blickfänge, Zentren des Bildes? Warum ist einerseits die Herzgegend des Simon ein Zentrum des Bildes? Und welchen Sinn macht vor allem jener enge Raum zwischen Fels und Bootsspitze, die gerade (noch) nicht aneinander stoßen? Hat das einen das Geschehen zusätzlich dramatisierenden Sinn? Wir haben in der ersten Phase versucht, dem Bild eine Geschichte zu unterstellen. Versuchen wir dies mit den inzwischen erhaltenen Informationen und Deutungsrichtungen erneut. Genauer wäre zu fragen: Was ist für Duccio wichtig an der Berufung der ersten Jünger durch Jesus, was möchte er uns durch sein Bild vermitteln? 284 2 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ Die Berufungsgeschichten der neutestamentlichen Evangelien Ziel des folgenden Elements ist es, die neutestamentlichen Belege zur Jüngerberufung kennen zu lernen und darüber zugleich einiges zur Komposition der Evangelien in Erfahrung zu bringen. Indem diese Aufgabe durch das erste Element eine Basis hat, wird jedoch die Kenntnisnahme dieser Fakten eingebunden in die Frage nach Lebenssinn und -orientierung. - Zum Vorgehen schlage ich folgende Phasen vor: 2.1 Erkundung der neutestamentlichen Berufungsgeschichten Durch eine entsprechende Unterrichtsplanung lässt sich das vorderhand langweilige Unternehmen, etwas in der Bibel nachzuschlagen, lebendiger, das eigene entdeckende Lernen einbeziehend, gestalten. Geeignet dafür erscheinen mir folgende Schritte bzw. Arbeitsaufgaben, zu denen jeweils kurz die Zielsetzung angegeben ist: Mit dem Ziel, als „Nebeneffekt“ auch den Aufbau der Evangelien strukturell zu erfassen, sollten die Schülerinnen und Schüler selbständig versuchen, die Geschichten von der Berufung der ersten Jünger zu suchen. Als Suchkriterien werden dabei folgende Fragen weiterhelfen: a) eher im AT oder NT zu suchen, b) wenn im NT, in welchen der Schriften, c) wo ungefähr sollte man in den Evangelien suchen? – Für Antworten sind jeweils Begründungen zu liefern. Wenn die Suche zu vier Ergebnissen geführt hat (Mt 4,18ff; Mk 1,16ff; Lk 5,1ff; Jo 2, 35ff), stellt sich unmittelbar die Frage, wie es zu solch unterschiedlichen Überlieferungen kommen kann. Dafür sind zunächst die offenkundigen Unterschiede zu markieren: Die deutlichsten Parallelen wird man zwischen Mk und Mt finden, den entferntesten Text bei Jo – hier tauchen auch ganz andere Namen auf, am Ende die Jünger Philippus und Natanael, anfangs der Täufer, mit dem die Geschichte eine ganz andere Wendung nimmt. – Mit einem solchen Ergebnis hätten die Schülerinnen und Schüler eigenständig einen ersten synoptischen Vergleich vorgenommen und zugleich in Erfahrung gebracht, dass die neutestamentlichen Schriftsteller mit ihren unterschiedlichen Texten eine je eigene Botschaft im Sinn haben, weniger die detailgetreue Abbildung eines Geschehens. – Eine kurze Information zur historischen Genese der Evangelien lässt sich an dieses Suchergebnis leicht anschließen. 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ 285 In einer ersten Wiederaufnahme des Duccio-Bilds ist schließlich zu fragen, welchen dieser Texte Duccio mit seinem Bild wohl im Sinn hatte. Obwohl auf den ersten Blick alles dafür zu sprechen scheint, dass es um die Texte von Mk bzw. Mt geht, lässt die ausdrücklich hervorgehobene Haltung des Petrus nur den Schluss zu, dass Duccio die Überlieferungen des Mk/Mt mit der des Lk kompiliert hat. Offen bleibt die Frage, warum und mit welchem Recht? Diese Frage kann als Provokation zu einer weiteren Auseinandersetzung mit den biblischen Texten genommen werden. 2.2 Detailliertere Auseinandersetzung mit den Geschichten von Markus und Lukas Als Ergebnis der Phase 2.1 (zumindest als naheliegender Schluss) kann festgehalten werden, dass es den neutestamentlichen Schriftstellern nicht auf exakte historische Genauigkeit ankommt, sondern dass sie etwas damit im Sinn haben, eine Geschichte gerade so überliefert zu haben. Um nun den Bezug genauer erschließen zu können, den das Bild von Duccio zu diesen Quellen aufbaut, ist es nützlich, an die beiden für Duccio einschlägigen Perikopen von Mk und Lk die genauere Frage ihres Sinns zu stellen.12 Auf detailliertere Tipps zur unterrichtlichen Erschließung verzichte ich hier und liefere nur einige Hinweise zur Sachananalyse. Die Pointe der Markus-Geschichte erschließt sich am besten durch die eindrückliche, eng an der Diktion des Markus angelehnte Übersetzung von Fridolin Stier13: 16 Als er am See von Galiläa entlangging, sah er Simon und Andreas, den Bruder Simons, wie sie im See netzwarfen; sie waren ja Fischer. 17 Und Jesus sprach sie an: Auf! mir nach, dass ich Menschenfischer aus euch mache! 18 Und gleich ließen sie die Netze und folgten ihm. 19 Und als er ein wenig weitergegangen, sah er Jakobus, den Sohn des Zebedäus, und Johannes, dessen Bruder – auch sie im Boot – wie sie eben die Netzte zurecht machten. 20 Und gleich rief er sie; und sie ließen ihren Vater Zebedäus samt den Lohnknechten im Boot und gingen weg – ihm nach. Die Frage nach Auffälligkeiten dieses Textes wird schnell zu dem Ergebnis führen, dass die Nachfolge hier ohne Begründung und Erklärungsversuch erzählt wird, ja 12 Im Zusammenhang des hier interessierenden Kontextes und auch um den Rahmen der Erläuterungen nicht zu sprengen, verzichte ich an dieser Stelle auf eine ansonsten bei der Arbeit mit Bibelstellen übliche, zuweilen auch ertragreiche Einbindung in die einschlägige exegetische Literatur und beschränke mich auf Markierungen einiger für den differenzierenden Blick offenkundiger Auffälligkeiten. 13 Stier (1989). 286 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ dass das Überraschende des Ereignisses durch das zweimalige „und gleich“ sogar ausdrücklich hervorgehoben wird. Offensichtlich lag Mk daran, nicht die innere Erfahrung bei den Jüngern nachzuzeichnen, sondern das Plötzliche, Unmittelbare und vor allem das Einschneidende und Radikale dieser Wendung. Zu diesem Zwecke verdichtet er14 ein „in Wirklichkeit“ sicher anders und vor allem viel ausgedehnter verlaufenes Geschehen auf wenige Informationen und die elementare Sinnsetzung dieser Erfahrung: Jesus ist den Jüngern in einer das ganze Leben einschneidend und fundamental verändernden Weise begegnet. Dieser Akzent entfaltet programmatisch die Ankündigung Mk 1, 15 und bildet den Auftakt für weitere „Erläuterungen“ des Reiches Gottes in den folgenden Versen. Lukas dagegen scheint es gerade auf die Auslotung der inneren Erfahrung der Berufung anzukommen. Darum wohl konzentriert er die Geschichte ganz auf einen der Jünger, nämlich Simon: 1 Es begab sich aber, als sich die Menge zu ihm drängte, um das Wort Gottes zu hören, da stand er am See Genezareth 2 und sah zwei Boote am Ufer liegen; die Fischer aber waren ausgestiegen und wuschen ihre Netze. 3 Da stieg er in eins der Boote, das Simon gehörte, und bat ihn, ein wenig vom Land wegzufahren. Und er setzte sich und lehrte die Menge vom Boot aus. 4 Und als er aufgehört hatte zu reden, sprach er zu Simon: Fahre hinaus, wo es tief ist, und werft eure Netze zum Fang aus! 5 Und Simon antwortete und sprach: Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen; aber auf dein Wort will ich die Netze auswerfen. 6 Und als sie das taten, fingen sie eine große Menge Fische, und ihre Netze begannen zu reißen. 7 Und sie winkten ihren Gefährten, die im andern Boot waren, sie sollten kommen und mit ihnen ziehen. Und sie kamen und füllten beide Boote voll, so dass sie fast sanken. 8 Als das Simon Petrus sah, fiel er Jesus zu Füßen und sprach: Herr, geh weg von mir! Ich bin ein sündiger Mensch. 9 Denn ein Schrecken hatte ihn erfasst und alle, die bei ihm waren, über diesen Fang, den sie miteinander getan hatten, 10 ebenso auch Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, Simons Gefährten. Und Jesus sprach zu Simon: Fürchte dich nicht! Von nun an wirst du Menschen fangen. 11 Und sie brachten die 15 Boote ans Land und verließen alles und folgten ihm nach. Lukas bindet in die ihm vorliegende „Geschichte“ offenkundig drei andere ein, einerseits die von der Predigt vom See aus, anderseits die vom großen Fischfang, den die Jünger tätigen, schließlich die Berufung des Simon, um so der Erfahrung, die die Jünger machen, das entsprechende Gewicht zu geben. Darüber hinaus „verlegt“ er die Geschichte zeitlich weg vom Anfang der Tätigkeit Jesu, an dem sie bei Mk gestanden hatte. Damit kommt ihr weniger exponierender Charakter zu als vielmehr ein auf einer ersten Stufe synthetisierender: Was zuvor durch einige Ereignisse vor Augen 14 Zum literarischen Mittel der Verdichtung vgl. die kurzen Erläuterungen im Kap. 4-3, Abschnitt 4. 15 Übersetzung nach der 1984 revidierten Lutherbibel. 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ 287 geführt wurde, wird nun zu Beginn des Kap.5 auf den Punkt und zur Erfahrung gebracht. Dass es Lukas dabei ebenfalls nicht auf eine historisierende Abbildung eines Geschehens ankommt, wird belegt nicht nur durch den Akt dieser kompilierenden Komposition, sondern auch äußerlich durch die offen beibehaltenen Brüche in der Grammatik (v. 4a-4b sowie v. 9-11): Noch deutlicher als bei Mk steht nicht irgendeine Geschichte im Vordergrund, sondern die Wirkung, zu der die Begegnung mit Jesus führt. Auch hier wird das „in Wirklichkeit“ ausführlichere Geschehen verdichtet, doch mit anderen Mitteln: Im Zentrum steht die Erfahrung des Simon, für die alle anderen Daten symbolischen Wert gewinnen: Alle „drängen“ sich um Jesus, doch Simon soll „hinaus“ fahren, auf Abstand. „Hinaus“ führt die Fahrt auch Simon selbst, hinaus nämlich aus seinem bisherigen Leben und Alltag. Das Hinausfahren führt Simon dann in die „Tiefe“, nicht nur des Sees, sondern auch seiner selbst; er wird mit dem konfrontiert, was eigentlich Mitte seines Lebens ist.16 Entsprechend scheint auch der Fischfang eher Zeichen für Sinnsuche zu sein, jedenfalls nicht bloß Angabe einer alltäglichen Tätigkeit. Warum sonst sollten die Boote fast sinken? Schließlich weist Simon Jesus zurück, so sehr hat ihn diese Erfahrung mit etwas ganz Elementarem konfrontiert. Er selbst jedenfalls kommt mit dem, was er erfahren hat, noch nicht zurecht. Doch die Antwort Jesu verweist darauf, dass in dieser Erfahrung von Grenze und Abgründigkeit zugleich Vertrauen aufgebrochen ist, von dem er sich angenommen wissen darf. Der abschließende Verweis auf die anderen Jünger scheint darauf hin zu deuten, dass die Erfahrung des Simon eine exemplarische ist, also nicht nur für ihn allein gilt, sondern an ihm als eine alle Jünger, ja alle Menschen angehende verdeutlicht wurde. 16 Zuweilen wird hier das griechische „evpana,gage eivj to. ba,qoj“ eher geografisch übersetzt, Simon solle auf „die Mitte“ des Sees hinaus fahren. In einem symbolischen Sinne kann auch dies durchaus den Sinn dieser Anweisung einholen, geht es doch um die Erfahrung einer zuvor offensichtlich nicht oder nicht voll ausgeloteten Lebens-Mitte. 288 3 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ Duccio als Theologe Das bisherige Vorgehen muss natürlich insofern zu einem Abschluss gebracht werden, als die Beobachtungen zu den Perikopen von Mk und Lk wieder zurückgebunden werden an das Bild von Duccio. Dazu folgen wiederum lediglich einige Hinweise zur sachlichen Aufbereitung als Voraussetzung für die hier nur angedeutete didaktische Umsetzung in konkrete unterrichtliche Aufgabenstellungen. Zunächst liegt es nahe, erneut die Frage zu stellen, welche der beiden Perikopen Duccio in sein Bild aufgenommen hat, nun aber mit der konkreteren Perspektive, auf welche Elemente er wo in durch welche Gestaltung Bezug nimmt. Dazu ist es nützlich, die oben in Punkt 1.3 zur ikonologischen Erschließung formulierten Fragen zu Personen, Gegenständen, Räumen, Farben, Bildgestaltung wieder aufzunehmen und nun genauer zu prüfen, wie er damit die biblischen Vorlagen kommentiert und zu einer eigenen Geschichte ausformuliert. Am ehesten wird nun ins Auge fallen das Verhalten des Simon. Natürlich wird hier die Geschichte des Lukas zitiert, doch mit einer ganz eigenen Sinngebung: Interessant scheint mir vor allem die Gesamtbewegung des Simon zu sein. Simon löst sich ja ganz offensichtlich schon von seinem alltäglichen Geschäft, das Netz wird von der Linken kaum noch gehalten, fast scheint es ihm schon zu entgleiten, nicht weil er es nicht mehr halten könnte, sondern weil die Bewegung bereits in eine andere Richtung geht. So ist das rechte Bein nicht nur unbelastet, sondern scheint bereits in einer Vorwärtsbewegung auf die Spitze des Bootes bzw. aus dem Boot heraus begriffen. Jedenfalls verlagert der Oberkörper gerade den Schwerpunkt vor die Beine. Der rechte Arm machte dann fast eine Abstoßbewegung. Und die Geste mit der Rechten ist wohl nur auf den ersten Blick eine abwehrende. Kaum vorstellbar ist es, dass der hier abgebildete Mann sagen würde: Geh weg von mir. Zu offen ist die Hand dem Anspruch, dem er sich ausgeliefert sieht, zugewandt, und auch die Augen blicken gerade, offen und interessiert auf den ihn ansprechenden Jesus. Simon scheint vielmehr zu sagen: Ja, hier bin ich, ich bin bereit und komme. Das „hinaus in die Tiefe“ hat hier schon stattgefunden, denn dieser Simon hat seine Mitte gefunden und steht jetzt vor der Herausforderung zu einem „selbstbewusst mitten ins Leben hinein“. Duccio würde seine Geschichte somit jenseits des biblischen Berufungsereignisses ansiedeln, die Geschichte also weitererzählen unter der Perspektive: Die, denen solche Berufung geschah, wie reagierten sie, und was zeigen sie uns dadurch? 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ 289 In dieser Perspektive gewinnt auch Andreas eine ganz eigene Faszination. Sehr viel stärker ist er gewiss noch gebunden an seine Tätigkeit als Fischer. Und doch ist das Geschehen auch an ihm nicht spurlos vorübergegangen. Die Hände halten das Netz so sicher auch nicht mehr, denn die Konzentration dieses Mannes sagt etwas anderes: Was soll ich damit anfangen, was hier gerade geschieht? Das fragende Gesicht, ins Bild gebracht durch die zur Nasenwurzel hin konzentrierten Augenbrauen und die eher zugespitzte Mund- und Kinnpartie, die unklar gegenläufige Bewegung des Oberkörpers, der Arme, des Beckens, der Beine nach rechts oder nach links dokumentieren eine intensive Auseinandersetzung. „Sofort“ jedenfalls lässt dieser Mann keineswegs alles stehen und liegen. Er ist vielmehr wie auch Simon in eine ihn elementar erschütternde Erfahrung geraten und muss sich ihr nun stellen. Das zeitliche „sofort“ wird von Duccio somit in ein qualitatives „sofort“ umgedeutet. Und wie bei Simon bleibt auch dieses Geschehen nicht allein bei Andreas, sondern zieht auch die Betrachter in eine Beschäftigung mit sich selbst hinein. Im Blick auf das markinische „und gleich“ bzw. „sofort“ wird auch ein weiterer Blickfang des Bildes interessant, jene Stelle zwischen Boot und Felsufer. Hier geht es, das mag dieses Detail ausdrücken, nicht um dies oder das, sondern um etwas elementar Herausforderndes. Hier sind wir „sofort“, unmittelbar, mit Herz und Seele, vor allem aber entscheidend gefragt sowie herausgefordert. So scheint Duccio das „sofort“ der Synoptiker für sich und für uns als Betrachter zu deuten und zu übersetzen. Und Jesus? Wie eigentümlich „blass“ wirkt er plötzlich! Natürlich ist er in stärkeren Farben gemalt, auch größer, seine Bedeutung wird somit von Duccio keineswegs zurückgestellt. Doch seine weiche Einladungsgeste führt fast schon aus dem Bild heraus, so als sei er selber, seine Person nur als Mittler gemeint, nicht als Gegenstand der Herausforderung. In dieser Perspektive fällt uns plötzlich auch sein eigenartig nebliger Blick auf: So schaut keiner, der die anderen auf seine Person fixieren und einschwören will, sondern einer, der sich als „Gesandter“ einer Botschaft versteht: „Wer an mich glaubt, glaubt nicht an mich, sondern an den, der mich gesandt hat.“ (Jo 12,44). Duccio also als ein Vertreter johanneischer Theologie, die er in die Botschaft der Synoptiker einbaut? Warum nicht, denn wir sehen jetzt auch genauer, wie Jesus gar nicht mehr recht auf dem Felsen steht, sondern ihm zugleich schon schwebend enthoben ist. Diesen Jesus müssen die Jünger und müssen wir nicht mehr fragen, wohin wir gehen sollen, weil wir den Weg nicht zu kennen glauben (Jo 14, 5ff), denn durch ihn hindurch werden die beiden, Simon und Andreas auf das Werk Jesu verwiesen, dessen Erbe anzutreten ist (Jo 14, 11f; vgl. auch Röm 8,17). Ist dieser Jesus am Ufer also nicht vielmehr jener Jesus, der den Jüngern 290 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ als Auferstandener erscheint, und ihnen nun symbolisch als Auftrag für ihr eigenes Tun den großen Fischfang zukommen lässt (Jo 21)? Weiß also Duccio nicht nur um die Nähe zwischen Lk 5 und Jo 21, sondern versteht er die Jüngerberufung auch als Sendungsauftrag? Ist Duccio also ein außerordentlich intelligenter Theologe, der damit auch uns als Betrachter zu Theologen, erfahrenden Auslegern der biblischen Botschaft machen will? 4 Konsequenzen: Erfahrungsdimensionierte Erkundung von Religiosität Die letzten Überlegungen haben zunächst einmal unmittelbar in die oben im Teil 1 genannte aber dort ausgeblendete Ebene der rezeptionsästhetischen Einholung (1.4) hineingeführt. Mit den soeben skizzierten Hinweisen können die Schülerinnen und Schüler sich in die Akteure, insbesondere die beiden Jünger hineinversetzen lassen, etwa mit der Frage: Wo könnte mir so etwas zustoßen? Und wie wäre es, würde mir so etwas zustoßen? Der Grund für diese Möglichkeit liegt aber in dem rezeptionsästhetischen Verfahren, das bereits Duccio angewandt hat, hat er doch seinerseits die biblische Vorlage zu etwas umgestaltet, was in dieser Weise jedenfalls die Vorlage allein nicht hergibt. Dazu musste Duccio dreierlei leisten: 1.) hatte er sich genauestens in genaue Kenntnis zu setzen über die biblischen Vorlagen, einschließlich der zunächst nicht erwähnten johanneischen Perspektive. 2.) musste er sich auch mit der Frage des tieferen Sinns dieser Quellen auseinandersetzen, sie also einerseits als Verdichtungen eines sehr viel weiteren Geschehens verstehen, andererseits auch ihre Botschaft an den Leser herausfinden. Und dadurch wurde er schließlich 3.) dazu herausgefordert, den Sinngehalt auch auf sich selbst zu übertragen bzw. auf die möglichen Betrachter seines Bildes, die sich ja durch das Bild angesprochen fühlen sollten, nicht nur auf dem Bild etwas erkennen sollten. Im Einblick in dieses Verfahren gewinnen wiederum die biblischen Geschichten einen anderen Charakter. Auch die biblischen Schriftsteller haben sich exakt diese drei Fragen gestellt und nur aufgrund dieser komplexen Auseinandersetzung die Geschichten gerade so und nicht anders aufgeschrieben. Sie sind deshalb Theologen und keine Historiografen. Für uns schließlich, die wir uns in dieser Weise mit einem Bild und einigen biblischen Texten auseinandergesetzt haben, scheint mir durch dieses Vorgehen eben 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ 291 jene zuerst genannte Hypothese bestätigt zu sein, dass es nämlich gelingen kann, die äußere Bedeutung und den tieferen Sinngehalt einer Geschichte, hier eines biblischen Textes, in einem weiteren Sinne von religiösen Gegenständen überhaupt, zugleich, ja auseinander zu erschließen. Ja wir können noch einen Schritt weiter gehen und sagen, dass zur Aneignung von religiösen Gegenständen und religiösen Texten ein solches Vorgehen auch notwendig ist, weil wir ansonsten davon rein gar nicht verstehen würden.17 Ein solches Verfahren würde ich im Duktus der ganzen hier zur Diskussion stehenden Arbeit eine erfahrungsdimensionierte Erkundung von Religiosität nennen. 4 Zum Rahmen der schulischen Umsetzung 18 Vorbemerkung Der seit dem Schuljahr 1994/95 geltende Lehrplan für den Katholischen Religionsunterricht in Klasse 11 in Baden-Württemberg wurde zumindest anfangs in seinen Veränderungen im Vergleich zum Lehrplan von 1984 nicht recht zur Kenntnis genommen. Dabei spielte vor allem die Gewohnheit eine große Rolle, dass (zumindest scheinbar) nach wie vor die sog. Bibeleinheit im Zentrum der Klasse 11 steht, und bei der Wahl zwischen Religions- oder Sinnthema ersteres nunmehr als Pflichteinheit gegenüber letzterem als Wahl herausgehoben ist; nach dem alten Lehrplan konnte zwischen Sinn- und Religionsthema gewählt werden. Die Neuerungen sind gleichwohl nicht unerheblich, was bereits ein vergleichender Blick in die vorhandenen Unterrichtsmaterialien dokumentiert, die allesamt auf den neuen Lehrplan nicht mehr recht passen wollen. Schon um dem Abhilfe zu schaffen, soll die folgende Konzeption einen Beitrag leisten. Seine Pointe hat mein Vorschlag in der These einer wesentlich anderen Gestaltung der beiden Pflichteinheiten für Klasse 11. Mein konkretisierender Vorschlag ist es, die beiden Themen nicht als getrennte Einheiten je für sich durchzunehmen, sondern sie jeweils als unterschiedliche Aspekte zu einzelnen Themen zu verhandeln, aus 17 Zur genaueren Erläuterung dieser These in Bezug auf religiöse Texte vgl. die Ausführungen in den Kapiteln 2-2 und 4-3. 18 Die folgenden Ausführungen sind 1996 entstanden und beziehen sich auf den „Bildungsplan für das Gymnasium“ von 1994. Dieser Lehrplan ist zur Zeit der Abfassung dieser Arbeit noch gültig, und meine entsprechenden Einlassungen haben an Relevanz seitdem nicht verloren. Bis auf einige Anmerkungen habe ich daher die Ausführungen unverändert übernommen. Der Transparenz halber sind Verweise auf einzelne Punkte dieses Planes nachfolgend per Anmerkung kurz ausgeführt. 292 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ denen sich dann gleichsam bausteinartig fast die gesamte Klasse 11 zusammensetzt. Das wird, so behaupte ich, dem Sinn und Anspruch beider Themen, sowohl der Bibeleinheit, als auch der Religionseinheit, aber auch der Konzeption von Klasse 11 insgesamt gerechter und zwar ganz im Sinne der Lehrplanänderungen. Mein Vorschlag ist durch kurze Thesen in drei Teilen zu erläutern: In einem ersten Teil (I) werde ich kurz eine Begründung vorlegen für eine neue Konzeption, wie sie sich aus dem Lehrplan und der in der Bibeleinheit einerseits und der Religionseinheit andererseits zur Debatte stehenden Sache ergibt. Zweitens (II) werde ich eine Übersicht der unter dieser Perspektive anzubietenden Themen bzw. Bausteine vorlegen, jeweils mit einer kurzen Strukturskizze, die den unterschiedlichen Aspekt des Biblischen und des Religionsphilosophischen verdeutlicht. Schließlich wird in einem dritten Teil ( III ) kurz das oben ausführlicher vorgestellte Unterrichtsmodell „…hinaus in die Tiefe“ auf die Umsetzung dieser Konzeption hin kommentiert.19 ( I ) Zur Begründung 1. Die Pflichteinheiten für Klasse 11 sind zwar im Vergleich zum alten Lehrplan von 1984 im wesentlichen geblieben, doch haben sich die Gesichtspunkte ihrer Behandlung verändert. Der neue LP kann insofern als eine konsequente Fortschreibung des alten (d.h. Verbesserung angesichts heutiger Unterrichtserfahrungen in Konsequenz des Grundansatzes) angesehen werden, als er a) das Korrelationsprinzip konsistenter in den Aufbau der einzelnen Themen einzubinden versteht, b) die Themen der Klasse 11 deutlicher als hermeneutische Grundlegung für den weiteren Oberstufenunterricht konzipiert, c) damit den Anforderungen eines Oberstufenunterrichts im Fach Religion heute besser gerecht wird. 19 In der ursprünglichen Fassung dieses Textes folgte als dritter Teil (III) die Ausführung zweier Textbausteine als konkrete Unterrichtsentwürfe. Der erste Entwurf war das nun in den Teilen 1, 2 und 3 des Kapitels vorgestellte Modell zur Jüngerberufung (s.u. in These 11 der Baustein 1 Jüngerberufungen: Religiosität als existenzerhellende Erfahrung), den zweiten Entwurf bildete der unten unter der Überschrift „Unterwegs: das Urmotiv für Religiosität“ Baustein 2 zu Abraham, der in seinen wesentlichen Elementen eingegangen ist in die im Kapitel 1-4 dokumentierte Skizze zu Sinnsuche und Abraham (Vgl. Petermann 2000b). 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ 293 2. Zur Begründung dieser These: In der Einheit 1 zur Bibel liegt der Akzent nun nicht mehr primär auf der Vermittlung von Sachwissen über die Bibel, sondern auf der Vermittlung der Bibel als ein auch heute Menschen herausforderndes Dokument von Glaubenserfahrungen.20 Die Vermittlung von literaturwissenschaftlichem Sachwissen wird eingebunden in den Aufweis des persönlichen, erfahrungsbezogenen, lebensverändernden Anspruchs biblischer Botschaft als Schlüssel zum Verständnis seiner Entstehung wie als Zugang zur Auseinandersetzung heute. Durch diese Konzeption wird der eigentliche Sinn des didaktischen Korrelationsprinzips auch inhaltlich transparenter: Es geht nicht um einen bloßen Bezug der anthropologischen und theologischen Dimensionen aufeinander, sondern um die Lesart theologischer Inhalte unter einem anthropologische Grundfragen klärenden Gesichtspunkt und umgekehrt die Thematisierung anthropologischer Fragen in ihrer theologischen Tiefendimension. 3. Die Bibeleinheit ist mit dieser Akzentverschiebung zugleich darauf angelegt, einerseits auch das Sinnthema21 in wesentlichen Fragestellungen mit abzudecken (insofern nämlich unter dem Aspekt sinnerschließender Lebens- und Glaubenserfahrungen biblische Themen anzusprechen sind) und andererseits zentrale Fragen der Religionseinheit22 zur Sprache zu bringen (insofern in der existentiellen Bibelauslegung notwendig die urreligiöse Frage des Ergriffenseins vom Unbedingten mit angesprochen wird.). Konsequenterweise strafft der neue LP daher die beiden anderen alten Pflichtthemen: Die Einheit "Religion" thematisiert aus dem alten LP nur noch die Grundfrage nach dem Religiösen, ergänzt dies aber durch die erfahrungsbezogene und zugleich wissensorientierte Auseinandersetzung mit zwei Grundtypen von Weltreligionen (Islam und Buddhismus, zu erschließen anhand der Personen Buddhas und Mohammend). Die "Sinn"- Einheit bietet als Wahleinheit die Möglichkeit, auf Sinnfragen bezogene Schwerpunkte in der Bibel- oder Religionseinheit zu setzen oder beide Einheiten durch andere diesbezügliche Aspekte zu ergänzen. 20 Der Bildungsplan 1994 nennt die Einheit darum konsequent auch „Die Bibel, eine Herausforderung“, im alten Lehrplan von 1984 hieß sie „Einführung in den sachgemäßen Umgang mit der Bibel“. 21 Es handelt sich um die Einheit „Auf der Suche nach Glück und Sinn“, nunmehr (1994) eine Wahleinheit. Der frühere Titel „Die Sinnfrage als Zugang zur religiösen Frage“ (1984) hatte diese Einheit sehr viel stärker an die Religionsthematik angebunden. 22 Sie heißt 1994 „Religion der Völker“ und bildet neben der Bibeleinheit die zweite Pflichteinheit. Im früheren Lehrplan 1984 war neben der Bibeleinheit pflichtgemäß entweder die Sinneinheit oder die als „Religion – Illusion oder Wirklichkeit“ benannte zu verhandeln. 294 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ 4. Die Straffung insbesondere der Religions- wie der Sinneinheit sowie die Konzentration der Bibeleinheit auf existentielle Fragestellungen hilft, den Unterricht in Klasse 11 konsequenter als hermeneutische Grundlage für die Klassen 12 und 13 zu konzipieren, ohne Gefahr zu laufen, wesentliche Inhalte aus späteren Themenstellungen bereits vorweggenommen zu haben.23 5. Der Unterricht in Klasse 11 zeigt sich in dieser Konzeption klarer im Profil eines Oberstufenunterrichts: Die reflektierende Auseinandersetzung mit religiösen Themen hebt den Unterricht deutlich ab vom eher emotional auf Persönlichkeitsfindung hin orientierten und orientierenden Charakter der Mittelstufe. Das ist nicht neu am neuen LP. Entscheidend ist die Akzentverschiebung, was die Elemente der Reflexion angeht: Wurde am alten LP die Gefahr kritisiert, in der Oberstufe tendenziell Themenstellungen aus dem Studium im Unterricht vorwegzunehmen, so gelingt es dem neuen LP sehr viel besser, durch Betonung hermeneutischer Grundlagenfragen Wege zu einem möglichen Studium (nicht nur der Theologie) zu bahnen (und nicht einen wissenschaftlichen Grundkurs vorwegzunehmen), ohne dabei auf die Vermittlung zentraler wissenschaftlicher Fragestellungen zu verzichten. ( II ) Vorschlag zur eigenverantwortlichen Gestaltung des neuen Lehrplans 6. Der neue LP verbietet von vorneherein ein sklavisches Vorgehen Punkt für Punkt: So werden etwa die Inhalte 1.1. („Ausdrucksformen von Religion“), 1.3. („Umschreibung des Begriffs Religion“), 1.4. („Funktionen von Religion in der Gesellschaft“) im Religionsthema sich nicht ohne Probleme losgelöst voneinander behandeln lassen; möglicherweise können sie sogar innerhalb der Thematisierung etwa des Islam oder auch innerhalb eines Punktes der Bibeleinheit (aus 2.1 („AT“) oder 2.2 („NT“)) verhandelt werden. - Oder: Die Bibeleinheit legt es nahe, wesentliche Teile aus 3 („Existentielle Auslegung biblischer Texte“) in 2.1. und 2.2 zur Sprache zu bringen bzw. umgekehrt. Die Zielsetzung von 224 gebietet es weiterhin geradezu, die Punkt 2.3. und 2.4.25 nicht (zumindest nicht allein) gesondert zu verhandeln, sondern insinuiert ihre Behandlung innerhalb der Thematisierung von 2.1.und 2.2. (AT bzw. NT) - Kurz: Der neue LP fordert noch stärker als der alte die Lehrer zu einem eigenständigen Verlaufsplan heraus, der die wesentlichen Inhalte in 23 Für die in Baden-Württemberg jetzt avisierte allgemeine Einführung des 12-jährigen Gymnasiums wird eine solche Anlage sich als noch wichtiger erweisen. 24 „Erfahrungen werden in unterschiedlichen Sprachformen festgehalten, die zu erschließen sind.“ 25 „Die Bibel, eine Sammlung literarischer Gattungen und Textsorten, Sitz im Leben“ sowie: „Beziehung zwischen Form und Inhalt, Texterschließung“. 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ 295 einer je eigenen und doch das allgemeine Ziel der Klasse 11 einholenden Konzeption zu verzahnen versteht. 7. Die Freiheit der Lehrkräfte bei der Konzeption wird vor allem in der Auswahl der Medien sichtbar (sei es nun der biblischen Perikopen, philosophischer und theologischer Texte, ergänzender Bilder oder von Dokumenten persönlicher Lebenserfahrungen), mit denen einzelne Inhalte erschlossen werden sollen. Die folgenden Thesen wollen daher einige allgemeine sowie einen ganz konkreten Anstoß liefern für eine m.E. sinnvolle Konzeption in dieser Richtung. 8. Schon in den früheren Jahren hatte ich bei der Planung von Klasse 11 stets die für den jeweiligen Jahrgang anstehenden Abitur-Themen mit im Blick gehabt. Die Klasse 11 gewinnt so stärker den Status eines die Oberstufe erschließenden Jahrgangs und sollte daher sinnvollerweise möglichst auch von der gleichen Lehrerin oder Lehrer wie 12/13 unterrichtet werden. In Klasse 11 können dadurch gezielter: a) Vorwegnahmen wichtiger Texte in 12 und 13 vermieden werden bzw. b) auch gerade umgekehrt durch gezielte Fragestellungen Texte zweimal in sich ergänzender Weise erschlossen werden (z.B. eine Behandlung von Gen 1ff bei den sog. „Sternchen“(*)-Themen "Glauben und Wissen" oder "Anthropologie"); c) hermeneutisch Grundfragen der jeweils kommenden *-Themen erarbeitet werden (was sich etwa bei der Kombination "Jesus Christus" / "Theol. Anthropologie" besonders nahe legt, wenn die Frage: Was ist der Mensch im Lichte der christlichen Offenbarungsbotschaft? zum Leitthema für 11,12,13 erhoben wird), d) oder wieder gerade umgekehrt durch Themen, die in 12/13 nicht angesprochen werden, den Oberstufenunterricht mit Klasse 11 gerade zu ergänzen (so etwa bei gleichen *-Themen wie c) durch Konzentration auf Fragen aus dem Umkreis "Glauben-Wissen"). 9. Galt die These 8 als Ermunterung zu flexibler Gestaltung von Klasse 11, so hat die These 9 das umgekehrte Anliegen, in die Konzeption von Klasse 11 einen verallgemeinerungsfähigen roten Faden einzubringen. Hier scheint mir das Jahrgangsthema zu allgemein und darum ungriffig formuliert zu sein.26 Wenn man von den Inhalten her die Arbeit mit der Bibel als Buch einerseits und die 26 Es lautet offiziell: „Der reflektierte Umgang mit Traditionen, mit dem Phänomen Religion und mit der Bibel ermöglicht es dem jungen Erwachsenen, zu Überzeugungen zu gelangen, die er denkend und handelnd verantworten kann.“ 296 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ Auseinandersetzung mit der Frage nach Religion als unbedingter Frage von Menschsein für die unverzichtbaren Säulen der Klasse 11 ansieht, liegt es nahe, als Leitfrage für die Klasse 11 etwa eine Formulierung wie folgt zu finden: „anima naturaliter religiosa. Religiosität als lebendige Erfahrung erschließen“. Zielsetzung wäre es dabei, die Bibel als Buch geronnener Glaubenserfahrungen und Impuls zur eigenverantwortlichen Lebensgestaltung zu begreifen und zu reflektieren 10. Von dieser Konzeption her sehe ich es als Möglichkeit an, die Klasse 11 eher bausteinhaft aus verschieden akzentuierten Elementen zu konzipieren, die je für sich nach Möglichkeit beide oben angesprochenen Fragen berühren bzw. Grundlagen zu ihrer orientierenden Beantwortung schaffen. Sinnvoll erscheint es mir demnach, Elemente, die eher auf das Verständnis der Bibel ausgerichtet sind, in ihrer Konzeption klar auf die religiöse Grundfrage hin ("Was heißt bzw. wie äußert sich Religiosität?") zu konzipieren und umgekehrt zur Erschließung einer religionsphilosophischen Fragestellung auf biblische Beispiele, besser Paradigmata zurückzugreifen. Weitere Lehrplaninhalte (wie etwa "Methoden der Texterschließung" oder "Funktionen der Religion" sollten, so meine ich, in diese Grundkonzeption eingewoben werden. 11. Aus diesem Gedanken könnten sich beispielsweise folgende Bausteine ergeben, aus denen der Unterricht in Klasse 11 zusammenzusetzen wäre27: 1 Jüngerberufungen: Religiosität als existenzerhellende Erfahrung 28 - Duccio di Buoninsegna: Bildmeditation - synoptischer Vergleich der ntl. Berufungsgeschichten - Topos der Berufung: erste Bestimmung eines religiösen Menschen 2 Unterwegs: das Urmotiv für Religiosität - Der Mensch als Sinn-Wesen: unterwegs auf der Suche nach sich selbst [z.B. Schuberts "Winterreise": Reise als Folie der Sinnfrage Bsp. einer persönlichen Biographie in Stationen] - Weg-Motive in der Bibel 29 - Abraham, Paradigma menschlichen Unterwegs-Seins 27 Alle der nachfolgend nur grob skizzierten Bausteine habe ich im Laufe der Jahre im Unterricht der Klasse 11 durchgeführt. Neben der Entfaltung des Bausteins 1 in den Teilen (1) und (2) dieses Kapitels finden sich Elemente einer Konkretisierung auch in anderen Kapiteln; dazu werden kurze Verweise per Anmerkung gegeben. – Durch Verweiszeichen (→) werden einige offensichtliche Bezüge zu Themeninhalten hergestellt. 28 Dieses Element kommt in den ersten drei Teilen dieses Kapitels zur Ausführung. Unten folgt zudem eine Strukturskizze, die die Bezüge zu den jeweiligen Themen herstellt. 29 Vgl. dazu meine Ausführungen im Abschnitt 1 des Kapitels 1-4, die wesentlich auf diese unterrichtlichen Erfahrungen zurückgehen. 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ 297 (a) Erschließung Gen 11,27-12,9 (u.U. auch weitere Stationen Gen 13 - 17,1-11 18,1-15 - 18,16-33 - 22 (b) Einführung "Bibel verstehen": hermeneutische Schlüssel anhand der AbrahamGeschichte (c) A., Vater des Glaubens: Paradigma menschlichen Unterwegsseins - Schlüssel des jüdisch-christlich-islamischen Gottes- und Menschenverständnisses: Vater des Glaubens 3 Orte von Religiosität - Gewissen/Herz: bibl. Hintergrund - Kirche - Religionsunterricht - Theologie (Übersicht der theologischen Disziplinen) 30 - religionswissenschaftliche Vergleiche: Religionen → Islam / Buddhismus 4 Identität: Ichwerdung - Mensch als fragendes Wesen - Ich-Erlebnisse - Stufen/Ebenen der Identität [ Individuum / Selbst / Subjekt / Person] - Heteronomie / Autonomie / Theonomie 5 Jona: auf der Suche nach sich selbst im Angesicht Gottes - Topos der Lehrerzählung (→ Gattungen ; Einteilung d. Bibel; → Lektüre e. Ganzschrift) 31 - Bilder in Jona / Bilderbücher zu Jona - existentielle Interpretation des Buchs 6 Camus: Menschwerdung ohne Gott - Mythos von Sisyphos - antike Götterwelt (→ Erscheinungsformen/Funktionen von Religion) - S's Taten - S's Strafen - Camus' Interpretation - autonome (Camus) vs. theonome (Jona) Selbsterfahrung - Absurdität und Gottesnähe: Kohelet 8 Offenbarung von Menschsein in Niedrigkeit: Weihnachten - Weihnachts-Topoi [→ Gattungen, Entstehung NT,] - bibl. Hintergründe [ synopt. Vgl. theol. Anspruch der jeweilg. Weihnachtsevangelien] - Brueghels Weihnachtsbilder: Weihnachten als "Bild" der Erschließung histor./existenz. Situationen - Weihnachten heute ? 9 Brueghels Menschenbilder (Jahreszeitenbilder): - (vgl. Zink-Reihe: Christliche Kunst: Bd. "Menschenbilder"): Jahreszeiten als Horizonte der Erschließung menschlicher Existenz; → Religion als Horizont der Erschließung menschlicher Existenz (→ Funktionen d. Religion) 30 Damit wäre, personal orientiert, das Element „2.2 Grundtypen von Weltreligionen“ der Religionseinheit eingelöst. 31 Eines dieser Bilderbücher wird ausführlicher erschlossen im Zusammenhang des Kapitels 4-1. 298 10 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ Bibel: Ur-Kunde vom Glauben - Literarkritik: Bibel im historischen Aufriss [z.B. i. Anschluss an Tobit] - Bibel und Wahrheit [z.B. i. Abschluss an Auferstehungsthema] 32 - Lessing [vgl. D; religionsphilosophische Frage nach Religion] - Geschichte Israels - bibl. Glauben als geschichtlicher [z.B. im Anschluss an Abraham] - Dimensionen des Zugangs zur Bibel - Kanonizität - hermeneutische Interpretations-Kriterien: *Textkritik - Literarkritik - Formkritik *Ebenen der Texterschließung: historische Ebene - Verdichtungen - Symbolik existentieller An-Spruch (Botschaft) *Ansätze der Bibelauslegung: wissenschaftlich - Bibel teilen/meditieren gesellschaftspolit./soziolog./psychol. - therapeutisch/existenziell *"Wahrheit" der Bibel: [z.B. anhand Gen 1/2: -->Pentateuch-Genese] 11 Der leidende Mensch: Passion und Auferstehung - Passion: Problem des Bösen / Leibniz / Passion als religiöse Erfahrung / Jesu Passion im religionsgeschichtlichen Kontext - Auferstehung als Erfahrung (Lk 24 und Jo 21 als Paradigmen), - NT-Genese: Ereignis der Auferstehung als Initial der christlichen Bewegung 12 Gottessuche durch Leiderfahrung: Ijob - Lektüre des Buchs (u.U. in Ausschnitten; → Lektüre einer Ganzschrift) - Strukturierung und Entwicklung der Frage nach Gott bei Jiob (Verzweiflung – Anklage – Gottessuche – Selbstsuche) - Vergleiche mit modernen Dokumenten zur Theodizee (z.B. Dostojewski od. Wiesel) 14 Tobit: Heilung und Heil - Tobit im atl.Kanon - Tobit als Buch jüdischer Identität (→ Lektüre einer Ganzschrift / → Glaubenserfahrungen - Heilungsinterpretation - Religion und menschliche Psyche [ Freud vs.Jung - Drewermann - tiefenpsychologische Bibeldeutung ] 16 Markus: Erlösung aus Ängsten - Überblick Mk - Markus als Schriftsteller/Evangelist (→ Lektüre einer Ganzschrift) - Situationen von Angst / Sit. der Erlösung (Deutung der mark. Heilungsgeschichten auf - Strukturen von Heilung und Heil - Vgl. tiefenpsychologische Bibeldeutung) 18 33 Wer darf ich sein? - Was soll ich tun ? (Ethik-Kunde) 32 Hintergründe zu diesem Element werden im Kapitel 2-1 zur Sprache gebracht. 33 Einige Elemente dieses Bausteins finden sich wieder im Abschnitt 2 des Kapitels 4-4. 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ 299 ( III) Religiosität als Erfahrung des Gerufenseins - ein Beispiel zur Konkretisierung 12. Als Beispiel einer auf die religiöse Grundfrage hin konzipierten Bibeleinheit habe ich oben in den Teilen 1, 2 und 3 dieses Kapitels die neutestamentlichen Jüngerberufungen vorgestellt. Der nachfolgende Kommentar soll die entsprechenden Bezüge zu den Inhalten des Lehrplans wie den Entwurf als Beispiel einer Konkretisierung des eben skizzierten Gesamtkonzepts vorstellen: Diese Einheit ist zuzuordnen dem LP 1.2.2. („Neues Testament: Begegnungsgeschichten“) Innerhalb dieser Thematik werden jedoch weiterhin folgende Punkte ganz konkret mit erschlossen: 1.2.4. („hermeneutische Texterschließung“), 1.3. („existentielle Auslegung biblischer Texte“), 2.1.3. (Religion als „Ergriffensein vom Unbedingten“); angesprochen werden darüber hinaus allgemein die Punkte 1.1. und 2. („Die Bibel, eine Herausforderung“ sowie „Die Bibel, eine Sammlung von Glaubenserfahrungen“), 1.1.2. („Neuentdeckung eines alten Buches“), 1.3.3. („Existenzverändernde Kraft des Gotteswortes“), und hinsichtlich des Sinn-Themas 3.2.1. („Entwickeln der Erlebnisfähigkeit: Entdecken der Tiefendimension“), 3.2.2. („Befähigung zum Vertrauen“ und „Verwurzelung im Glauben“) und 3.3.3. („Bewältigung von Sinnkrisen im Glauben“). Die Verschränkung einer Reihe von Inhalten ist ein bewusst auch in Folgeeinheiten durchgeführtes Vorgehen. Die Intention ist dabei klar: Die Gefahr eines eher technisch-wissensmäßigen Zugang zu den einzelnen LP-Inhalten (z.B. verschiedene Ansätze zur Bibelauslegung schlicht zu "lernen") soll vermieden werden, hingegen die PL-Intention der Berücksichtigung sowohl formaler Inhalte (wie Textkritik) als auch existenzerhellender (wie Bibel-Teilen) wird nicht nur formal erfüllt, sondern auch integrativ eingelöst, insofern an einem Beispiel erläutert wird, dass "methodische Zugänge können helfen, Glaubenserfahrungen in der Bibel besser zu verstehen" (Zielangabe zu 1.1.2). Durch ihre innere Konsistenz ist die Einheit einerseits ein für sich abgeschlossenes Thema; andererseits werden öffnend bereits Inhalte aus anderen Themen bewusst mit angesprochen, da die Einheit vom Gesamtkonzept der Klasse 11 her aufgebaut ist. Schließlich können durch abschließende Fragen a) nach hermeneutischen Voraussetzungen zum Verstehen der Bibel, b) nach Elementen des biblischen Glaubensverständnisses und c) nach dem Verhältnis Religiosität - Existenz, genauer, was einen religiösen Menschen auszeichnet, grundlegende Kriterien der 300 4-2 „…hinaus in die Tiefe…“ Arbeit im Religionsunterricht der Klasse 11 erarbeitet werden, so dass sich die Einheit sehr gut als Einstieg in die Gesamtthematik von Klasse 11 eignet. Methodisch ist die Konzeption darauf angelegt, die Schüler gleich zu Beginn von Klasse 11 sowohl zu ermutigen, ins Detail zu gehen (und dafür ein Beispiel zu geben), und zugleich ihnen das Gespür zu vermitteln, durch Exemplarisches auch das Ganze in den Blick zu bekommen. Kapitel 4-3 „Meine Wege erzählte ich und du antwortetest mir … lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ Ein Unterrichtsvorschlag zum Thema „Religiöse Sprache“ 1 1 Ein Gebet als Unterrichtsgegenstand ? 1.a. Zur Begründung: Das oben als Motto des Kapitels angegebene Zitat ist entnommen dem biblischen Psalm 119.2 Die Erschließung eines Gebets scheint für einen exemplarischen Unterrichtsvorschlag zum Thema „religiöse Sprache“ auf den ersten Blick denkbar ungeeignet, scheint dies doch der Intention des Paulus zu widersprechen, wonach nicht das entrückte geisterfüllte Reden und Sprechen der Erschließung des Glaubens dient, sondern nur das mit Verstand geäußerte (1 Kor 14).3 Beten aber ist wohl kein Akt der verstandesmäßigen Auseinandersetzung mit dem Glauben, sondern eine unmittelbare Äußerung von Glauben. Man findet sich hier vielleicht schon jenseits der Grenze wieder, die zu übertreten nur aus der Binnenperspektive des Glaubens möglich ist. Denn ein Gebet zu sprechen, das kann doch nur dem Glaubenden möglich sein. Somit scheint sich das Gebet einer vernünftigen Erschließung zu entziehen. Und doch deutet Paulus selbst an, dass es durchaus möglich ist, auch mit dem Verstand zu beten (1 Kor 14, 15). Reizvoll erscheint es darum, vernünftige Zugangsweisen zu religiöser Sprache gerade an einem Gebet zu erschließen, nicht 1 Dieses Teilkapitel bietet eine um zusätzliche Kommentare und sachliche Ergänzungen erheblich erweiterte Fassung des Teils 2 meines Beitrags: H. B. Petermann: „Wer Ohren hat zu hören, der höre!“ - Religiöse Sprache verstehen; in: E. Martens & Ph. Thomas (Hg.): Praxishandbuch Philosophie. Bd. 4: Religionsphilosophie. München: bsv 2002. Teile dieser Ausführung werden eingehen in den von mir gemeinsam mit Philipp Thomas erarbeiten Band zur Religionsphilosophie in der ebenfalls im bsv-Verlag erscheinenden Reihe „Philosophieren können“ (erscheint voraussichtlich Anfang 2003). 2 Psalm 119, 26 in der „Verdeutschung“ von Martin Buber. Heidelberg: Lambert Schneider 91982. 3 Die Ausführungen des Paulus in 1 Kor 14 bilden das Eingangszitat zum Kapitel 2-2, dem der erste Teil des Beitrags zugrunde liegt, dessen zweiter Teil hier fortgesetzt wird. Das Zitat wird dort genauer erläutert. 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ 303 zuletzt um die möglicherweise gerade hier am tiefsten liegenden Vorurteile gegen eine Auseinandersetzung mit Religion überhaupt und religiöse Sprache insbesondere aufzubrechen. Sieht man auf die Tradition der großen und philosophisch gebildeten wie einflussreichen Theologen, so erhält diese Möglichkeit sachlich Unterstützung und Nahrung: "Groß bist du, o Herr, und hoch zu preisen, groß ist deine Kraft und unermesslich deine Weisheit"; mit diesem Zitat aus dem Psalm 147 beginnt etwa Augustinus seine berühmten Confessiones.4 Das Buch schließt auch mit einem Gebet, so dass das Gebet dem gesamten Text nicht nur den Rahmen, sondern auch seine Form verleiht. Liegt da nicht der Gedanke nahe, das Gebet liefere für die differenzierten theologischen und philosophischen Reflexionen, die zweifelsohne das Herzstück dieses Buches bieten, nicht nur den Rahmen, in dem diese letztlich aufgehoben werden, sondern sei vielmehr auch die innere Form dieser Reflexion, gleichsam als ihre Möglichkeitsbedingung? Das Gebet zu Beginn und am Ende relativiert nämlich keineswegs die in es eingeschlossenen Reflexionen, sondern hat im Gegenteil den Sinn, auch wirklich mit allem Ernst in die Reflexion eintreten zu können. Augustinus überlegt daher in den dem Eingangszitat folgenden Sätzen weiter, zunächst einen scheinbaren Gegensatz aufmachend, ob es nun besser sei zu wissen und zu erkennen oder besser anzurufen und zu preisen, um diesen Gegensatz unmittelbar wieder aufzulösen durch die Einsicht "Doch wer wollte dich anrufen, ohne dich zu kennen?" Die rechte Form des betenden Anrufens ist mithin nichts weniger als Gotteserkenntnis, und die reflexive Erkenntnis erweist sich als wahre Form des Dankpreises gegenüber der Gnade dieser Einsicht. Der weitere Text der Confessiones lässt sich dann konsequent als intellektueller und reflexiver Weg dieser Selbstvergewisserung verstehen (s.u.). 1.b. Thema des Psalms 119 ist das geschriebene Wort, genauer die Gestaltwerdung von Sprache im geschriebenen Wort.5 Das wird unten genauer zu erläutern sein. Die 4 Vgl. dazu den Abschnitt 2.8. des vorliegenden Kapitels, in dem Eingangs- wie Abschlussgebet der Confessiones und die unmittelbar angeschlossenen bzw. vorausgehenden Reflexionen zum Gegenstand gemacht werden. 5 Auf eine genauere Exegese des Ps 119 kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht eingegangen werden. Daher sei per Fußnote nur kurz wichtige Literatur erwähnt: Natürlich findet sich in den gängigen AT-Kommentaren, sofern sie ein wenig detaillierter angelegt sind, meist auch ein Hinweis auf den Ps 119 als Tora-Psalm. Das gilt auch für die (nicht sehr verbreiteten) SpezialKommentare zum Buch der Psalmen. Auffallend ist jedoch, dass sich nur sehr wenige Arbeiten finden, die sich ausführlicher auch auf den Ps 119 spezialisieren. Einen umso höheren Stellenwert darf daher auch heute noch beanspruchen die Monografie von Alfons Deissler (1965), zumal es Deissler gelingt, genaue sprachliche Beobachtungen mit einleuchtenden und gut begründeten theologischen Deutungen zu verbinden. Zwei neuere Monografien (Soll 1991, Freedman 1999) hingegen sind zwar der sprachlichen Struktur noch detaillierter auf der Spur, was durchweg interessante und spannende Konsequenzen avisiert, sie scheinen dabei aber die theologische Botschaft des Psalms eher nur am Rande im Blick zu haben, glauben zumindest auskommen zu können ohne 304 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ Auseinandersetzung mit dem Text führt insofern notwendig zur Reflexion von Sprache, konkret etwa zur Frage der Spannung zwischen dem (bloß) geschriebenen gegenüber dem gesprochenen Wort, andererseits zum zeitlich für je neue Deutungen offenen Surplus des Geschriebenen gegenüber dem unmittelbar vergehenden Gesprochenen, weiterhin zur Dimension der Lebenserschließung durch Vergewisserung wie Perspektivenöffnung durch Sprache, und natürlich zum Problem des Gewordenseins von Sprache; zumindest am Horizont kann schließlich die Frage nach dem Sinn von Schrift als heiliger bzw. vom Wort als Wort Gottes angesprochen werden. 1.c. Ziele: Begründung und problemorientierter Themenzuschnitt legen es daher durchweg nahe, ein Gebet als Beispiel einer sinnvollen und vieldimensionalen Auseinandersetzung mit religiöser Sprache zu wählen. Daraus ergeben sich folgende Zielsetzungen: Gerade an Psalm 119 lassen sich paradigmatisch erschließen die ästhetische Dimension religiöser Texte die Eigenart der Wirklichkeitsmitteilung in religiösen Texten die Eigenart religiöser Sprache der Charakter des Gebets als besonderer Form religiöser Sprache die philosophische Dimension in religiösen Texten die Weiterverarbeitung religiöser Texte in theologischer Literatur. 1.d. Methoden werden im folgenden Vorschlag exemplarisch vorgeschlagen und andeutungsweise entfaltet. Vor eher diskursiven Wegen wird als Einstieg ein eher präsentativer Zugang6 gewählt (2.1.). 2.2. arbeitet auch für die Material-Erschließung eher erfahrungsorientiert. In 2.3. werden neben der diskursiven Form der Texterschließung auch Eigentätigkeiten der Schülerinnen und Schüler verlangt. Der Möglichkeit des Lehrervortrags wird in 2.4., 2.5. und 2.6. die Gruppenarbeit, auch als Arbeit in Stationen gegenübergestellt. 2.7. stellt hohe Anforderungen an Textarbeit oder arbeitet (im Alternativvorschlag) eher rezeptionsästhetisch bzw. dekonstruktiv. Das Anspruchsniveau ist bewusst variabel gewählt, so dass Elemente bereits ab Klasse 9, aber auch in der Sek II eingesetzt werden können. die theologisch m.E. notwendige Reflexion auf den Wert einer linguistische Analyse, so als wäre die Historismus-Gefahr historisch-kritischer Exegese nie eigentlich debattiert worden. Auch aus diesem Grunde meine ich es mir erlauben zu können, einige Beobachtungen zum Psalm 119 ohne ausführliche Erkundung der exegetischen Literatur zu machen. 6 Zur Erläuterung präsentativer Unterrichtsformen vgl. meine Ausführungen in der Einleitung, Abschnitt 2, sowie auch die Kapitel 4-1 und 4-3. 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ 2 305 Der Unterrichtsvorschlag In den folgenden Punkten werden einzelne Phasen des Unterrichtsmodells kurz skizziert, mit den notwendigen Erklärungen versehen und dazu mögliche Arbeitsvorschläge unterbreitet. 2.1. Als ersten Zugang wähle ich die Konfrontation mit der äußeren Form des Textes. Ein Zugang über das Hören kann sich in Unkundigkeit der hebräischen Sprache nur schwer einstellen. Mithilfe einer visuellen Übersicht ist jedoch ein erster bereits erschließender Zugang möglich. Am besten für diesen zunächst rein ästhetischen Zugang ist die Auseinandersetzung mit dem gesamten Psalm ohne Verszählung geeignet, wie er auf den beiden folgenden Seiten abgebildet ist.7 Ersatzweise wäre auch die folgende Kurzfassung möglich, in der die ersten beiden Buchstabengruppen a b vollständig, die folgenden acht g d h w z x j y mit ihrem Anfang zitiert sind; der Übersicht halber sind dabei die jeweils ersten Buchstaben hervorgehoben: `hw"hy> tr;AtB. ~ykilh. ho ; %r,d'-ymeymit. yrev.a; `WhWvr>d>yI ble-lk'B. wyt'do[e yrec.nO yrev.a; `^yt,xor>ao hj'yBia;w> hx'yfia' ^yd,QupiB. … `^r,b'D> xK;v.a, al{ [v'[]T;v.a, ^yt,QoxuB. … ^D,b.[;l. rb'D'-rkoz> `Wkl'h' wyk'r'd>Bi hl'w>[; Wl[]p'-al{ @a; `^r,b'd> hr'm.v.a,w> hy<x.a, ^D>b.[;-l[; lmoG> `daom. rmov.li ^yd,Qupi ht'yWIci hT'a; `^t,r'ATmi tAal'p.nI hj'yBia;w> yn:y[e-lG: `^yQ,xu rmov.li yk'r'd> WnKoyI yl;x]a; `^yt,wOc.mi yNIM,mi rTes.T;-la; #r,a'b' ykinOa' rGE `^yt,wOc.mi-lK'-la yjiyBih;B. vAbae-al{ za' `t[e-lk'b. ^yj,P'v.mi-la, hb'a]t;l. yvip.n: … `^q,d>ci yjeP.v.mi ydIm.l'B. bb'le rv,yOB. ^d>Aa hs'r>G" … t'yfi[' bAj `daom.-d[; ynIbez>[;T;-la; rmov.a, ^yQ,xu-ta, … … `^r,b'd>Ki rmov.li Axr>a'-ta, r[;N:-hK,z:y> hM,B; … rp'[l' , hq'bD . ' … ynIWf[' ^yd,y" `^yt,wOc.Mimi ynIGEv.T;-la; ^yTiv.r;d> yBili-lk'B. … `%l'-aj'x/a, al{ ![;m;l. ^t,r'm.ai yTin>p;c' yBiliB. … hw"hy> ynIreAh `^yQ,xu ynIdeM.l; hw"hy> hT'a; %WrB' 7 `^ypi-yjeP.v.mi lKo yTir>P;si yt;p'f.Bi … `!Ah-lK' l[;K. yTif.f; ^yt,wOd>[e %r,d,B. …^d,s'x] ynIauboywI … … hw"hy> yqil.x, Es folgen 84 weitere Verse mit den Buchstaben k l m n s [ p c q r f bzw.v bis zum letzten Buchstaben … ytiN"rI br;qT . Nur der Klarheit halber hier der Hinweis, dass der Text natürlich rechtsbündig beginnt, also auf Seite 307 rechts oben mit a und auf Seite 306 unten links endet mit t. 306 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ `!w<a'-lk' yBi-jl,v.T;-la;w> ^t,r'm.aiB. !keh' ym;['P. `^yd,WQPi hr'm.v.a,w> ~d'a' qv,[ome ynIdeP. `^yQ,xu-ta, ynIdeM.l;w> ^D,b.[;B. raeh' ^yn<P' `^t,r'At Wrm.v'-al{ l[; yn"y[e Wdr>y" ~yIm;-ygEl.P; `^yj,P'v.mi rv'y"w> hw"hy> hT'a; qyDIc; `daom. hn"Wma/w< ^yt,do[e qd,c, t'yWIci `yr'c' ^yr,b'd> Wxk.v'-yKi ytia'n>qi ynIt.t;M.ci `Hb'hea] ^D>b.[;w> daom. ^t.r'm.ai hp'Wrc. `yTix.k'v' al{ ^yd,QuPi hz<b.nIw> ykinOa' ry[ic' `tm,a/ ^t.r'Atw> ~l'A[l. qd,c, ^t.q'd>ci `y['vu[]v; ^yt,wOc.mi ynIWac'm. qAcm'W-rc; `hy<x.a,w> ynInEybih] ~l'A[l. ^yt,wOd>[e qd,c, `hr'Coa, ^yQ,xu hw"hy> ynInE[] ble-lk'b. ytiar'q' `^yt,do[e hr'm.v.a,w> ynI[eyviAh ^ytiar'q. `yTil.x'yI Î^r>b'd>liÐ ¿^yr,b'd>liÀ h['WEv;a]w" @v,N<b; yTim.D;qi `^t,r'm.aiB. x;yfil' tArmuv.a; yn:y[e WmD>qi `ynIYEx; ^j,P'v.miK. hw"hy> ^D,s.x;k. h['m.vi yliAq `Wqx'r' ^t.r'ATmi hM'zI yped>ro Wbr>q' `tm,a/ ^yt,wOc.mi-lk'w> hw"hy> hT'a; bArq' `~T'd>s;y> ~l'A[l. yKi ^yt,do[eme yTi[.d;y" ~d,q, `yTix.k'v' al{ ^t.r'At-yKi ynIceL.x;w> yyIn>['-haer> `ynIYEx; ^t.r'm.ail. ynIlea'g>W ybiyrI hb'yrI `Wvr'd' al{ ^yQ,xu-yKi h['Wvy> ~y[iv'r>me qAxr' `ynIYEx; ^yj,P'v.miK. hw"hy> ~yBir; ^ym,x]r; `ytiyjin" al{ ^yt,wOd>[eme yr'c'w> yp;d>ro ~yBir; `Wrm'v' al{ ^t.r'm.ai rv,a] hj'j'Aqt.a,w" ~ydIg>bo ytiyair' `ynIYEx; ^D>s.x;K. hw"hy> yTib.h'a' ^yd,WQpi-yKi haer> `^q,d>ci jP;v.mi-lK' ~l'A[l.W tm,a/ ^r>b'D>-varo `yBili dx;P' Î^r>b'D>miWÐ ¿^yr,b'D>miWÀ ~N"xi ynIWpd'r> ~yrIf' `br' ll'v' aceAmK. ^t,r'm.ai-l[; ykinOa' ff' `yTib.h'a' ^t.r'AT hb'[et;a]w: ytianEf' rq,v, `^q,d>ci yjeP.v.mi l[; ^yTil.L;hi ~AYB; [b;v, `lAvk.mi Aml'-!yaew> ^t,r'At ybeh]aol. br' ~Alv' `ytiyfi[' ^yt,wOc.miW hw"hy> ^t.['Wvyli yTir>B;fi `daom. ~beh]aow" ^yt,do[e yvip.n: hr'm.v' `^D,g>n< yk;r'D>-lk' yKi ^yt,do[ew> ^yd,WQpi yTir>m;v' `ynInEybih] ^r>b'd>Ki hw"hy> ^yn<p'l. ytiN"rI br;q.Ti `ynIleyCih; ^t.r'm.aiK. ^yn<p'l. ytiN"xiT. aAbT' `^yQ,xu ynIdeM.l;t. yKi hL'hiT. yt;p'f. hn"[.B;T; `qd,C, ^yt,wOc.mi-lk' yKi ^t,r'm.ai ynIAvl. ![;T; `yTir>x'b' ^yd,WQpi yKi ynIrez>['l. ^d>y"-yhiT. `y['vu[]v; ^t.r'Atw> hw"hy> ^t.['Wvyli yTib.a;T' `ynIruz>[]y: ^j,P'v.miW &'l,l.h;t.W yvip.n:-yxiT. `yTix.k'v' al{ ^yt,wOc.mi yKi ^D,b.[; vQeB; dbeao hf,K. ytiy[iT' `~yIm'V'B; bC'nI ^r>b'D> hw"hy> ~l'A[l. `dmo[]T;w: #r,a, T'n>n:AK ^t,n"Wma/ rdow" rdol. `^yd,b'[] lKoh; yKi ~AYh; Wdm.[' ^yj,P'v.mil. `yyIn>['b. yTid>b;a' za' y['vu[]v; ^t.r'At yleWl `ynIt'yYIxi~b' yKi ^yd,WQPi xK;v.a,-al{ ~l'A[l. `yTiv.r'd' ^yd,WQpi yKi ynI[eyviAh ynIa]-^l. `!n"ABt.a, ^yt,do[e ynIdeB.a;l. ~y[iv'r> WWqi yli `daom. ^t.w"c.mi hb'x'r> #qe ytiyair' hl'k.Ti lk'l. `ytix'yfi ayhi ~AYh;-lK' ^t,r'At yTib.h;a'-hm' `yli-ayhi~l'A[l. yKi ^t,wOc.mi ynImeK.x;T. yb;y>aome `yli hx'yfi^yt,wOd>[e yKi yTil.K;f.hi yd;M.l;m.-lK'mi `yTir>c'n" ^yd,WQpi yKi !n"ABt.a, ~ynIqeZ>mi `^r,b'D> rmov.a, ![;m;l. yl'g>r; ytialiK' [r' xr;ao-lK'mi `ynIt'reAh hT'a;-yKi yTir>s'-al{ ^yj,P'v.Mimi `ypil. vb;D>mi ^t,r'm.ai yKixil. Wcl.m.NI-hm; `rq,v' xr;ao-lK' ytianEf' !Ke-l[; !n"ABt.a, ^yd,WQPimi `ytib'ytin>li rAaw> ^r,b'd> ylig>r;l.-rnE `^q,d>ci yjeP.v.mi rmov.li hm'YEq;a]w" yTi[.B;v.nI `^r,b'd>ki ynIYEx; hw"hy> daom.-d[; ytiynE[]n: `ynIdeM.l; ^yj,P'v.miW hw"hy> an"-hcer> yPi tAbd>nI `yTix.k'v' al{ ^t.r'Atw> dymit' yPik;b. yvip.n: `ytiy[it' al{ ^yd,WQPimiW yli xP; ~y[iv'r> Wnt.n" `hM'he yBili !Aff.-yKi ~l'A[l. ^yt,wOd>[e yTil.x;n" `bq,[e ~l'A[l. ^yQ,xu tAf[]l; yBili ytiyjin" `yTib.h'a' ^t.r'Atw> ytianEf' ~ypi[]se `yTil.x'yI ^r>b'd>li hT'a' yNIgIm'W yrIt.si `yh'l{a/ twOc.mi hr'C.a,w> ~y[irem. yNIM,mi-WrWs `yrIb.Fimi ynIveybiT.-la;w> hy<x.a,w> ^t.r'm.aik. ynIkem.s' `dymit' ^yQ,xub. h['v.a,w> h['veW"aiw> ynIde['s. `~t'ymir>T; rq,v,-yKi ^yQ,xume ~ygIAv-lK' t'ylis' `^yt,do[e yTib.h;a' !kel' #r,a'-y[ev.rI-lk' T'B;v.hi ~ygIsi `ytiarey" ^yj,P'v.MimiW yrIf'b. ^D>x.P;mi rm;s' `yq'v.[ol. ynIxeyNIT;-lB; qd,c,w" jP'v.mi ytiyfi[' `~ydIzE ynIquv.[;y:-la; bAjl. ^D>b.[; bro[] `^q,d>ci tr;m.ail.W ^t,['Wvyli WlK' yn:y[e `ynIdeM.l; ^yQ,xuw> ^D,s.x;k. ^D>b.[;-~[i hfe[] `^yt,do[e h['d>aew> ynInEybih] ynIa'-^D>b.[; `^t,r'AT Wrpehe hw"hyl; tAf[]l; t[e `zP'miW bh'Z"mi ^yt,wOc.mi yTib.h;a' !Ke-l[; `ytianEf' rq,v, xr;ao-lK' yTir>V'yI lko ydeWQPi-lK' !Ke-l[; `yvip.n: ~t;r'c'n> !Ke-l[; ^yt,wOd>[e tAal'P. `~yyIt'P. !ybime ryaiy" ^yr,b'D> xt;Pe `yTib.a'y" ^yt,wOc.mil. yKi hp'a'v.a,w" yTir>[;p'-yPi `^m,v. ybeh]aol. jP'v.miK. ynINEx'w> yl;ae-hnEP. 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ 307 `hw"hy> tr;AtB. ~ykil.hoh; %r,d'-ymeymit. yrev.a; `yTiv.r'd' ^yd,Qupi yKi hb'x'r>b' hk'L.h;t.a,w> `WhWvr>d>yI ble-lk'B. wyt'do[e yrec.nO yrev.a; `vAbae al{w> ~ykil'm. dg<n< ^yt,do[eb. hr'B.d;a]w: `Wkl'h' wyk'r'd>Bi hl'w>[; Wl[]p'-al{ @a; `yTib.h'a' rv,a] ^yt,wOc.miB. [v;[]T;v.a,w> `daom. rmov.li ^yd,Qupi ht'yWIci hT'a; `^yQ,xub. hx'yfia'w> yTib.h'a' rv,a] ^yt,wOc.mi-la, yP;k;-aF'a,w> `^yQ,xu rmov.li yk'r'd> WnKoyI yl;x]a; `ynIT'l.x;yI rv,a] l[; ^D,b.[;l. rb'D'-rkoz> `^yt,wOc.mi-lK'-la yjiyBih;B. vAbae-al{ za' `ynIt.Y"xi ^t.r'm.ai yKi yyIn>['b. ytim'x'n< tazO `^q,d>ci yjeP.v.mi ydIm.l'B. bb'le rv,yOB. ^d>Aa `ytiyjin" al{ ^t.r'ATmi daom.-d[; ynIcuylih/ ~ydIzE `daom.-d[; ynIbez>[;T;-la; rmov.a, ^yQ,xu-ta, `~x'n<t.a,w" hw"hy> ~l'A[me ^yj,P'v.mi yTir>k;z" `^r,b'd>Ki rmov.li Axr>a'-ta, r[;N:-hK,z:y> hM,B; `^t,r'AT ybez>[o ~y[iv'r>me ynIt.z:x'a] hp'['l.z: `^yt,wOc.Mimi ynIGEv.T;-la; ^yTiv.r;d> yBili-lk'B. `yr'Wgm. tybeB. ^yQ,xu yli-Wyh' tArmiz> `%l'-aj'x/a, al{ ![;m;l. ^t,r'm.ai yTin>p;c' yBiliB. `^t,r'AT hr'm.v.a,w" hw"hy> ^m.vi hl'y>L;b; yTir>k;z" `^yQ,xu ynIdeM.l; hw"hy> hT'a; %WrB' `yTir>c'n" ^yd,Qupi yKi yLi-ht'y>h' tazO `^ypi-yjeP.v.mi lKo yTir>P;si yt;p'f.Bi `^yr,b'D> rmov.li yTir>m;a' hw"hy> yqil.x, `!Ah-lK' l[;K. yTif.f; ^yt,wOd>[e %r,d,B. `^t,r'm.aiK. ynINEx' ble-lk'b. ^yn<p' ytiyLixi `^yt,xor>ao hj'yBia;w> hx'yfia' ^yd,QupiB. `^yt,do[e-la, yl;g>r; hb'yvia'w" yk'r'd> yTib.V;xi `^r,b'D> xK;v.a, al{ [v'[]T;v.a, ^yt,QoxuB. `^yt,wOc.mi rmov.li yTih.m'h.m;t.hi al{w> yTiv.x; `^r,b'd> hr'm.v.a,w> hy<x.a, ^D>b.[;-l[; lmoG> `yTix.k'v' al{ ^t.r'AT ynIduW>[i~y[iv'r> yleb.x, `^t,r'ATmi tAal'p.nI hj'yBia;w> yn:y[e-lG: `^q,d>ci yjeP.v.mi l[; %l' tAdAhl. ~Wqa' hl'y>l;-tAcx] `^yt,wOc.mi yNIM,mi rTes.T;-la; #r,a'b' ykinOa' rGE `^yd,WQPi yrem.vol.W^Warey> rv,a]-lk'l. ynIa' rbex' `t[e-lk'b. ^yj,P'v.mi-la, hb'a]t;l. yvip.n: hs'r>G" `ynIdeM.l; ^yQ,xu #r,a'h' ha'l.m' hw"hy> ^D>s.x; `^yt,wOc.Mimi ~ygIVoh; ~yrIWra] ~ydIzE T'r>[;G" `^r,b'd>Ki hw"hy> ^D>b.[;-~[i t'yfi[' bAj `yTir>c'n" ^yt,do[e yKi zWbw" hP'r>x, yl;['me lG: `yTin>m'a/h, ^yt,wOc.mib. yKi ynIdeM.l; t[;d;w" ~[;j; bWj `^yQ,xuB. x;yfiy" ^D>b.[; WrB'd>nI yBi ~yrIf' Wbv.y" ~G `yTir>m'v' ^t.r'm.ai hT'[;w> ggEvo ynIa] hn<[/a, ~r,j, `ytic'[] yven>a; y['vu[]v; ^yt,do[e-~G: `^yQ,xu ynIdeM.l; byjimeW hT'a;-bAj `^r,b'd>Ki ynIYEx; yvip.n: rp'['l, hq'b.D' `^yd,WQPi rCoa/ ble-lk'B. ynIa] ~ydIzE rq,v, yl;[' Wlp.j' `^yQ,xu ynIdeM.l; ynInE[]T;w: yTir>P;si yk;r'D> `yTi[.v'[]vi ^t.r'AT ynIa] ~B'li bl,xeK; vp;j' `^yt,Aal.p.nIB. hx'yfia'w> ynInEybih] ^yd,WQPi-%r,D, `^yQ,xu dm;l.a, ![;m;l. ytiyNE[u-yki yli-bAj `^r,b'd>Ki ynImeY>q; hg"WTmi yvip.n: hp'l.D' `@s,k'w" bh'z" ypel.a;me^yPi-tr;At yli-bAj `ynINEx' ^t.r'Atw> yNIM,mi rseh' rq,v,-%r,D, `^yt,wOc.mi hd'm.l.a,w> ynInEybih] ynIWnn>Aky>w: ynIWf[' ^yd,y" `ytiyWIvi ^yj,P'v.mi yTir>x'b' hn"Wma/-%r,D, `yTil.x'yI ^r>b'd>li yKi Wxm'f.yIw> ynIWar>yI ^ya,rey> `ynIveybiT.-la; hw"hy> ^yt,wOd>[eb. yTiq.b;D' `ynIt'yNI[i hn"Wma/w< ^yj,P'v.mi qd,c,-yKi hw"hy> yTi[.d;y" `yBili byxir>t; yKi #Wra' ^yt,wOc.mi-%r,D, `^D,b.[;l. ^t.r'm.aiK. ynImex]n:l. ^D>s.x; an"-yhiy> `bq,[e hN"r,C.a,w> ^yQ,xu %r,D, hw"hy> ynIreAh `y['vu[]v; ^t.r'At-yKi hy<x.a,w> ^ym,x]r; ynIWaboy> `ble-lk'b. hN"r,m.v.a,w> ^t,r'At hr'C.a,w> ynInEybih] `^yd,WQpiB. x;yfia' ynIa] ynIWtW>[i rq,v,-yKi~ydIzE WvboyE `yTic.p'x' Ab-yKi ^yt,wOc.mi bytin>Bi ynIkeyrId>h; `^yt,do[e Îy[ed>yOw>Ð ¿W[d>y"w>À^ya,rey> yli WbWvy" `[c;B'-la, la;w> ^yt,wOd>[e-la, yBili-jh; `vAbae al{ ![;m;l. ^yQ,xuB. ~ymit' yBili-yhiy> `ynIYEx; ^k,r'd>Bi aw>v' tAar>me yn:y[e rbe[]h; `yTil.x'yI ^r>b'd>li yvip.n: ^t.['Wvt.li ht'l.K' `^t,a'r>yIl. rv,a] ^t,r'm.ai ^D>b.[;l. ~qeh' `ynImex]n:T. yt;m' rmoale ^t,r'm.ail. yn:y[e WlK' `~ybiAj ^yj,P'v.mi yKi yTir>gOy" rv,a] ytiP'r>x, rbe[]h; `yTix.k'v' al{ ^yQ,xu rAjyqiB. danOK. ytiyyIh'-yKi `ynIYEx; ^t.q'd>ciB. ^yd,Qupil. yTib.a;T' hNEhi `jP'v.mi yp;d>rob. hf,[]T; yt;m'^D,b.[;-ymey> hM'K; `^t,r'm.aiK. ^t.['WvT. hw"hy> ^d,s'x] ynIauboywI `^t,r'Atk. al{ rv,a] tAxyvi ~ydIzE yli-WrK' `^r,b'd>Bi yTix.j;b'-yKi rb'd' ypir>xo hn<[/a,w> `ynIrez>[' ynIWpd'r> rq,v, hn"Wma/ ^yt,wOc.mi-lK' `^yd,wQupi yTib.z:['-al{ ynIa]w: #r,a'b' ynIWLKi j[;m.Ki `yTil.x'yI ^j,P'v.mil. yKi daom.-d[; tm,a/-rb;d> yPimi lCeT;-la;w> `d[,w" ~l'A[l. dymit' ^t.r'At hr'm.v.a,w> `^yPi tWd[e hr'm.v.a,w> ynIYEx; ^D>s.x;K. 308 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ Zielsetzung dieses ersten Schritts ist es, über den rein ästhetischen Zugang (hier den bloßen visuellen Eindruck) ein Gefühl für die Wirkmächtigkeit des geschriebenen Wortes zu erlangen. Sprache gewinnt als geschriebene gegenüber der bloß gesprochenen einen höheren Grad von Eindringlichkeit und Orientierung. Im Judentum scheint dies derart wichtig zu sein, dass diesem Thema ein ganzes Lied-Gebet gewidmet ist. Im einzelnen ist dies über folgende Phasen erreichbar: Die unmittelbare Konfrontation mit der Textgestalt, wie abgebildet am besten ohne Verszählung am Rande, führt zur Frage nach einem der Anordnung der abgebildeten Zeichens zugrundeliegenden System. Die Optik dieses längsten Psalms der Bibel verdeutlicht eine sehr klare Ordnung: Die Druckansicht wird schnell zu der Vermutung führen, dass es sich hier um eine in Versform geschriebene Sprache handelt, die man von rechts nach links schreibt. Je 8 Verse beginnen, das sieht auch der Laie bald, mit dem jeweils gleichen Buchstaben. Die insgesamt 176 Verse sind somit in 22 Gruppen à 8 Versen aufgeteilt. Die Vermutung, dass es sich bei den 22 Gruppen um die 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets handelt, findet schnell ihre Bestätigung. Die Arbeit am Text wird konkretisiert durch die Aufgabe, die Verse durchzuzählen und ihnen eine durch das Schriftbild selbst offenkundige Ordnung zu geben. Das Ergebnis von 22 mal 8 Versen mit je gleichem Anfang wird zur Information über die Struktur der hebräischen Schrift mit 22 Buchstaben führen, die gereiht von rechts nach links zu lesen sind. Mit einer Tabelle aus einer hebräischen Sprachlehre lassen sich leicht die 22 Buchstaben auch benennen. Ergänzend kann auf die Bedeutung der 8-Zahl in der sehr viel später in der italienischen Lyrik gebräuchlichen Stanzenform verwiesen werden. In der jüdischen Zahlenmystik kommt der „8“ die Bedeutung vollendeter, ewiger Abgeschlossenheit zu. Schließlich kann als Übergang zum nächsten Schritt die Frage nach dem Sinn solcher Textgestalt aufgeworfen werden. Leicht werden dabei Hinweise sich ergeben, dass hier die Struktur von Sprache selbst zum Thema gemacht wird. Als fächerübergreifende Zusatzaufgabe lassen sich mithilfe einer hebräischen Sprachlehre relativ leicht Teile des Textes auch entziffern und versuchsweise lesen. 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ 309 2.2. Der folgende Schritt ergibt sich konsequent aus dem ersten: In einer zunehmend dianoetisch-wissenschaftlich bestimmten Gesellschaft erscheint es als teilweise auch kruder Anachronismus, wenn in Talmud-Schulen, vor allem aber in Koran-Schulen religiöser Text schlicht auswendig gelernt wird, scheinbar ohne Sinn und verständige Auseinandersetzung. Solche Rezitation religiöser Texte ist freilich in allen Religionen beheimatet. Zumindest in katholischen Kirchen (mehr noch natürlich in den Ostkirchen) kennt das Christentum die Litanei, in der formelhaft nach jedem Namen ein „ora pro nobis“ oder Ähnliches wiederholt wird. Aber auch andere Religionen wie der Lamaismus kennen sog. „Gebetsmühlen“. Auf solche religiösen Vollzüge ist in einem zweiten Schritt hinzuweisen. Am deutlichsten mag das gelingen durch Verweis auf die Schönheit als letztem Sinn-Kriterium für religiöse Texte, wie es der (traditionelle) Islam in der ritualisierten und hochartifiziellen Rezitation der Koran-Suren pflegt.8 Und die im gregorianischen Choral gesungenen Stundengebete erleben eine Renaissance nicht nur in der mönchischen Tradition, sondern gerade auch in kirchlich eher indifferenten oder gar ablehnenden Kreisen. Das Ziel dieses Schritts: Die Konfrontation mit der vielen Religionen eigenen ästhetischen Ritualisierung religiöser Texte verweist auf die existentielle Bedeutung, die das Sprechen religiöser Texte in den Religionen hat. – Gemeint ist damit: Was zunächst ästhetisch wirkt, also auf der Ebene sinnlicher Wahrnehmung, bleibt haften in eher affektiv-emotionaler Weise. Damit wird nicht die logische Auseinandersetzung angesprochen, sondern eine unsere Existenz tiefer in Anspruch nehmende Begegnung mit dem Religiösen. Folgende Möglichkeiten bieten sich zur Erarbeitung an: Eventuell bekannte Rezitations-Traditionen in den Religionen durch die Schülerinnen und Schüler nennen lassen. Beispiele ritualisierter Rezitation durch Tonträger dokumentieren.9 Kleine Informationen der Hintergründe können zur Einordnung helfen; so etwa die Erläuterung des Begriffs „Stundengebet“ in der christlichen Tradition. Auf diesem Hintergrund kann man sich in freiem Gespräch über den ästhetischen Zugang dem Sinn solcher Rezitationen nähern, etwa durch den Gedanken der im Gebetsrhythmus ritualisierten Zeit, der durch die Wiederholung sich vollziehenden Verinnerlichung, der durch die quasi 8 Exemplarisch sei dazu verwiesen auf das Buch von Navid Kermani: Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran. München: Beck 1999. Vgl. dazu den nachfolgend präsentierten Textauszug. 9 Für die Gregorianik gibt es eine vielfältige Auswahl. Für die Qur’an-Rezitation im Islam ist empfehlenswert die CD Nr.13150-2 bei Celestial Harmonies. Aufnahmen zu buddhistische SutrenRezitationen sind schwerer zu besorgen. 310 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ reflexionslose Gestaltung deutlichen Aktivierung der ästhetischen, auf sinnliche Erfahrung und Genuss angelegten Lebensäußerung etc. Bei Bedarf ist der Einsatz auch eines theoretisch-erläuternden Textes zu dieser Thematik möglich. Dazu eignen sich sehr gut die nachfolgend von mir zusammengestellten Auszüge aus Navid 10 Kermani: Gott ist schön (1999) . Kompakt lässt sich damit Kermanis keineswegs neue, aber eindrucksvoll neu herausgearbeitete These erschließen von der Schönheit des Koran als seiner eigentümlichen Botschaft. Im ersten Teil ist der ästhetische Charakter von Religionen überhaupt auf den Punkt gebracht, während die nachfolgenden Passagen den besonderen Charakter des Koran verdeutlichen: 10 Die nachfolgenden [ in Kopie ] vorgelegten Auszüge stammen aus den Seiten 9 und 12f. (für den ersten Abschnitt) sowie 19f., 25f., 69, 39, 114, 150. 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ 311 312 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ 313 Der Textauszug ließe sich z.B. durch folgende Fragen erschließen und bearbeiten: 1. Fassen Sie zusammen: Aufgrund welcher Elemente gilt der Koran als vor allem auch ästhetisch bedeutsames Dokument? 2. Diskutieren Sie, welche Konsequenzen Kermanis Deutung hat für die Beschäftigung oder auch einfach Rezitation des Koran a) für gläubige Muslime, b) für nicht glaubende Menschen. 3. Besorgen Sie sich ein Tondokument zur Rezitation des Koran. Prüfen Sie: Können Sie die von Kermanis an Sure 39:23 und dem Zitat von Abû Zahra veranschaulichten Aussagen nachvollziehen? 4. Überlegen Sie: Was bedeutet Kermanis These für jeden Versuch, sich mit den Inhalten des Koran auseinander zu setzen? 5. Suchen Sie nach Beispielen in anderen Religionen, wonach religiösen Texten eine ähnliche eher ästhetische Bedeutung zukommt. 2.3 Ein hervorragend geeigneter Text, der die ersten Eindrücke und Fragen nun auf ein theoretisches Gerüst stellt, ist Martin Bubers „Beilage“ zu seiner „Verdeutschung“ der Hebräischen Bibel. Zur Erarbeitung empfiehlt sich die folgende Zusammenfassung: 5 10 15 20 25 Ein Doppeltes hebt die Schrift, das sogenannte Alte Testament, von den großen Büchern der Weltreligionen ab. Das eine ist, dass Ereignis und Wort hier durchaus im Volk, in der Geschichte, in der Welt stehen. Was sich begibt, begibt sich nicht in einem ausgesparten Raum zwischen Gott und dem Einzelnen … Das Heilige dringt in die Geschichte ein, ohne sie zu entrechten. Und das andere ist, dass hier ein Gesetz spricht, das dem natürlichen Leben des Menschen gilt, … der triebhafte, der leidenschaftliche Mensch wird angenommen, wie er ist … Das Heilige dringt in die Natur ein, ohne sie zu vergewaltigen. Fasst man [die Schrift] als „religiöses Schrifttum“, … dann versagt es, und dann muss man sich ihm versagen. Fasst man es als Abdruck einer lebenumschließenden Wirklichkeit, dann fasst man es, und dann erfasst es einen. Der spezifisch heutige Mensch aber vermag dies kaum noch. Wenn er an der Schrift überhaupt noch „Interesse“ nimmt, dann eben ein „religiöses“ - zumeist nicht einmal das, sondern ein „religionsgeschichtliches“ oder ein 30 35 40 45 50 „kulturgeschichtliches“ oder ein „ästhetisches“ und dergleichen mehr, jedenfalls ein Interesse des abgelösten, in autonome Bereiche „aufgeteilten“ Geistes. Er stellt sich dem biblischen Wort nicht mehr, wie die früheren Geschlechter, um auf es zu hören, er konfrontiert sein Leben nicht mehr mit dem Wort … Dem „heutigen Menschen“ ist die Glaubenssicherheit nicht zugänglich und kann ihm nicht zugänglich gemacht werden … Aber die Glaubensaufgeschlossenheit ist ihm nicht versagt. Auch er kann sich, eben wenn er mit der Sache wahrhaft Ernst macht, diesem Buch auftun und sich von dessen Strahlen treffen lassen … Dazu muss er freilich die Schrift vornehmen, als kennte er sie noch nicht; als hätte er sie nicht in der Schule und seither im Schein „religiöser“ und „wissenschaftlicher“ Sicherheiten vorgesetzt bekommen … Er glaubt nichts von vornherein, er glaubt nichts von vornherein nicht. Er liest laut, was dasteht, er hört das Wort, das da spricht, und es kommt zu ihm, nichts ist präjudiziert, der Strom der Zeiten strömt, und dieses Menschen Heutigkeit wird selber zum auffangenden Gefäß. 314 55 60 65 70 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ Die Hebräische Bibel ist wesentlich durch die Sprache der Botschaft geprägt und gefügt … Wir lesen Psalmen, die uns nichts andres zu sagen scheinen als den Hilferuf des gepeinigten Menschen nach oben, aber wir brauchen nur recht hinzuhören, um zu erkennen, dass da nicht ein beliebiger Mensch, sondern einer redet, der unter der Offenbarung steht und auch noch aufschreiend sie bezeugt … Es hieße, die Art der Bibel gründlich verkennen, wenn man annähme, dass sie die Botschaft jeweils anheftete, wie schlechten Parabeln eine „Moral“ anhaftet; … alles in der Schrift ist echte Gesprochenheit, der gegenüber „Inhalt“ und „Form“ als die Ergebnisse einer Pseudoanalyse erscheinen; so kann denn auch die Botschaft, wo sie sich unmittelbar ausspricht, nicht zur Anmerkung oder zum Kommentar zusammenschrumpfen. Sie dringt ein in die Gestaltung, sie bestimmt die Gestalt mit … Die hebräischen Laute haben für einen Leser, der kein Hörer mehr ist, ihre Unmittelbarkeit eingebüßt, sie sind von der stimmlosen theo- 75 80 85 90 95 logisch-literarischen Beredsamkeit durchsetzt und werden durch sie genötigt … Dies erkennen, heißt freilich dem Übersetzer eine grundsätzlich unerfüllbare Aufgabe zuweisen; denn das Besondere ist eben das Besondere und kann nicht „wiedergegeben“ werden, die Sinnlichkeiten der Sprachen sind verschieden, ihre Vorstellungen und ihre Weisen sie auszuspinnen, ihre Innervationen und ihre Bewegungen, ihre Leidenschaften und ihre Musik. Grundsätzlich kann denn auch Botschaft, in ihrer schicksalhaften Verschweißung von Sinn und Laut, nicht übertragen werden; sie kann es nur praktisch: annährend…; denn nicht in den „Quellen“, sondern hier ist in Wahrheit Bibel, das nämlich, was zu Zeugnissen und Urkunden hinzutritt: zeitenverschmelzender Glaube an Empfang und Übergabe, das Zusammensehen aller Wandlungen in der Ruhe des Wortes. Von diesem Wissen um lebendige Einheit ist das Verhältnis unsrer Übertragung zum Text bestimmt. Buber spricht auf diesen Seiten11 folgende Themen an: (a) den eigentümliche Inhalt der Schrift, (b) die mangelnde Aufgeschlossenheit des heutigen Menschen zum Verstehen der Schrift, (c) der existentielle Anspruch der Schrift, (d) die Sinnlichkeit der Sprache als Ausdruck für den Lebensbezug der Schrift, (e) die Schrift als unmittelbares Zeugnis, die nicht eine Moral hinter ihren Sätzen transportieren will. Alle Punkte sind für unseren Zusammenhang von entscheidender Bedeutung. Als heuristische Folie zur weiteren Erläuterung des Ps 119 lassen sich auf der Grundlage des Buber-Textes eine Reihe von Fragen formulieren, etwa: Nach Buber steht das biblische Wort mitten im „natürlichen Leben des Menschen"; wo kommt dies im Ps 119 zum Ausdruck? 11 Aus: Martin Buber: Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift. Beilage zum ersten Band von „Die Schrift“. Heidelberg: Lambert Schneider 1954, S. 3ff. 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ 315 Was fühle, erlebe ich, was möchte ich unmittelbar aussprechen, wenn ich, wie Buber es empfiehlt, ohne Vorkenntnisse zum Text, laut lese und höre, was dasteht, und versuche mich davon treffen zu lassen? Prüfen wir: Macht es einen Unterschied, eine bestimmte Textpassage laut zu lesen / zu rezitieren und einfach zu hören oder in nach Verständnis strebender Form sie zu lesen? Kann ich den Unterschied beschreiben? Buber schreibt, die Bibel wolle wesentlich eine Botschaft bezeugen ohne damit eine Moral zu vermitteln. Welche Botschaft, sei es von der Lage eines Menschen, der dies verfasst hat, oder sei es für mich, weil ich mich angesprochen fühle, vermittelt mir das unmittelbare Hören einer Textpassage? Entsprechende Aufgabenstellung können die Schülerinnen und Schüler durchaus selbst nach der Lektüre des Buber-Textes für sich oder die Klasse erstellen, etwa durch die Anweisung: Was halten Sie nach Lektüre des Textes für wichtig, um es als Kriterium zur verständigen Lektüre eines Bibeltextes zu verwenden? Formulieren Sie entsprechende Prüffragen zur Erschließung eines biblischen Textes! 2.4. Zur Verständigung des speziellen Hintergrunds für Ps 119 als Tora-Psalm ist es sinnvoll, den Aufbau der jüdischen Bibel zu wiederholen bzw. zu erarbeiten. Wenigstens erforderlich ist es, die Bedeutung von „Tora“ (hrAt) zu verstehen. Dazu die wesentlichen Informationen: Mit dem Begriff Tora werden zunächst äußerlich die fünf Bücher Mose, der sog. Pentateuch (griech.: 5 Bücher) bezeichnet. Sie bilden den ersten und wichtigsten Teil der hebräischen Bibel. Mit den prophetischen Schriften (Nebiim) und den sog. übrigen Schriften (Ketubim) wird die Tora unter dem Kunstwort TeNaCh (für die Anfangsbuchstaben der drei Schrift-Gruppen) zum Kanon der Heiligen Schrift im Judentum zusammengefasst. Die Tora ist nicht nur die erste, sondern auch wichtigste Gruppe biblischer Schriften. Die Bedeutung der Tora für jüdisches Glaubensleben ist auch daran zu ermessen, dass die fünf Bücher im Rahmen des liturgischen Jahres im Gottesdienst der Synagoge vorgelesen werden. Der Grund: In ihnen sind nicht nur die zentralen Geschichten von der Genese des jüdischen Glaubens zusammengetragen, sondern auch die wichtigsten Anweisungen für jüdisches Glaubensleben, kulminierend in den Zehn Geboten. Im engeren Sinn bezeichnet die Tora daher auch die Zehn Gebote, in einem weiteren Sinn alle in der Bibel dokumentierte Gebote und Verbote Gottes. 316 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ Gleichwohl ist es nicht legitim, „Tora“ mit „Gesetz“ in der Konnotation unseres Sprachgebrauchs zu übersetzen. Vielmehr ist „Weisung“ oder „Belehrung“ gemeint. Das bedeutet, im Horizont einer um der Erwählung des Menschen willen rechtstranszendenten Weisung durch Gott sind hier in der Tora Leitlinien, Geländer, Hilfestellungen formuliert für konkrete Lebensführung. Diese Informationen können durch Lehrervortrag gegeben, aber auch durch entsprechende Textvorlagen selbst erschlossen werden.12 2.5. Als nächsten Schritt können die Schülerinnen und Schüler auf Grundlage der Schritte 2.3 und 2.4 den Psalm in der deutschen Übersetzung zur Hand nehmen und zu einer ersten inhaltlichen Auseinandersetzung kommen. Grundsätzlich ist dabei vorauszusetzen: Als Leben weisendes Wort wird im Psalm 119 TORA (hrAt) selbst zum Thema, die Schrift als biblisch kanonisiertes Wort Gottes. In der Tat ist dies zugleich theologische Form wie Inhalt des gesamten Psalms. Für die weitere Erschließung bieten sich folgende Fragestellungen an: herausarbeiten, mit welchen anderen Begriffen Tora und das Wort Gottes als Thema des Psalms umschrieben wird; versuchen, aus dieser Untersuchung eine Struktur herauszufinden, unter der der Psalm tatsächlich komponiert worden ist; schließlich zu einer Deutung dieses Vorgehens vorstoßen: Was hat den / die Schreiber veranlasst, den Text gerade so zu verfassen? Als Hintergrundsinformation mögen dazu folgende Hinweise genügen: • Neben dem Wort Tora finden sich sieben weitere Worte, die Subjekt oder Gegenstand des Textes sind; steht für Tora in der Regel Weisung, seltener Gesetz (Vulgata: lex), so finden sich daneben die Begriffe piqqudim (Befehle, Ordnungen, Bestimmungen, iustitiae), (e)dut (Zeugnis, testimonium), mispat (Rechte, Urteile, iudicia), miswah (Gebot, praeceptum), chokim (Gesetze, Satzungen, iustificationes), dâbâr (Wort, Logos, sermon), (i)mrah (Spruch, eloquium). Die Achtzahl der Schlüsselbegriffe steht in zumindest eigentümlicher Parallelität zur Achtzahl der Strophenverse. Genauere Auskunft dazu vermag die nachfolgende Tabelle zu geben: 12 Dafür bietet sich als bereits unterrichtlich aufbereitetes Material sehr gut an das Buch von A.Lohrbächer (Hg.): Was Christen vom Judentum lernen können. Modelle und Materialien für den Unterricht. Freiburg (Herder) 1994. 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ 317 318 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ Keineswegs verblüffend ist die Tatsache, dass manche Übersetzungen diese im hebräischen Text klar vorgegebene Struktur nicht zur Kenntnis nehmen und dass es so recht willkürlichen zu einer die einzelnen Worte je nach Zusammenhang oder auch Gefühl unterschiedlichen Übersetzung kommt.13 Die Tabelle verdeutlicht zudem, dass für die hier exemplarisch verwendeten deutschen Übersetzungen einzig Buber auch im Deutschen durchgängig zu acht verschiedenen Begriffen findet: • In jedem Vers (außer v.122) taucht mindestens einer dieser Begriffe auf. Die Reihung der Begriffe folgt keiner logischen Struktur, doch ist es eigentümlich, dass sich als Gesamtzahl der verwendeten Begriffe 177 ergibt, also quasi identisch mit der Zahl der Verse. Auch die Gesamtverteilung der 8 Schlüsselbegriffe ist relativ gleichmäßig: dâbâr, chokim, miswah kommen genau 22 mal vor, mit 19 mal am seltensten (i)mrah, tora (wohl mit Grund) am häufigsten, 25 mal, doch auch nicht extrem different.14 2.6. Eine inhaltliche Deutung dieser Strukturanalyse kann sicher nur exemplarisch erfolgen. Es bietet sich an, in Arbeitsgruppen vorzugehen, die sich einzelne Strophen vornehmen; besonders gut geeignet sind dafür die Strophen 4, 12, 13, 19, 22. Sie wären mit den oben in 2.3. mit Buber erarbeiteten heuristischen Fragen zu bearbeiten. Zuvor können aber auch folgende einfachere Erschließungsfragen gestellt werden: Welche Begriffe für das Wort Gottes spielen in dieser Versgruppe die zentrale Rolle? Ist daraus eine inhaltliche Akzentsetzung zu erkennen? In welcher Situation befindet sich der Sprecher des Psalms? Welche Rolle kommt demgegenüber dem Gotteswort zu, und wie gestaltet sich genauer das Verhältnis von Sprecher zu Gotteswort bzw. umgekehrt? Welche Konsequenzen, welche Folgen für die konkrete Lebensführung des Sprechers ergeben sich aus alledem? Exemplarisch seien diese Struktur sowie Möglichkeiten der Interpretation an der vierten Versgruppe (Dalet (d), vv.25-32) verdeutlicht, aus der auch das Motto für dieses Kapitel entnommen ist. In der eindrücklichen Übersetzung von Buber15 lauten die Verse: 13 Natürlich richtet sich diese Kritik gegen die in der Theologie recht weit verbreitete Kluft zwischen Exegetikern einerseits und Systematikern andererseits. Dabei finden sich Arbeiten, die ein sprachanalytisches Verfahren theologisch zu begründen verstehen, noch seltener als Arbeiten, die theologische Gedanken aus einer textgenauen Deutung der Schrift heraus entwickeln. Der Vorwurf klingt pauschalisierend, lässt sich aber, denke ich, durch viele Beispiele leicht belegen. 14 Zur genaueren Verteilung der Worte vgl. Freedman (1999), S.50ff. 15 Wie oben Anm. 2. 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ Meine Seele haftet am Staub, belebe mich gemäß deiner Rede! Meine Wege erzählte ich und du antwortetest mir. – lehre mich deine Gesetze, lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn, besinnen will ich deine Wunder. Vor Gram entsickert mir die Seele, erhalte mich gemäß deiner Rede! 319 Den Lügenweg rücke mir ab, vergönne mir deine Weisung! Den Weg der Treue habe ich gewählt, deine Rechtsgeheiße gehegt. An deinen Zeugnissen hafte ich – DU, beschäme mich nimmer! Ich laufe den Weg deiner Gebote, denn du weitest mein Herz. • Strukturell auffallend ist, dass in keinem Vers mehr als eines der genannten Schlüsselworte genannt ist. Das Wort „Rede“ kommt als einziges zweimal vor. Unter weiteren sinngebenden Worten fällt der fünfmalige Gebrauch des Wortes „Weg“ auf. • Der Beter findet sich völlig am Boden: Lügen, Beschämungen haben ihn in eine verzweifelte Lage gebracht, gegrämt und verzweifelt fühlt er sich innerlich dem Tode nahe. Ohne weitere inhaltliche Ausführungen der Hintergründe, doch in aller Intensität, diese existentiell verzweifelte Situation zum Ausdruck zu bringen, kommt diese Lage zur Sprache. – Sprachlos geworden ist der Beter mithin nicht, im Gegenteil: Er sieht zumindest die Möglichkeit, was ihm passiert ist und wie es ihm geht, zu erzählen (26!). Unsicherheit scheint jedoch darüber zu bestehen, wie konsequent der Weg der Lüge gemieden werden kann (29) und demgegenüber die Bemühung um Treue oder Wahrheit (30) Verlässlichkeit birgt. – Das Gebet bietet somit eine Folie, diese Situation nochmals zur Sprache zu bringen wie auch jedem Nachbeter die Möglichkeit zu eröffnen, diese Schilderung mit eigenen Erfahrungen zu füllen. • Dem Beter gegenüber steht das Wort Gottes. Es hat offensichtlich bereits in der Vergangenheit ein Kriterium geboten, sich gegen die Lüge zu wehren (30,31); die Orientierung an ihm bringt eine gewisse Sicherheit, auch bislang den verlässlichen Weg gegangen zu sein (30). Gleichwohl hat sich Verstehen dabei noch nicht eingestellt (27). Doch bietet das Wort Gottes die Möglichkeit dialogischer Auseinandersetzung (26), zunächst mit sich selbst zur Vergewisserung der eigenen Lage, dann zur Erfahrung neuer Möglichkeiten: Mit der direkten Ansprache Gottes selbst (31) wird ein Dialogpartner identifiziert. • Das verbürgt zunächst einmal, dass der Beter am Leben bleibt (25,28). Ein erster Schritt zur Befreiung mag die genaue Besinnung des Wortes Gottes sein (27), die zur Entdeckung je neuer Perspektiven wie ein Wunder führt. Nur die intensive Auseinandersetzung mit Tradition, Text und dem als lebendig machend erfahrenden Gott führt zum Verstehen. Zu dieser Besinnung, das scheint jetzt deutlich, gehört auch das immer wieder neu zur Sprache bringen dieser Erfahrungen: v.26 erscheint so in neuem Licht. Im Gehen dieses Weges der Besinnung, Auseinandersetzung und 320 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ Artikulation erfahre ich auch das mir entgegenstehende Wort nicht als etwas Fixes, sondern als Weg, der mir gewiesen wird (27,30,32). Erst dies erhält mich nicht nur am Leben, sondern weitet mich auch. • Wichtig scheint über diese interne Erschließung des Textes die strukturelle: Was passiert mit demjenigen, der diese Erfahrung bewusst und intensiv nachlebt, indem er dieses Gebet spricht? Genau diese Frage scheint den Schlüssel zu liefern zur Erschließung des Sinns von Gebet: Wer betet wie der Psalmist, so kann man verallgemeinern, begibt sich in eine intensive Erfahrung seiner Selbst, die als Weg, also als Geschichte entziffert werden kann. Im Nachsprechen eines Gebets löse ich mich zunächst von mir in meiner augenblicklichen Subjektivität und erfahre ich mich als geschichtliches Wesen. Dadurch werden mir als zweiter Erfahrung auch die leitenden und verlässlichen Elemente meiner Lebensführung deutlicher. Auch sie erfahre ich dabei als etwas, was einerseits mir den je entscheidenden Halt gibt, was andererseits mich aber zu je neuer Auseinandersetzung herausfordert, und in welcher Auseinandersetzung ich schließlich die entscheidenden Gründe für die weitere Lebensführung finde, weil sie zur Erweiterung meiner Lebensperspektiven führen. Freilich, das ist die religiöse Pointe solcher Sprachformen, gelingen diese Erfahrungen nur in der Erfahrung der Übersteigung bzw. des Zurücklassens unmittelbarer Subjektivität und in Konfrontation mit einem Gegenüber, das ich als tieferen Grund meiner selbst erfahre. 2.7. Gegenüber solcher Detaildeutung würde eine dann folgende Gesamtdeutung darauf reflektieren, welche „Funktion“, besser welchen Sinn nun das Sprechen eines Gebets haben kann. Dazu mag als Diskussionstext für höhere Klassen eine eher theoretische Auseinandersetzung mit dem Thema Gebet sich anschließen. Sehr gut geeignet, wenngleich auf hohem Niveau geschrieben, ist dafür eine einschlägige Abhandlung 16 von Michael Theunissen. Th. stellt sich der Aufgabe, zumindest als Perspektive die „Wahrheit des Evangeliums“ anzusprechen unter einem Blickwinkel, der zwar nicht eingelöst werden soll, aber gleichwohl die Linie der Deutung abgibt: „einerseits eine Diagnose dessen, was heute ist, eine vollständige Analyse des modernen Bewusstseins und der in ihm reflektierten Wirklichkeit andererseits eine zureichende Beschreibung der auch in sich historisch eingefärbten Situation des Menschen, wie sie sich in der Innenperspektive des je eigenen Existenzvollzugs darstellt.“ (S.325) Dadurch kommt er zu Deutungen der Glaubens- und Gebetsstruktur wie etwa folgender: „Der Glaubende lebt im Gleich16 Michael Theunissen: ~O aivtw/n lamba,nei. Der Gebetsglaube Jesu und die Zeitlichkeit des Christseins; in ders.: Negative Theologie der Zeit. Frankfurt (Suhrkamp) 1991, S. 321-378. Nach dieser Ausgabe des zuerst 1976 veröffentlichten Aufsatzes wird nachfolgend zitiert. Besonders wichtig für unseren Zusammenhang sind darin die beiden ersten Abschnitte „Über die Schwierigkeit, philosophisch von Jesus zu reden“ (S.321ff) und „Der Gebetsglaube Jesu“ (S.326ff). 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ 321 klang mit der Zeit, er lässt sich mit ihr versöhnen, doch so, dass das Leiden an ihr, auf das er antwortet, im Dulden seiner Geduld ebenso wie in seiner Duldsamkeit lebendig bleibt.“ (S.327) oder: „Die Einheit von Selbstverlust und Selbstfindung übergreift einen absoluten Gegensatz. Wird der Mensch dadurch frei von sich, dass er seine Eigenmächtigkeit verabschiedet, so wird er frei zu sich, indem er sich ergreift und sich hierbei nicht nur seiner selbst, sondern ebenso wohl der Welt bemächtigt. Das ungeheuerliche Wort [Jesu] ‚euch wird nichts unmöglich sein’ zielt nicht zuletzt auch auf diese Macht. In seinem Lichte wird offenbar, dass der Glaube, als das radikal andere gegenüber jeder Art von Resignation, zum radikal weltverändernden Handeln ermächtigt. Indessen basiert die Macht, die er verleiht, auf der Macht Gottes und ist nichts als deren Manifestation. Dadurch unterscheidet sich die vom Glauben getragene Freiheit des Menschen zu sich vom eigenmächtigen ‚autonomen’ Selbstsein“. (S.337) - Theunissens These ist es, dass diese Struktur der Existenz- und Glaubensreflexion der im Sinne Jesu Betende sich im Akt des Betens vergewissert. Dies wird reflexiv und begriffs-analytisch entfaltet, wie auf theologischer Seite sonst nur zuweilen in Aufsätzen von Karl Rahner oder Romano Guardini oder in der mittelalterlichen Tradition der Mystik, im Unterschied zu Praxis- oder Erbauungsbüchern, die es zum Thema „Gebet“ in großer Zahl gibt. Alternativ böte sich an, aus Jörg Zinks bekannter Betschule17 das Inhaltsverzeichnis zu nehmen und zu prüfen, inwiefern das hier Behauptete durch Lesen des Psalms 119 auch tatsächlich geleistet wird bzw. werden kann bzw. unter welchen Voraussetzungen dies geleistet werden kann, ohne freilich von vorneherein sich auf die Innensicht dieses Buches einzulassen. Zink kategorisiert z.B. folgende Dimensionen des Betens: • Sich einfinden: Sammlung - Wahrnehmung - Der innere Mensch; • die Welt sehen: Diesseitiges Leben - Tatsachen – Schicksale; • die Stunde wissen: Tage und Augenblicke - Gegenwart – Dunkelheit; • mitgehen - Lieben - Das Neue schaffen, Bejahen; • Zu Hause sein: Gewissheit - Geborgenheit - Vertrauen Ausgehend von der eher rezeptionsästhetisch oder dekonstruktiv dimensionierten Fragestellung, was erforderlich sei, um zu diesen Zuständen bzw. Erfahrungen zu gelangen und wozu sie führen könnten, könnte in einem weiteren Schritt gefragt werden, ob und inwieweit der Beter des Ps 119 (der Verfasser wie der je neu aktuelle Beter) zu solchen Erfahrungen käme. 17 Jörg Zink: Wie wir beten können. Stuttgart: Kreuz 1970. 322 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ 2.8. Schließlich wären als Transfer der starken These vom Gebet als Form reflexiver Glaubensvergewisserung und auch -erschließung die Eingangs- und die Schlusspassage aus Augustinus’ Confessiones zur Erfahrung zu bringen: Groß bist du Herr und hoch zu loben, groß ist die Fülle deiner Kraft und unermesslich sind die Spuren deiner Weisheit. Und preisen will dich der Mensch, ein Teilchen deiner 5 Schöpfung, der Mensch, sich tragend mit seiner Sterblichkeit, die das Zeugnis seiner Sünde über ihn ablegt … Auch ein solcher Mensch will dich preisen, will dich preisen, eben weil auch er ein Teilchen deiner Schöpfung ist. Du reizest 10 zur Freude an deinem Lobe, weil du für dich uns erschufest und weil unser Herz ruhelos bleibt, so lang es nicht ruhet in dir. So gib denn, Herr, mir zu erkennen, was eher ist: dich anrufen oder dich preisen, dich 15 erkennen oder dich anrufen. Wer vermöchte dich anrufen, ohne dass er dich erkennete? (…) Wie soll ich meinen Gott anrufen, meinen Gott und Herrn? Ich rufe ihn ja in mich selbst, so oft ich ihn anrufe. Und welches ist die Stätte 20 in mir, wo Gott in mich eingeht, wo der Gott eingeht, der Himmel und Erde schuf? Herr, mein Gott, so ist in mir etwas, das dich fasst! Fassen dich denn Himmel und Erde, die du schufst, in denen du mich erschufst? Oder fasst 25 dich darum Alles, was da ist, weil ohne dich nichts wäre, was da ist? Weil denn auch ich bin, was flehe ich zu dir, dass du in mich kommest, der ich nicht wäre, wenn du nicht in mir wärest? Mein Gott, was bist du? Was frage ich? Wer als 30 mein Herr! Denn wer ist Herr außer dem Herrn, und wer ist Gott außer unserm Gott! Du Höchster, Bester, Mächtiger, Allvermögender! Du Erbarmungsvoller und Allgerechter, Verborgenster und Allgegenwärtiger, voll Schönheit 35 und voll Stärke! Der du fest stehst und doch nicht zu fassen bist; selber wandellos, Alles wandelst, niemals neu wirst (…) Wie vermögen wir dich auszusprechen, o du mein Gott und mein Leben, meine Süße, heilige Wonne! Was weiß der Mensch zu reden, wenn er redet von dir? Der Beredten Mund verstummt vor dir, aber wehe denen, die von dir schweigen! Wer wird mir verleihen, in dir zu ruhen, wer wird mir helfen, dass du in mein Herz kommest 45 und es beseligend sättigest, bis ich vergesse alle meine Schmerzen, und dich umfange, mein einziges Gut? Was bist du mir? Sieh mich erbarmend an, dass ich wage zu reden. Und was bin ich dir, dass du gebietest von mir geliebt zu 50 werden … Bei deiner reichen Erbarmung verkünd' es mir, verkünd' es mir, was du mir bist! Meiner Seele sage: Ich bin Heil (Psalm 35, 5). So sprich du, dass ich vermöge zu hören. Siehe, meines Herzens Ohren sind vor dir, 55 schließ sie auf und sprich zu meiner Seele: Ich bin dein Heil! Eilen will ich dieser Stimme nach und dich ergreifen. Verbirg dein Angesicht nicht vor mir; streben will ich, um nie zu sterben, damit ich diese sehe! Will ersterben der 60 Welt und mir, damit ich zu leben beginne meine todesfreie Ewigkeit, bis ich in dir lebe und du in mir! Aber eng ist meiner Seele Haus. Wie wirst du einziehen? Mach' es weit! (…) Wir also sehen, was du geschaffen, weil es 65 ist, aber nur darum ist es, weil du es siehst. Wir sehen mit den Augen, dass es ist, und mit dem Geiste, dass es gut ist, du aber sahest das Geschaffene ebenda, wo du es sahest, als es geschaffen werden sollte. (…) 70 Dies zu verstehen, kann wohl ein Mensch dem andern dazu helfen? Oder ein Engel dem andern, oder ein Engel dem Menschen? Von dir müssen wir’s erbitten, in dir es suchen, bei dir anklopfen. So, nur so werden wir empfangen, werden 75 wir finden und wird uns aufgetan. Amen 40 4-3 „…lasse deiner Ordnungen Weg mich verstehn!“ 323 Für die Erschließung dieses eindrucksvollen Texts18 bieten sich die folgenden Fragen an: Lesen Sie den Text mehrmals aufmerksam durch und markieren Sie dann, welche Passagen eher Gebetscharakter haben, welche eher als theologisch-philosophische Reflexion einzuordnen sind. Begründen Sie Ihre Entscheidung. Versuchen Sie, den Gedankengang Zl. 17-37 zu rekonstruieren. Prüfen Sie insbesondere, wie Augustinus zu der eigentümlich paradoxen (In-)Fragestellung Zl. 26ff kommt. Nehmen Sie die Aussagen in Zl. 37ff, um wichtige Einsichten aus dem bislang zum Thema „religiöse Sprache“ Verhandelten festzuhalten bzw. als These(n) zu formulieren. Erörtern Sie, ausgehend vom Text, die Frage: Kann der Mensch Gott nun erkennen oder nicht? Skizzieren Sie das Bild vom Menschen in seinem Bezug zu Gott, von dem Augustinus in seinem Text ausgeht (vgl. insbes. Zl. 3ff und 65ff). Inwiefern ist es eine Grundlage für die anderen zuerst formulierten Fragen? Erörtern Sie abschließend die Funktion, die das Gebet für die philosophische Reflexion bzw. den Sinn philosophischer Reflexion hat und umgekehrt den Stellenwert, den die philosophische Reflexion für das Gebet hat bzw. was sie zur Erschließung des Sinns eines Gebets beitragen kann. (Vgl. dazu insbesondere die Zl. 13ff und 50ff). 18 Augustinus: Bekenntnisse, 1.Buch, Übers. Georg Rapp, Stuttgart 1838; orthografisch leicht verändert zitiert nach: Digitale Bibliothek Band 2: Philosophie, Berlin 1998. Die Schluss-Passage ist zitiert nach der Übersetzung von W.Thimme, München: dtv 1982 (Zürich 1950), S. 406. Kapitel 4-4 Was sollen wir tun? Philosophische Orientierungen zu Fragen moralischer Wertentscheidungen 1 Beginnen wir unsere Überlegungen mit einem kleinen Szenario: Sie wollen mit Ihrer Klasse die Frage gentechnisch veränderter Nahrungsmittel verhandeln2 und haben sich ein wenig in der entsprechenden Literatur umgetan. Da müssen Sie z.B. folgendes lesen: • Der Biologe Hans Mohr schreibt 1999: „Für den (ethischen) Fachmann sind die Argumente, die auf diesem Sektor [gentechnisch hergestellter Lebensmittel] zur Akzeptanzverweigerung führen, nur schwer nachzuvollziehen. Natürlich stellen marktfähige Lebensmittel, bei deren Produktion gentechnische Verfahren eine Rolle spielen, keine Gefahr für den Menschen dar, sonst würden aufgrund der Rechtslage in unserem Land diese Lebensmittel ja nicht zugelassen.“ 3 • Ebenfalls 1999 behauptet José Lutzenberger über die Herrmannsdorfer Landwerkstätten: Sie „schaffen eine ökologische Lebens-Mittel-Qualität, die Gesundheit und Wohlbefinden fördert und wie vorbeugende Medizin für ein 1 Dieses Kapitel ist hervorgegangen aus unterschiedlichen Vorträgen zu Fragen moralischer Erziehung im Rahmen der Lehrerfortbildung in den Jahren 1998 und 1999. In gekürzter Form wurde es veröffentlicht in der Zeitschrift: Haushalt & Bildung Heft 1 / 2001, S. 27-35, welches das Thema „Werte und Leitbild“ zum Schwerpunkt hat. Gezielt werden in diesem Beitrag die zentrale Unterscheidung zwischen Moral und Ethik wie auch die Möglichkeiten ethischer Urteilsbildung in einem für Lehrerinnen und Lehrer konkreten Kontext entwickelt. Den auf Lehrerfortbildung zugeschnittenen Stil habe ich beibehalten, den Beitrag gleichwohl erheblich erweitert, vor allem in den erläuternden Passagen, aber auch in einigen Anmerkungen, ohne jedoch für die sehr allgemeinen und zusammenfassenden Auskünfte zur philosophischen Ethik detailliertere Belege in der Fachliteratur beizubringen. In den Zusammenhang der vorliegenden Arbeit gliedert sich diese Abhandlung insofern organisch ein, als nicht nur äußerlich auch die theologische Problematik moralischer Bildung zumindest angerissen wird, sondern die Frage nach moralischer Orientierung tief auch in originär religionspädagogische Bereich eingreift. Vgl. dazu genauer meine Bemerkungen in der Einleitung. 2 Die Zielgruppe der ersten Veröffentlichung dieses Kapitels waren (s. Anm.1) Lehrerinnen und Lehrern, die sich, so die Zielsetzung der Zeitschrift „Haushalt&Bildung“, mit Fragen von „Gesundheit, Umwelt, Zusammenleben, Verbraucherfragen, Beruf“ beschäftigen. 3 Mohr (1999). In: Haushalt&Bildung Heft 4/1999: Schwerpunkt: Ernährung und Gentechnik. 4-4 Was sollen wir tun? 325 gutes und langes Leben wirkt. So entsteht eine Ess-Genuss-Kultur, die vom Aussterben bedroht ist. Der inneren Logik folgend sind solche Lebens-Mittel gentechnikfrei.“ 4 Wir sind mit Recht irritiert: Was sollen wir tun angesichts solch konträrer Stellungnahmen? Nun laufen für die Philosophie in dieser Frage: Was sollen wir tun, alle Fragen der Moral zusammen, so jedenfalls Kant, auch Fragen nach der Gestaltung fundamentaler Wertentscheidungen. Warum also nicht die Philosophie fragen, um ein Antwort zu erhalten? Der folgende Beitrag wird Sie enttäuschen, wenn Sie am Ende ein „So ist es!“ erwarten; sind Sie aber gespannt, warum und wie die Philosophie gleichwohl Orientierung bieten kann, sollten Sie weiterlesen.5 Zunächst führen uns die beiden Stellungnahmen recht genau zu zwei sehr viel konkreteren Problemstellungen, die meinen Beitrag gliedern: Wenn erstens niemand der einen oder der anderen Position ganz ohne Nachfragen wird Recht geben können, stehen ethische Prinzipien zur Debatte, die hier verletzt oder gefragt sein könnten und deren Bewusstmachung uns eine erste Orientierung liefert. Zweitens aber sind wir gefragt nach geeigneten Verfahren, die es uns ermöglichen, gerade angesichts der schwer zu lösenden Problematik gleichwohl verantwortlich und verlässlich eine Entscheidung zu fällen. 1 Die Frage nach ethischen Prinzipien 1.1 Verunsicherungen bei moralischen Fragestellungen Zunächst also: Welche ethischen Prinzipien, vielleicht auch Werte dürfen oder müssen wir veranschlagen, um zu einem moralischen Urteil zu kommen? So selbstverständlich, wie der ehemalige Bundespräsident Herzog in seiner Bildungsrede von 1997 mit der Forderung „Ich wünsche mir ein Bildungssystem, das wertorientiert ist“ sie vorauszusetzen schien, sind moralische oder ethische Prinzipien jedenfalls nicht. Welche Werte gelten denn heute noch, bzw. mit welchen Werten verbinden wir überhaupt noch allgemeinverbindliche Geltungsansprüche? Eher schon muss 4 José Lutzenberger / Franz-Theo Gottwald: Ernährung in der Wissensgesellschaft. Frankfurt/M.: Campus 1999. Die im Zitat genannten Land-Werkstätten gelten als Vorzeigeprojekt für einen ökologisch ausgewogen arbeitenden Landwirtschaftsbetrieb. 5 Zur Orientierungsleistung der Philosophie vgl. oben Kap. 1-2, Abschnitt 4. 326 4-4 Was sollen wir tun? man der Frage des „Spiegel“ vom Jahresende 1999 zustimmen: „3000 Jahre nach Moses – 2000 Jahre nach Christus – Wo ist die Moral?“. Warum aber diese Orientierungsschwäche? Dazu drei genauere Beobachtungen: 1.) Die Auseinandersetzung mit gentechnisch veränderten Lebensmitteln hält uns recht genau die Eigenart heutiger Wertentscheidungsprobleme vor Augen: Aufgrund ihrer Komplexität können wir nicht mehr unmittelbar durch ein Gefühl für das Gute und das Böse entscheiden: Der Philosoph Hans Jonas hat die Gründe für diese Komplexität bereits vor über 10 Jahren auf den Begriff gebracht6: Zunehmend sind wir heute vor Entscheidungen gestellt, die in ihrer Tragweite so weit gehen, dass wir die Folgen nicht nur nicht kennen, sondern nicht einmal in ihrer Möglichkeit überschauen. Als Paradigma für eher makroskopische Probleme sah Jonas den Fall Tschernobyl, dessen Folgen einzuschätzen unser Fassungsvermögen übersteigt: Auch die Rede von Halbwertzeiten ist nur der quasi religiöse Griff zur sprachlichen Bannung, was sich uns faktisch völlig entzieht. Einer anderen, eher mikroskopischen Schwierigkeit sind wir nach Jonas bei Fragen der Biotechnologie ausgesetzt. Hier tun wir, meinte er, einen Blick in innere Strukturen, die wir weniger vom Gegenstand als vielmehr von der Art des Blicks eigentlich gar nicht fassen und bewältigen können. Auch hier sind wir nicht in der Lage, mögliche Folgen real abzuschätzen; doch zudem bekommen wir, wie der Philosoph Ronald Dworkin es formulierte, Angst, nicht davor, das Falsche zu tun, sondern Angst, „die Gewissheit zu verlieren, genau zu wissen, was falsch ist“. 2.) Das hat Folgen auch auf dem Gebiet persönlicher Lebensführung: Wir leben in Zeiten und Welten, in denen Menschen schier alles möglich ist oder zumindest scheint. Werte sind da nur noch sehr relative Größen: Möglich sind, so meinen viele, zu anderen Zeiten, in anderen Kulturen auch ganz andere Werte und Normen. Diese Ansicht wird sogar als ein Gewinn ausgegeben, nämlich als ein Produkt einer liberalen und toleranten Einstellung. Insofern könne man allenfalls noch von einer Vielzahl von „Moralen“ sprechen. Nicht selten versteigt sich diese Einstellung aber 6 Vgl. dazu die Rede von Hans Jonas zum Erhalt des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1987, sowie bereits Passagen aus seinem Buch zur „Praxis des Prinzips Verantwortung“: Technik, Medizin und Ethik. Frankfurt/M.: Insel 1985. Zur Komplexität moralischer Wertentscheidungen angesichts neuester Probleme vgl. auch die jüngste Einlassung von Jürgen Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001. - Angesichts der Erschütterung der für moralische Urteile notwendigen kategorialen Unterscheidung zwischen Subjektivem und Objektivem durch die Herausforderungen der Gentechnik, diagnostiziert auch Habermas, mit Rückgriff auf Jonas, die Gefahr des Umschlagens von „Naturbeherrschung in einen Akt der Selbstbemächtigung“ (S.85), ein für Habermas entscheidendes Argument, in diesen Herausforderungen „das Selbstverständnis von moralisch handelnden und um ihre Existenz besorgten Personen im Ganzen“ affiziert zu sehen (S.54); Möglichkeiten einer Lösung sieht er darum nur in einer nicht mehr traditionellen, sondern gattungsethisch eingebetteten Moral (S.70ff). 4-4 Was sollen wir tun? 327 auch zu einem Relativismus nach der Art: „Das muss letztlich jeder für sich entscheiden.“ – Moralischer Verbindlichkeit wird damit tendenziell der Boden entzogen. 3.) Entgegengesetzt dazu gibt es geradezu einen Ethik-Boom: Konfrontiert mit immer neuen Möglichkeiten der technischen Umsetzung wissenschaftlicher Entdeckungen (vor allem im biologisch-medizinischen sowie im informationstechnischmedialen, aber auch im weltpolitisch-ökonomischen Bereich) werden zunehmend Wissenschaftler und Politiker vom Verbraucher und Nutzer in die Pflicht genommen zu klären: Ist auch erlaubt, sinnvoll, geboten, was wissenschaftlich, technisch, infrastrukturell möglich ist? Verunsicherung also hat sich breit gemacht, was eigentlich noch Moralität bzw. moralisch sei. Meine Deutung: Einerseits scheint sich Moralität immer mehr im Üblichen, zu einer bloßen Frage des Lebensstils zu verflüchtigen, andererseits auf das kalkulatorisch Abwägbare sich zu reduzieren. Was ist gemeint? Bleiben wir am eingangs zitierten Beispiel: Sich für die Ansicht Lutzenbergers zu entscheiden, ist möglicherweise gar kein moralisches Problem; der eine mag dafür sein, der nächste ist anderer Meinung, und vielleicht billigen wir das dem anderen auch zu; so scheint es unser Leben auch nicht existentiell zu berühren, ob wir uns nun so oder so verhalten, - leben würden wir auch anders. Dann aber wäre die Frage nach dem Pro und Contra der Gentechnologie keine moralische Frage, sondern nur noch eine der Üblichkeit bzw. des Lebensstils.7 - Die Aussage von Mohr andererseits spielt uns vor, dass die Frage der Beurteilung von gentechnischen Verfahren oder Produkten einer klaren Kontrolle unterliegen könne und dass das ethische Verfahren der Abwägung in sich bereits moralische Akzeptanz beinhalte. Dann aber würde Moralität reduziert auf das, was kalkulatorisch abwägbar ist. Mit dem Verfahren moralischer Entscheidungsfindung könnte man auch die Entscheidung selbst getrost an sog. Fachleute delegieren.8 Aber was bleibt dann als Moral für uns selbst übrig? 7 Mit dieser m.E. elementaren Unterscheidung zwischen moralischen Fragen, mit denen es mir Ernst ist, einerseits und andererseits Fragen bloßer Üblichkeit, arbeitet Gernot Böhme: Ethik im Kontext. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997. 8 Dieser Einwand richtet sich natürlich nicht gegen die prinzipiell sinnvolle Einrichtung von Verfahren zur ethischen Urteilsbildung, wie sie von diversen Ethik-Instituten installiert worden sind. Vgl. dazu z.B. Katrin Platzer: Interdisziplinarität in einem gesellschaftlichen Handlungsfeld: Ethische Urteilsbildung im Kontext moderner Biotechnologie und Gentechnik. In: A.Wellensiek / H.B.Petermann (Hg.): Interdisziplinäres Lehren und Lernen in der Lehrerbildung. Perspektiven für innovative Ausbildungskonzepte. Weinheim: Beltz 2002, S.166-187. – Die Gefahren solcher Institutionen werden freilich gut sichtbar etwa in dem Problem des 2001 von der Deutschen Bundesregierung eingerichteten Nationalen Ethikrats, sich nicht als Legitimationsinstanz für die Politik missbrauchen zu lassen. 328 4-4 Was sollen wir tun? Der Rückgriff auf eine allgemeinverbindliche und auch jeden betreffende Moral jedenfalls scheint nicht mehr ohne weiteres möglich. Das gilt selbst für die Theologie. Zwar scheint, wenn man beim Beispiel gentechnischer Veränderungen bleibt, ein klares Nein angebracht: Wenn man Überschriften liest wie Dem Schöpfer ins Handwerk pfuschen? und wenn es bei der Gentechnologie wirklich um Die Zweite Schöpfung ginge, könnte man sich vielleicht darauf berufen, dass nach jüdisch-christlichem und auch islamischem Glauben der Schöpfer des Himmels und der Erde und somit auch von allem Leben Gott allein ist, dass es dem Menschen also verwehrt sei, sich als Schöpfer zu Welt und Leben zu verhalten. Aber ist das überhaupt gemeint, dass wir uns in der Gentechnologie als Schöpfer verhielten? Gerade Jude, Christ und Muslim könnten umgekehrt an den Satz erinnern: Macht euch die Erde untertan! um sie zu bebauen und zu bewahren (Gen 2,15). Wäre es dann nicht gerade unsere Aufgabe, Anthropotechniken zu entwickeln, ein vielzitiertes Wort aus dem letzten Jahr9, um unsere Verantwortung für die Zukunft wahrzunehmen, so eine weitere Überschrift, zum Segen für das Leben der Menschheit? Auch die Orientierung des Menschen an der eigenen Geschöpflichkeit sowie an seine Bindung an die Gottesebenbildlichkeit (Gen 1,28) entbindet ihn nicht von der eigenen Verantwortung. So leicht ist es also auch für den Theologen nicht, eine eindeutige Antwort auf heutige Fragen zu geben. Auf Prinzipien wie die zitierten allein sich zu berufen, hilft nur bedingt weiter. In gleicher Weise kommt es an auf biblisch eben nicht fixierte genauere Sachkenntnisse zum Thema wie auch auf den Einsatz unserer Vernunft zur Entscheidung ganz konkreter Problemstellungen in heutiger Zeit, die ebenfalls in den Dokumenten der Religionen nicht vorgegeben sind.10 Der Philosoph hat es in dieser Frage noch schwerer als der Theologe, hat er doch gar keinen festen Codex moralischer Normen oder Prinzipien vorgegeben; vielmehr versucht er grundsätzlich alles als Grundwert, Fundamentalnorm, ethisches Prinzip Veranschlagte auf seine Sinnhaftigkeit zu überprüfen, um so Hilfe dafür zu bieten, dass, warum und wie wir uns überhaupt als moralische Wesen verstehen können. Nun gehen in der öffentlichen Diskussion die Begriffe „Moral“, „Ethik“, „Werte“, 9 Gemeint sind die heftig diskutierten Einlassungen von Peter Sloterdijk: Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus. Frankfurt/M: Suhrkamp 1999. 10 Diese Ansicht vertrete ich natürlich nicht ohne Wissen um die ausführlichen Diskussionen um eine autonome theologische Ethik seit den 70er-Jahren des 20. Jh.. Darauf kann im Kontext dieses Kapitels nicht ausführlicher eingegangen werden. Vgl. deshalb die Notizen in meinem Einleitungskapitel, die das vorliegende Kapitel auch transparenter in den Gesamtkontext der Arbeit einzubinden versuchen. 4-4 Was sollen wir tun? 329 „Normen“ usw. recht bunt durcheinander; - für den Philosophen ein Indiz, dass das Verständnis von Moral, Werten, Ethik problematisch geworden ist. 1.2 Was eigentlich ist „Moral“ ? Zwei Beispiele mögen diese Sprachverwirrung illustrieren, und zugleich zu einer begrifflichen Schärfung der Fragestellung überleiten: Ein Redner im Herbst 2000 meinte zu Aufgaben der Lehrerbildung: „…diese in gentechnischen Labors herangezüchteten Chimären aus Mensch und Tier, zu nichts anderem hergestellt, als eines Tages geschlachtet zu werden, um als Organbanken zu dienen …; - hier ist, meine ich, die Bildung in Schule und Hochschule gefragt, um über derart menschenverachtende Praktiken aufzuklären!“ 11 Die Stoßrichtung der Aussage ist klar: Mit einer als Schreckensszenario ausgemalten Situationsbeschreibung will der Redner warnen vor den Möglichkeiten der Gentechnik. Seine Strategie ist aber bei genauerem Hinsehen nicht das Argument, das den Hörer zur eigenverantwortlichen Einsicht bringen soll, sondern die moralische Empörung, die als rhetorischer Gestus auf den Hörer übertragen wird, damit dieser sich die gleiche ablehnende Position zu eigen mache. Ist aber jemand, der auf diesem Wege zur Moral findet, ein moralischer Mensch? Streng genommen nicht, denn, so behaupte ich, die moralische Empörung allein verhindert eher Moral als dass sie sie fördern würde. Der Grund: Eine Auseinandersetzung und damit die Möglichkeit einer auch gegen Widerstreit gewappneten persönlichen Stellungnahme hat nicht stattgefunden. Ein solcher Mensch hätte vielmehr eine bestimmte Moral lediglich übernommen, ohne ihren Wert für das eigene Leben oder das anderer reflektiert zu haben. Das zweite Beispiel: In einem Radio-Feature zum Thema Xenotransplantation, also der Verpflanzung tierischer Organe an Menschen meinte im Sommer 2000 ein Mediziner völlig überzeugt: Man habe angesichts der Proteste von Tierschützern Ethiker gefragt, die hätten keine prinzipiellen Einwände erhoben, also sei dieses Verfahren ethisch. - Man kann dieses Beispiel ohne Probleme übertragen auf 11 Es handelt sich um die persönliche Mitschrift eines öffentlich gehaltenen Referats, dessen Autor ich an dieser Stelle aus Diskretionsgründen nicht nenne, auch deshalb nicht, weil es sich hier nur um ein Beispiel für eine meiner Beobachtung nach gar nicht seltene Einlassung sog. Gebildeter zu entsprechenden Themen handelt, wobei es mir hier lediglich um die nachfolgend zu destruierende Argumentationsform geht. 330 4-4 Was sollen wir tun? unsere Debatte: Angesichts von Problemen in der Akzeptanz der Bevölkerung gegenüber gentechnisch veränderten Lebensmitteln habe man eine Kommission für Technologiefolgenabschätzung gefragt; die habe herausgefunden, es gebe keine prinzipiellen Einwände, also seien solche Lebensmittel ethisch vertretbar. In dem Eingangszitat von Mohr scheint eine ähnliche Argumentation vorzuliegen. Offensichtlich ist auch hier etwas anderes gemeint als das, was gesagt wird: „Ethisch“ wird gesetzt für „richtig“ oder „akzeptabel“. Doch dieser Fehler verrät zugleich einen Fehler im moralischen Denken: Wer so redet, erwartet als „Ethik“ Handlungsvorgaben: Dieses darf man, jenes darf man nicht! Wertentscheidungen könnten demnach delegiert werden, etwa weil es verbindlich vorgegebene Werte gebe, die von Spezialisten, also z.B. Philosophen, geklärt und von anderen Spezialisten, z.B. Pädagogen, vermittelt werden könnten. Was aber wäre dann Moral? Hat denn solch ein Mediziner, solch ein Lebensmitteltechniker selbst keine Moral, um verantwortlich sich mit dem Problem auseinander zu setzen? Hat entsprechend ein Kind, ein Jugendlicher keine eigene Moral, sondern ist er etwa moralisch nur dann, wenn er sich in gesellschaftlich oder kulturell vorgegebene Standards fügt? Was also ist Moral, und wann eigentlich geht es um eine moralisch relevante Situation? Das muss nun weiter geklärt werden, nicht als abstrakt theoretische Frage, sondern als eine, die konkret auf die grundsätzlich gestellte Frage nach ethischen Prinzipien zielt. Auf die Frage, wie ein Kind sittlich zu erziehen sei, gaben die Griechen die Antwort: wenn du es zum Bürger eines Staats von guten Gesetzen machst. Bereits vor 200 Jahren zitiert der Rechtsphilosoph Hegel diese Tradition mit einem ironischen Unterton12; die Meinung, Moral gründe sich und habe ihren Bezugspunkt im allgemein Geltenden, hatte schon damals ihre allgemeine Geltung verloren. Allerdings meinte ursprünglich „Moral“ eben dies: Der allgemein gültige Brauch, griechisch „êthos“, etymologisch gleichbedeutend mit „Sitte“, ist das stets schon gültige Herkommen des Menschen, das Ge-Wohnte, an dem er sein Handeln ausrichtet. Der lateinische Begriff „mos / moralis“, ursprünglich nichts anderes meinend13, deutet dagegen schon eine Änderung des Sinns an, wird doch damit eher 12 G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), § 153 Anm. 13 Darin liegt der Grund für die nach wie vor gebräuchliche Bezeichnungen „Moralphilosophie“ und auch „Moraltheologie“. Nach heutigem philosophischen Sprachverständnis ist es angemessener von philosophischer bzw. theologischer Ethik zu sprechen. (Vgl. meine Begriffs-Erklärungen auf den beiden nachfolgenden Seiten.) - Auch Kant hatte noch jenes alte Verständnis von „Moral“, so dass i.d.R., wenn er von „Moral“ redet, wir heute „Ethik“ lesen müssen. Wichtig ist diese Differenzierung nicht zuletzt im internationalen Verhältnis, weil etwa die französische Sprache diese Unterscheidung nicht macht, so dass die Disziplin „morale“ eben nicht „Moral“ in unserem 4-4 Was sollen wir tun? 331 das je persönliche Streben, der Mut des einzelnen bezeichnet. Die Aufklärung im 18.Jh. hat unser Handeln dann nicht mehr in einem ihm vorausliegenden, nicht mehr hinterfragbaren Guten begründet, an dem unser Handeln sich zu orientieren habe, sondern in der Autonomie jedes Einzelnen: „Es ist nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille“, so Kant.14 Das ist kein Aufruf zum Egoismus, im Gegenteil: In der Neuzeit hat der Mensch die Bindung an eine kosmische Weltordnung, an kirchliche Macht oder obrigkeitliche Gewalt verloren. Infolge der Erfahrungen willkürlicher Herrschaftsgeltung (und sie machen wir heute in veränderter Form, wenn wir uns dem Wissen wie dem Urteil sog. Spezialisten ausgesetzt sehen), bürgt solche Bindung an Autorität keine Verlässlichkeit mehr, zudem ist sie durchschaubar geworden; damit sind Räume je persönlicher Lebensgestaltung eröffnet; (zumindest in der Aufklärung, beides gilt heute nicht mehr ohne weiteres.) Auf sich selbst gestellt entdeckt der Mensch nicht nur die Möglichkeiten selbständig zu handeln, sondern erkennt, muss erkennen, dass er nur ist, was er ist, wenn er auch selbst Subjekt seines Handelns ist. Dies gilt seither als unaufgebbare Basis aller Moral: Von Moral zu reden ist sinnvoll nur im Horizont menschlicher Freiheit; genauer: Wäre nicht Freiheit der wesentliche Grund all unseres Handelns, gäbe es gar keine Moral. Das ist festzuhalten gerade auch angesichts der abgründigsten und gewalttätigsten Äußerungen von Menschen gegen Mitmenschen und Mitwelt, angesichts auch der grauenhaftesten Schrecken dieser unserer Freiheit, und auch angesichts realer Gefahren der Biotechnologie, etwa durch Präimplantationsdiagnostik sich eine neue Form der Eugenik einzuhandeln. Der Versuch, Moral aus immer schon Bestehendem abzuleiten, selbst aus einem als ewig veranschlagten Wert wie etwa Humanität, dieser Versuch muss entschieden zurückgewiesen werden: Die Delegation unserer eigenen Verantwortung an überhistorische oder menschenunabhängige Mächte oder immer schon bestehende oder vorgegebene Werte zementiert nur jene Gewalttätigkeiten. Retten kann uns vor ihnen nur, bewusster zur Eigenverantwortung zu stehen.15 Und ist es nicht auch alltäglich so? Obwohl der Rückgriff auf eine allgemeinverbindliche Moral heute anachronistisch ist, ist doch immer wieder der einzelne mit allem Ernst gefragt, ist immer wieder Situationen ausgeliefert, die zum einen so und nur so, mit aller Verbindlichkeit beantwortet werden wollen, so dass sich AlternaSinne meint, sondern „Ethik“. Zu den Konsequenzen dieser Sprachregelung im Zusammenhang des Schulfachs „Ethik“ vgl. oben Kap. 1-2. 14 So der berühmte Anfangssatz seiner „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“ von 1785. 15 Diese These ist, nicht zuletzt im Kontext der vorliegenden, zwar philosophisch dimensionierten, aber als theologisch sich verstehenden Arbeit, massiv. Zur genaueren Erläuterung, die an dieser Stelle den Rahmen sprengen würde, vgl. meine Notizen in der Einleitung. 332 4-4 Was sollen wir tun? tiven definitiv ausschließen, und für die zweitens wir selbst persönlich gefragt sind, die wir also nicht an jemand anders delegieren können, Situationen also, in denen es uns ernst wird, um mit Gernot Böhme zu sprechen.16 Darum letztlich hat Kant Moral als wesentlich autonom aufgefasst. Eine anthropologische Fundierung erfährt dieses Plädoyer freilich bereits in der Antike. Auch die Nikomachische Ethik des Aristoteles ist als messerscharfe Kritik an bloß vorgestellten, vorgeordneten moralischen Normen zu verstehen. Zwar konstatiert Aristoteles unser aller Streben nach dem, was wir gut nennen können, als Grundzug aller Moral. Doch gegen seinen Lehrer Platon verabschiedet er sich von der Idee, als Endziel allen Handelns das Erreichen eines höchsten Gutes anzusehen. Vielmehr bietet gerade die Einsicht in die prinzipielle Unerreichbarkeit absoluten Gutseins die Voraussetzung, dass wir moralische Wesen sein und das Gute tun können. Das absolut Moralische wäre den Göttern oder den wilden Tieren vorbehalten: Beide kennen keine Moral. Was uns zu moralischen Wesen macht, ist das Streben selbst nach dem Guten, mithin die ganz persönliche Auseinandersetzung, vor der uns niemand retten kann, die zu spüren und zu gestalten wir aber üben können. Dies und nur dies kann aus Sicht der Philosophie ein ethisches Prinzip sein. Unüberholt hat Kant dies auf das Bild vom Menschen als krummem Holze mit aufrechtem Gang gebracht und schließt daraus: „Es scheint aber der Natur darum gar nicht zu tun gewesen zu sein, dass er [sc. der Mensch] wohl lebe; sondern dass er sich so weit hervorarbeite, um sich, durch sein Verhalten, des Lebens und des Wohlbefindens würdig zu machen.“17 Deshalb unterscheidet die Philosophie in neuerer Zeit zwischen Moral und Ethik. Moral ist der für den Einzelnen oder eine Gemeinschaft verbindlich geltende Inbegriff moralischer Normen, Werturteile, Institutionen. Ethik hingegen ist die kritische Untersuchung des Problembereichs der Moral, also davon, was es überhaupt heißt, dass wir moralische Wesen sind, und davon, wie wir dies sein können.18 Philosophie aber und ich denke auch Theologie (nicht der eigene Glaube!) betreibt Ethik und bringt keine Moral bei. Kants Frage Was soll ich tun? fragt also nicht nach konkreten Handlungsrezepten, was denn konkret zu tun sei, sondern fragt nach dem Sinn und den Gründen und der Notwendigkeit davon, dass wir uns überhaupt als moralische Wesen in der Welt verhalten. Indem so gefragt wird, wird freilich der Anspruch erhoben, Orientierung zu bieten dafür, dass wir uns auch tatsächlich als 16 So, wie oben Anm. 7 erwähnt, die zentrale These von Gernot Böhme: Ethik im Kontext. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997. 17 Immanuel Kant: Idee zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), 6. und 3. Satz; in: Werke, ed.Weischedel, Bd.6, Frankfurt/M.: Insel 1964, S. 41 bzw. 37. 18 Erstmals konsequent hat mit dieser Unterscheidung in solcher Klarheit gearbeitet Patzig (1971), von dem ich diese definitorische (zugegebenermaßen künstliche) Unterscheidung zwischen Moral und Ethik übernehme. 4-4 Was sollen wir tun? 333 moralische Wesen verstehen, dass also all unser bewusstes Leben und Handeln in Entscheidungen zwischen gut und böse sich vollzieht.19 Daraus ergibt sich eine klare pädagogische Konsequenz, die ich in folgende These fasse: Zur Moral, gar zu der Moral lässt sich ernst genommen kein Mensch erziehen; demgegenüber ist die Erziehung in Moral oder eine Erziehung dazu, sich als moralisches Wesen ernst zu nehmen, sehr wohl ein Ziel von Bildung. Auf unsere Frage bezogen: Auch in Fragen den Gentechnologie kann es nicht darum gehen, jungen Menschen bestimmte vorgegebene moralische Prinzipien beizubringen, sondern sie in die Lage zu versetzen, in eigener moralischer Verantwortung sich mit Fragen der Ethik der Genetik auseinander zu setzen. 2 Welche Verfahren gibt es, um zu einer verantwortlichen Wertentscheidung zu gelangen ? Mit meiner letzten Überlegung ist der Weg für die oben formulierte zweite Frage freigemacht, nämlich einige Akzente für die Gestaltung von Wertentscheidungen zu setzen. Bevor ich dazu einige konkrete unterrichtliche Anregungen liefere (2.3), müssen aber zumindest kurz einige grundsätzliche Ebenen des Verständnisses von „Gestaltung“ ausgebreitet werden: 2.1 Der Ort von Wertentscheidungen im schulischen Unterricht Zunächst kurz zur unterrichtlichen Verortung der Frage: Wenn wir ernst machen mit der eben erläuterten These von einer orientierenden Erziehung in Moral, bieten weder Religions- noch Ethik-Unterricht die von nicht wenigen für schulische Bildung angemahnte (direkte) Vermittlung von Werten und Normen. Und das ist auch gut so. Denn Ethik- und Religionsunterricht leisten sehr viel mehr und wichtigeres: Nämlich eine Orientierung im Denken.20 Was meint das? 19 Zu den bildungstheoretischen Konsequenzen dieses Verständnisses von moralischer bzw. ethischer Orientierung vgl. erneut mein Kapitel 1-2. 20 Zum genaueren Verständnis dieses Begriffs s.o. Kap. 1-2, Abschnitt 4. 334 4-4 Was sollen wir tun? Wenn von Moral nur geredet werden kann auf Grundlage menschlicher Freiheit, gilt es zuallererst, uns dieser unserer Freiheit zunächst einmal bewusst zu werden, auszuloten, auch zu spüren, was es heißt, in Freiheit zu handeln, und welche Konsequenzen damit verbunden sind. Nur wer sich dessen bewusst ist, kann moralisch handeln. Auf dieser Basis können dann auch bestimmte Werte und Normen verbindlich werden und Anerkennung finden, verfallen nicht der Austauschbarkeit. Und so allein lässt sich die Grundlage dafür schaffen, sich verantwortlich mit der eigenen Geschichte auseinandersetzen sowie sich auf immer neue Herausforderungen einlassen zu können. Wenn von Moral geredet werden kann nur im Horizont menschlicher Freiheit, heißt das zweitens, dass Moral, obwohl stets je persönlich zu verantworten, gleichwohl nicht eine individualistische, private Entscheidung ist, sondern sich zu formen und zu gestalten hat in Auseinandersetzung mit der Sache und im Gespräch mit anderen.21 Wie nun können auf dieser Basis Wertentscheidungsprozesse konkret im Unterricht verhandelt werden. Auch hier zwei Punkte: Einen erneut grundsätzlich zur Differenzierung der Sache (2.2), einen schließlich als Anstoß zu auseinandersetzungsdimensionierter Unterrichtsgestaltung (2.3): 2.2 Ebenen einer Wertentscheidung (a) Zunächst einmal kann ich fragen nach den unterschiedlichen Ebenen, auf denen sich eine moralische Frage stellt, auf denen ich also zu einer ethischen Diskussion kommen kann. Für unseren Zusammenhang sind, meine ich, mindestens folgende Ebenen für eine ethische Auseinandersetzung zu berücksichtigen22: 21 Auch diese beiden Gebote können sich auf Kant berufen, wenn dieser als quasi didaktische Prinzipien allen Philosophierens als erstes das Selber-Denken forderte, und dann als zweites das dialogische Denken (sich an die Stelle des anderen denken zu können). Dazu und zum dritten Prinzip vgl. die Notizen in Kap. 1-4 sowie die Gesprächsanalysen in Kap.3. 22 Die nachfolgenden Ebenen habe ich selbst erstellt in ganz pragmatischen Herausforderungen durch Seminare zur philosophischen Ethik wie auch im interdisziplinären Gespräch in den Seminaren zum Themenbereich „Natur-Mensch“, die ich gemeinsam mit den Kolleginnen aus der Biologie, Lissy Jäkel und Susanne Rohrmann, der Physik, Klaus Scheler, und der Theologie, Andreas Benk und Jörg Thierfelder in den Jahren 1999 bis 2001 an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg veranstaltet habe (Vgl. dazu unser gemeinsamer Beitrag: Die Seminare „Natur und Mensch“ – Erfahrungen aus vier Semestern Zusammenarbeit der Fächer Biologie, Physik, Philosophie und Theologie; in: A.Wellensiek / H.B. Petermann (Hg.): Interdisziplinäres Lehren und Lernen in der Lehrerbildung. Weinheim: Beltz 2002, S.201-214). - Für die grundsätzliche Frage nach Ebenen philosophischer Ethik ist zu verweisen auf einschlägige Werke aus der analytischen Ethik, vgl. besonders William K. Frankena: Analytische Ethik. München: dtv 1972 (USA 1963). 4-4 Was sollen wir tun? 335 Die Ethik der Wissenschaft: Warum sollen wir betrachten, beobachten, untersuchen, erforschen, entdecken, zu Kenntnissen kommen, Erkenntnis erlangen, wissen …? – Diese Ebene von Ethik richtet sich gegen die unkritische These vom ethisch neutralen bzw. indifferenten Naturdrang nach Erkenntnis und hat ihren Beleg in den philosophischen Überlegungen von Aristoteles über Marx bis hin zu Habermas. Die Ethik der Technik: Warum sollen wir, was wir erkannt haben, zerteilen, zusammenfügen, verändern, fortschreiben, optimieren, ausmerzen ...? – Diese Frage richtet sich gegen die ideologischen Thesen von der Einheit von Forschung und Technik, so als würde eine bestimmte wissenschaftliche Erkenntnis automatisch Formen ihrer technischen Umsetzung zeitigen, gegen die von der Vermischung von Ethos und Ethik, Ebenen die nicht selten im naturwissenschaftlichen und medizinischen Bereich verwechselt werden, so als würde ein Forscher oder Arzt, der einem bestimmten Standes-Ethos sich verpflichtet sieht, sich bereits ethisch mit seinem Handeln auseinandersetzen, sowie die von der Einschleifung von Praxis auf Technik, wie sie vor allem im politischen Bereich in den menschenverachtenden Techniken des Nationalsozialismus zur Ideologie gemacht wurde. Die Ethik des Handelns: Warum sollen wir zur Anwendung bringen, in unser Leben integrieren, was wir erkannt haben und technisch bewerkstelligen können ... ? Sie ist deswegen die zentrale ethische Ebene, weil hier wie sonst nirgends wir herausgefordert sind, uns als moralische Wesen zu begreifen und unser Tun als stets auch verantwortungsbezogenes Handeln und nicht nur als gesteuerte oder automatische Tätigkeit zu verstehen. Gefragt ist hier auch danach, worin wir unsere Moral begründen, in der Vernunft, in der Intuition, in der diskursiven Abwägung … Die Ethik der Entscheidungsfindung, die heute zunehmend wichtig wird, um es bei moralischen Herausforderungen nicht nur bei fundamentalethischen Einstellungen zu belassen, sondern nach konkreten Möglichkeiten, also vernünftigen Verfahren einer ethischen Entscheidung und Urteilsfindung zu suchen: Wie können wir das, was wir tun wollen, zu einer vernünftigen, allgemein anerkennungsfähigen und der Sache dienlichen Entscheidung bringen ? - Dabei sollte differenziert werden, wer oder was von einer ethischen Entscheidung betroffen wird: • mein persönliches Leben • das Leben der Mitmenschen / der Nächsten / der Gemeinschaft der (lebenden) Menschen / künftiger Generationen, • die Lebensbedingungen der Menschheit überhaupt, 336 4-4 Was sollen wir tun? • Leben und Welt als Totalität alles Seienden, • der mögliche (nicht immer transparente!) Zusammenhang dieser Ebenen; • ebenso sehr ist nach den möglichen Interessen zu fragen, die nach einer Entscheidung verlangen, auch die außermoralischen wie insbesondere ökonomischen Interessen. (b) Wenn es weiterhin darum geht, Bedingungen auszuloten, die uns konkret zu einer verantwortlichen Entscheidung verhelfen, macht es einen guten Sinn, zu unterscheiden zwischen grundlegenden ethischen Überlegungen und Regeln einer angewandten Ethik. Auf der grundlegenden Ebene unterscheidet die Philosophie im wesentlichen drei Richtungen der Beurteilung einer Handlung als gut: Eine Handlung ist gut aufgrund der durch sie erzielten Folgen (=teleologische Begründung, wie sie durch die Ethik des Aristoteles grundgelegt wurde, zur Geltung aber auch kommt in der sog. utilitaristischen Ethik der Abwägung im Hinblick auf die durch eine Entscheidung zu maximierenden guten Folgen. Oder eine Handlung ist gut aufgrund der ihr zugrundeliegenden Absicht, durch die diese Handlung bindende Pflicht wird (deontologische Begründung). Sie wird am besten durch Kant auf den Punkt gebracht und seine Auffassung von einem uns absolut bindenden Kategorischen Imperativ, liegt aber auch der antiken Auffassung von Sokrates zugrunde. Inwiefern religiöse Ethiken aufgrund absolut uns bindender Normen einer solchen Begründung zuzuordnen sind, muss im Einzelfall diskutiert werden. Neuerdings gewinnen zunehmend Ansätze einer diskursiven, deliberativen Ethik an Bedeutung, die zu dem, was das Gute sei, allein durch ein vernünftiges, von allen vollziehbares Verfahren glauben gelangen zu können. Vertreter wie Jürgen Habermas glauben, dass anders als so in unserem nachmetaphysischen Zeitalter, in dem Normen und Wertsysteme faktisch nicht mehr mit allgemeinverbindlicher Anerkennung rechnen können, heute moralische Fragen nicht zu klären sind. Meine These dazu: In heutiger Auseinandersetzung werden wir Entscheidungen verantwortlich wohl nur im Bedenken zugrundeliegender Wertentscheidungen, weil / Fundamentalnormen (weil sonst Moral auf Technikfolgenabschätzung reduziert wird) wie auch durch Abwägung der Folgen treffen können (weil Fundamentalnormen nur Grundbedingungen nennen, nicht aber konkrete Entscheidungen präformieren). Zugleich wird es immer schwieriger, eine Entscheidung sowohl der 4-4 Was sollen wir tun? 337 Komplexität der Sache angemessen, wie auch kritisch differenzierend, wie auch für möglichst alle nachvollziehbar zu treffen, so dass wir in wichtigen moralischen Entscheidungen notwendig auf einen vernünftigen Diskurs angewiesen sind (weil Moral wesentlich keine einsame und private, sondern uns als Gemeinschaftswesen angehende Sache ist). Die angewandte Ethik meint zunächst einmal nicht die Anwendung festgelegter oder durch Urteil gefundener Entscheidungen auf konkrete Fälle, in denen sie nun Anwendung fänden. Vielmehr geht es um die ethische Entscheidungsfindung in und angesichts konkreter, d.i. angewandter Problemfälle. Dazu gehört auch die Bioethik, und hierbei speziell die Ethik der Genetik. Hier kann die philosophische Ethik u.a. durch folgende Fragen zur Entscheidungsfindung verhelfen: Werden / wird durch eine ethische Entscheidung Dinge überschaubarer ? neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet ? die Vielfalt bestehender Ordnung ins Verhältnis gesetzt zu einer durch Entscheidungen neu gesetzten Ordnung ? weitere Entscheidungen erleichtert ? Nutzen erhöht, Schaden minimiert ? Gefahren gegen Chancen abgewogen ? unmittelbare / nicht direkt einkalkulierbare Folgen bedacht - für den Einzelnen (Betroffener / Akteur / Entscheidungsträger); - für Mitmenschen / Gesellschaft - Tiere / Welt ? Folgen für Zukunft (Erblasten) kalkuliert ? Grenzen hinsichtlich bedacht ? der wissenschaftlich-technischen Selbstkontrolle Sind die Entscheidungen für die Betroffenen / für alle einsichtig / nachvollziehbar ? Handelt es sich um Entscheidungen, die durch Mehrheit zustande kommen können, oder müssen sie durch alle getroffen werden (können) ? Diese Ebenen zu bedenken, ist für die konkrete Unterrichtsgestaltung insofern wichtig, als von daher sehr viel klarer die Zielsetzung(en) einer Unterrichtseinheit wie auch einer konkreten Unterrichtsstunde benannt werden können, vor allem aber, um die Ebene des Gesprächs und der Diskussion, die bei solchen Themen unver- 338 4-4 Was sollen wir tun? zichtbar sind, einschätzen und ggf. auch steuern zu können, um das Gespräch von der Gefahr der bloßen und insofern ohne Folgen bleibenden Meinungsäußerung zu bewahren. 2.3 Anstöße zur unterrichtlichen Gestaltung von Wertentscheidungsprozessen Ich konzentriere mich hier auf zwei Anstöße zur unterrichtlichen Gestaltung, einerseits zum Eingangsimpuls, andererseits zur Strukturierung einer Diskussion: (1) Als hervorragend geeigneter Gesprächsimpuls erweist sich zunächst das Erstellen von Dilemmageschichten aus vorliegenden Quellen. Kommen wir auf unsere Eingangszitate zurück, könnte eine solche Geschichte etwa so aussehen: Mann, ich hab’ vielleicht Hunger, meint Uli. – Hans hilft: Komm, ich geb’ Dir von meinem Schokoriegel! – Spinnst Du? Weißt Du denn nicht, dass die alle genverseucht sind? So was ess’ ich nicht, gibt Uli zurück. – Spinn Dich aus, das ist doch alles genau geprüft, was soll daran schädlich sein? – Na ja, so genau weiß ich das nicht, aber wir kaufen inzwischen nur noch ökologische Lebensmittel, da kann man wenigstens sicher sein, dass da nichts Künstliches dran ist, das dann weiß ich was verursacht… Der Vorteil einer solchen Geschichte: Sie provoziert direkt zu weiterer Auseinandersetzung, Hinterfragen der Positionen, Interesse an weiteren Informationen und vor allem: Sie ist unmittelbar nachzuempfinden, führt unproblematisch zur Identifikation mit einem der Protagonisten, nicht zuletzt weil die Positionen nicht weiter entfaltet sind und bei genauerem Hinsehen recht unmittelbar bzw. unreflektiert geäußert werden. Bewusst ist die Geschichte zudem auf einem Niveau gehalten, auf dem noch nicht klar ist, ob es sich hier überhaupt um ein moralisches Dilemma handelt. Genau dies kann aber in der folgenden Bearbeitung aufgrund der fast banalen Offenheit umso deutlicher als Problem erkannt werden. Versuchen Sie es also mit dieser Geschichte als Eingangsimpuls oder noch besser, probieren Sie es selbst aus, als Unterrichtseinstieg eine solche Dilemmageschichte zu schreiben. Dabei sollten freilich einige Kriterien beachtet werden, die eine gute Dilemmageschichte auszeichnen23: 23 Das folgende Schema habe ich in intensiverer Auseinandersetzung mit sog. Dilemmageschichten entworfen. Vgl. dazu meine genaueren Erläuterungen in: H.-Bernhard Petermann: Philosophieren als Konzept gegen Lebensresignation? in: ZDPE 1999, S.101ff., sowie meine kritischen Anmerkungen zu den in der Moralerziehung seit Oser üblichen Dilemmageschichten in Kap.3, Abschnitt 4.1. Wichtige Impulse zu dieser Struktur verdanke ich den Geschichten vom Garreth B. Matthews: 4-4 Was sollen wir tun? 339 Offenheit der Entscheidung konkreter Erfahrungsbezug weitere Meinungsäußerungen evozierend unmittelbar zur Entscheidung drängend dialogische Anlage jede Meinung in sich problematisch / aporetisch Kürze / Pointiertheit Kriterien einer DilemmaGeschichte innere Dichte sprachlich / architektonisch offenes Ende zentral für das zur Debatte stehende Thema klare Polarisierung / Konflikt Eine andere, freilich über einen Impuls schon hinausgehende, aber der Bildung von Moralität und einer eigenen Meinung förderliche, weil sie zugleich reflektierende Methode bestünde darin, ein kurzes Zitat wie etwa die eingangs oder unter 1.2. dieses Kapitel zitierten mit der Aufgabe zu verbinden, einen Brief zu formulieren, etwa mit dem Inhalt: Stell Dir vor, X hat einen Brief als Anfrage erhalten, auf den er nun die dir vorliegenden Sätze antwortet. Versuche, diesen Fragebrief zu formulieren. – oder: Du hast an X eine Frage gestellt, die er mit den vorliegenden Sätzen beantwortet. Bist Du zufrieden? Schreibe deine Antwort in einem Brief an X auf.24 (2) Für den weiteren Verlauf, also das Unterrichtsgespräch bzw. die problemorientierte Auseinandersetzung empfiehlt es sich, nicht bei konventionellen Fragestellungen stehen zu bleiben wie „Was meint ihr denn dazu?“ - Nicht nur für die erfolgversprechende Unterrichtsplanung, auch im Sinne der Vorbereitung einer gewinnbringenden ethischen Diskussion erweist es sich darum als wichtiger Baustein, auch Einstiegsfragen zu einem Thema sehr genau vorzubreiten. Es ist ein Irrtum, dass damit der Gesprächsverlauf zu stark vorherbestimmt und so der eigentPhilosophische Gespräche mit Kindern. Berlin: Freese 1989, und Ermanno Bencivenga: Spiele mit der Philosophie. Berlin: Freese 1992. 24 Auch diese Methode wird ausführlicher erläutert und an einem Beispiel dargestellt in meinem eben Anm. 23 zitierten Aufsatz in ZDPE 1999. 340 4-4 Was sollen wir tun? liche Denkprozess erstickt würde; im Gegenteil halte ich eine solche Vorbereitung nicht nur im Hinblick auf die gesteckten Ziele, sondern gerade auch um die notwendige Offenheit eines Gesprächs zu garantieren, für sinnvoll. So ist es nützlich, zunächst grundsätzlich einige Frage-Richtungen zu unterscheiden: a. das Ausloten der Situation, aus der heraus ein Text, eine Meinung entstanden sein mag; b. das Vertiefen von Alternativen und Kontroversen; c. eher handlungsorientiert dann: Was wäre zu tun, zu bewerkstelligen, damit eine durch den Text aufgestellte These zum Erfolg führt, an welche Grenzen gerate ich dabei, was bedeutet das ? Gehen wir beispielhaft, auf der Basis unserer Dilemmageschichte, einige daraufhin konkret zu stellende Aufgaben durch: Für die Zielsetzung (a) (Ausloten der Situation) könnten Sie die Schülerinnen und Schüler z.B. mit folgenden Fragen konfrontieren: Warum wird Uli nicht von einem solchen Schokoriegel essen wollen? Würdest Du es tun? Warum, warum nicht? Woher mag Hans wissen, dass gentechnisch veränderte Lebensmittel geprüft sind? Warum kann Uli sich sicherer sein bei ökologisch hergestellten Lebensmitteln? Würdest Du Dich dabei auch sicherer fühlen, warum, warum nicht? Überlege: Wie wichtig ist es für dich zu wissen, ob Lebensmittel, die du isst, mit oder ohne gentechnische Manipulationen hergestellt sind? Warum wäre das für dich wichtig oder nicht? Der Gewinn für die SchülerInnen in der Beantwortung solcher Fragen ist es, ein Bewusstsein über die Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen der Erfassung und kritischen Analyse von Lebenssituationen zu erlangen, also mehr als die bloße Wiederspiegelung bestimmter Lebenssituationen. Zudem werden sie zumindest durch die letzte Frage auf das Problem gestoßen, ob es sich hier überhaupt um eine moralische Entscheidung handelt. Das Ziel der kritischen Diagnose der (Lebens-) Umstände wird also unterlegt mit der Aufgabe, durch Differenzierung des Sehens auch Wege des Urteilens unterscheiden zu lernen und so auch Wege zur moralischen Urteilsfähigkeit zu ebnen. Die Vertiefung von Alternativen (b) kann als weiterer Schritt folgen, sei es als schriftliche Aufgabe, als Vorgabe für ein Rollenspiel oder als direkter Einstieg in ein 4-4 Was sollen wir tun? 341 Unterrichtsgespräch. Entsprechende Frage-Formulierungen sollten dann über die bloße Wiedergabe der Szenerie hinausgehen und allmählich zur Einsicht in die Kraft bzw. Schwäche von Argumenten und ihrer Durchsetzungsfähigkeit führen; z.B.: Formuliert Fragen, die ihr Hans und Uli stellen wolltet. Versucht, die Gedanken von Uli und von Hans durch ein Streitgespräch weiter zu entfalten; welche Argumente fallen Euch noch ein? Überzeugen Euch die Ansichten von Uli, die von Hans? Warum, warum nicht? Prüft die Ausdrücke, die Uli und Hans verwenden: „genverseucht“ – „schädlich“ – „ökologisch“ – „künstlich“; was ist jeweils gemeint? Erkundige Dich, was genau genetische Veränderung und Manipulation meinen. Erkundige Dich über Prüfungsmöglichkeiten oder Nachweise für Lebensmittel. Prüfe den von Uli behaupteten Zusammenhang von „ökologisch“ und „nicht künstlich“. Bewusst ist auch in diese Fragekette ein Fortgang von unmittelbarer Identifikation bzw. Betroffenheit zur Analyse der Erfahrung von Betroffenheit und dem Umgang damit eingebaut. Damit soll verdeutlicht werden, wie z.B. die Zielsetzung „Orientierungshilfe bei der Lebensgestaltung“ eingebunden werden kann in das (eher philosophische) Ziel „bewusste Lebensführung“. Darüber hinaus wird die Fähigkeit zur Argumentation, vor allem aber der dialogische bzw. diskursive Austausch von Argumenten geübt, schließlich die Einsicht vermittelt in die Kraft bzw. Begrenztheit vernünftig argumentierender Auseinandersetzung, auch im Vergleich zum Wert der Rede, bloßer Meinungsmache oder auch gefühlsmäßiger und intuitiver Zustimmung bzw. Ablehnung. Die handlungsorientierte Perspektive (c) ist sicher die interessanteste im Hinblick auf die Zielsetzung, zu einer konkreten Entscheidung zu befähigen. Entsprechend könnte dann z.B. folgende Fragereihe vorgelegt werden: Welche Gefühle hätte ich, einen solchen Schokoriegel zu essen, welche, wenn ich mich dagegen entschiede? Was kann ich tun, um sicher zu sein, dass Lebensmittel nicht gentechnisch verändert sind? 342 4-4 Was sollen wir tun? Würde ich einen als gentechnisch verändert gekennzeichneten Schokoriegel essen, wenn er auf mögliche gesundheitliche Schäden überprüft und für unbedenklich erklärt worden ist? Warum, warum nicht? Wen kann ich fragen, um mehr Gewissheit in meinen Entscheidungen zu erlangen? Inwieweit kann ich mich auf Expertenmeinungen zu gentechnisch veränderten Lebensmitteln verlassen? Ist die Beantwortung dieser Fragen von bestimmten Lebensbedingungen abhängig ? Könnte ich / habe ich mich selbst durch die Beantwortung dieser Fragen verändert ? Das Ziel solcher Fragen ist es, Handlungskompetenz aufzubauen im Umgang mit konkret uns herausfordernden Lebenssituationen. So werden eben noch nicht von vorneherein Verhältnisse bzw. Tugenden wie Gelassenheit, Entschlossenheit, maßvolles Abwägen, Einsicht, Entscheidungsfähigkeit u.a. oder gar bestimmte gesellschaftliche Werte vermittelt, sondern dies könnte in der Auseinandersetzung als strukturelle Hilfen zur Sprache kommen. - Ein so angelegter Unterricht, gleich ob er im Fach Religion, Ethik, Biologie oder Hauswirtschaft stattfindet, bliebe frei vom Verdacht der moralischen Unterweisung, würde vielmehr die moralische Antwort als (notwendige) Herausforderung artikulieren können, würde einen Horizont schaffen, Raum bieten für je persönlich zu treffende aber eben nicht vorgeprägte Entscheidungen. Kapitel 4-5 Recht und Gerechtigkeit und die Frage der Menschenrechte 1 Einleitung: Probleme im Einsatz für Menschenrechte Vielfältige Ereignisse und Debatten am Ende des 20. Jahrhunderts haben in aller Schärfe die Problematik von Begründung und Achtung der Menschenrechte vor Augen geführt. Anlässlich der 50-Jahr-Feier ihrer Allgemeinen Erklärung vom 10. Dezember 1948 war es einhellige Meinung, dass es sicher keine Epoche gegeben hat, in der zunehmend mehr Staaten auf zunehmend mehr Menschenrechte sich verpflichtet haben, bis hin zur Ausbildung konkreter Rechtsordnungen und -verfahren gegen Menschenrechtsverletzungen2, dass aber ihrer Proklamation und formalen Anerkennung die (politische) „Wirklichkeit täglich ins Gesicht schlägt“3. Auch die vielfältigen Initiativen der 70er- und 80er-Jahre für Frieden, Gerechtigkeit und Ökologie sind in den 90er-Jahren merklich zurückgegangen. Ein Grund: Im Geflecht sich diversifizierender Globalisierung sind konkrete Menschenrechtsverletzungen nicht mehr eindeutig bzw. kontextfrei auszumachen; auch die Position der Anklage kann sich nicht frei davon wissen, selbst in die Verletzung verwickelt zu sein. Wer etwa gegen versklavende Kinderarbeit in sog. Entwicklungsländern protestiert, dürfte sich auch herkömmlich hergestellten und gehandelten Kaffee nicht aufbrühen; und wer meint, Hunger und Krankheit sollten auch politisch bekämpft werden, müsste auch (eigene) Aktienfonds kritisch unter die Lupe nehmen. Moralische Empörung jedenfalls, wie sie sich etwa in zunehmender Spendenfreudigkeit Ausdruck verschafft, reicht nicht, um wirksam für die Menschenrechte einzu1 2 3 Dieses Kapitel ist eine um einige Erläuterungen und Anmerkungen erweiterte und in einigen Passagen umgestellte Fassung meines Beitrags „Moral, Recht und Gerechtigkeit – Sind Menschenrechte einklagbar?“, der in dem von Johannes Rohbeck herausgegebenen „Praxishandbuch Philosophie. Bd. Praktische Philosophie“, das 2002 im bsv-Verlag München erscheinen wird. Aus diesem Kontext einer grundsätzlichen Orientierung für die Hand von Lehrkräften erklärt sich der im ersten Teil eher lexikalische, wichtige Positionen zusammenfassende, aber nicht differenziert erläuternde Stil, für den zweiten Teil die konkret auf Unterrichtspraxis zugeschnittene Darstellung. Eine wissenschaftlich gebräuchliche und ebenso leicht und preiswert zugängliche Ausgabe der wichtigsten Menschenrechtserklärungen bietet Heidelmeyer (1996), im folgenden zitiert nach der 3. Aufl. 1982. Volkmar Deile: Die unvollendete Revolution; Leitartikel einer 4-seitigen Anzeige von „amnesty international“ v. 3.12.1998 als Beilage in großen deutschen Zeitungen, hier aus Die Zeit. 4-5 Recht und Gerechtigkeit 345 treten. Auch der 1997 vorgebrachte Vorschlag einer Proklamation von Menschenpflichten4 unterbietet die Komplexität: Ehrenwert gemeint, verwässert er die rechtlich-politische wie die begriffsanalytische Ebene, die Voraussetzung sind, deren Differenzierung Voraussetzung ist, sich sinnvoll wie erfolgversprechend für Menschenrechte einzusetzen.5 Das Engagement für Menschenrechte ist ein unübersichtliches Geschäft geworden, in dem der Zusammenhang von Religion, Moral, Politik und Ökonomie wohl bedacht sein muss. Die Klärung dieser Ebenen stellt einen wichtigen Beitrag dar nicht zuletzt im Sinne einer Pädagogik der Menschenrechte. Dass die Philosophie diese Herausforderung angenommen hat, belegen die Diskussionen anlässlich der 200-Jahr-Feier von Kants Essay „Zum ewigen Frieden“ 1995, in der eben diese Fragen thematisiert wurden6, wie auch beispielsweise Otfried Höffes emphatisches Bekenntnis zur Philosophie als „Anwalt der Menschheit“.7 1 Fachliche Grundlegung: Menschenrechte zwischen Recht und Gerechtigkeit 1.1 Problemaufriss: Menschenrechte als philosophischer Diskurs ? Die Menschenrechte tragen ein Janusgesicht, das gleichzeitig der Moral und dem Recht zugewandt ist. Ungeachtet ihres moralischen Inhalts haben sie die Form juristischer Rechte. Sie beziehen sich wie moralische Normen auf alles, ‚was Menschenantlitz trägt’, aber als juristische Normen schützen sie einzelne Personen nur insoweit, wie sie einer bestimmten Rechtsgemeinschaft angehören. Diese Einlassung von Jürgen Habermas8 bietet einen guten Rahmen, um die Horizonte einer philosophischen Einlassung auf das Thema abzustecken. Genauer 4 5 6 7 8 Das vom „InterAction Council“ (einer Vereinigung ehemaliger Regierungschefs mit dem ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt als Ehrenvorsitzenden und Mitinitiator) herausgegebene Dokument wurde in Deutschland veröffentlicht in: Die Zeit v. 3.10.1997. In der „Zeit“ wurde im Anschluss auch eine heftige Debatte zum Wert dieser Erklärung geführt. In der erwähnten Debatte in der „Zeit“ hat darauf unter Berufung auf Kant am klarsten der deutsche Generalsekretär von „amnesty international“ Volkmar Deile hingewiesen: Rechte bedingungslos verteidigen; in: Die Zeit 21.11.1997. Vgl. Höffe (1995), Merkel (1996), Lutz-Bachmann (1996), Gosepath/Lohmann (1998), aber auch die Debatten in Die Zeit und Frankfurter Rundschau von 1996. Höffe (1999), S.34. - Weniger emphatisch, aber mindestens ebenso engagiert spricht etwa Jürgen Habermas der Philosophie aufklärenden Einfluss in der Deutung der Menschenrechte zu: Wahrheit und Rechtfertigung, Frankfurt 1999, S. 319, 332f. Jürgen Habermas. Der intellektuelle Diskurs über Menschenrechte; in: Brunkhorst (1999), S. 216. 346 4-5 Recht und Gerechtigkeit geht es darum, die bereits in der Einleitung angesprochenen Ebenen von Moral, Recht, Natur, Gesetz, Politik, Ökonomie und Gerechtigkeit, die in den Menschenrechten zusammenkommen, in ein klärendes Verhältnis zu setzen: • Der Moral zugewandt sind Menschenrechte, insofern wir in ihnen als Personen, d.h. fähig zu autonomen Entscheidungen hinsichtlich unserer Lebensgestaltung angesprochen sind.9 In diesem Sinne sind Verhältnisse von Moral Voraussetzung für Rechtsverhältnisse: Rechte haben können nur Personen. Und in den Menschenrechten geht es nicht um irgendwelche Rechte, sondern um eben die, die uns in unserem Personsein betreffen. • Der moralische Charakter der Menschenrechte impliziert noch etwas anderes: Es handelt sich um Ansprüche, die wir einander natürlicherweise zubilligen, ohne dass wir dies (wie bei Rechten im engeren Sinne) explizit miteinander vereinbart hätten, und auch intuitiv, ohne dass wir über ihren Sinn und ihre Gründe nachgedacht hätten. Daher ruft die Verletzung eines Menschenrechts in uns zuallererst ein moralisches Gefühl hervor. In diesem Gefühl haben wir den tieferen Grund, uns gegen die Verletzung eines Menschenrechts bzw. für seine Erhaltung auch einzusetzen, fühlen wir uns doch in der Verletzung gleichsam selbst verletzt. Die Traditionen des Naturrechts sehen daher im moralischen Charakter der Menschenrechte ihre eigentliche Begründung. • Menschenrechte ist aber zugleich Rechte. Das meint auf einer ersten Ebene, dass wir sie nicht nur für uns selbst beanspruchen, sondern allen Menschen zubilligen; ihr moralischer Anspruch der Wahrung der Person gewinnt aufgrund unserer Beziehung zu anderen rechtlichen Charakter. • Wenn wir aber über das unmittelbare Geltendmachen von Ansprüchen hinaus Menschenrechte als Rechte10 auch fixieren, so deswegen, weil wir über das moralische Betroffensein hinaus juridische Rahmenbedingungen für notwendig erachten, die die Einhaltung der Menschenrechte überwachen und Möglichkeiten und Mittel bereithalten, gegen ihre Verletzung einzuschreiten. Die Tradition des positiven, d.i. gesetzlich fixierten Rechts sieht im Unterschied zum Naturrecht hierin die einzige Möglichkeit einer allgemeingültigen Wahrung der Menschenrechte. 9 10 Zu dem hier unterstellten Begriff von Moral vgl. Kant: Grundlegung der Metaphysik der Sitten, sowie meine Erläuterungen im folgenden Kapitel 4-3-2, Abschnitt 1.2. Hinsichtlich der Begriffe „Anspruch“ und „Recht“ ist festzuhalten, dass ich mich hier nach der in der philosophischen Diskussion üblichen Begrifflichkeit richte, wonach Menschen grundlegend Ansprüche haben und geltend machen können, die dann als Rechte bezeichnet werden, wenn sie legalistisch fixiert und damit einklagbar sind. Juristen benutzen beide Ausdrücke in genau umgekehrter Bedeutung: Ansprüche sind konkret einklagbar gegen einen anderen oder gegen Institutionen, Rechte sind sehr viel weitere Bestimmungen, die mir als grundsätzlich Rechtsperson zukommen. 4-5 Recht und Gerechtigkeit 347 • Über die rechtliche Fixierung hinaus bedarf es jedoch auch realer politischer Verhältnisse, d.h. einer Rechtsgemeinschaft, die die verfassungsmäßig verankerten Menschenrechte nicht nur anerkennt, sondern auch eine politische Kultur besitzt, Menschenrechte konkret durchzusetzen. • Die Ebene der Gerechtigkeit kommt in einer ersten Bedeutung, nämlich als sozialpolitische Gerechtigkeit ins Spiel, wenn angesichts differenter sozialer Verhältnisse, heute durch ökonomische Globalisierung verstärkt, bestimmte Ansprüche, wie etwa auf Gesundheit, nicht in gleichem Maße für alle Menschen geltend gemacht werden können oder gar nur auf Kosten anderer. • Gleichwohl ist (dies ist über das Habermas-Zitat hinaus zu behaupten) weder mit einer rechtlichen Absicherung, noch durch eine politische Kultur noch durch ein gerechtes ökonomisches Gefüge letztlich dem Genüge getan, geschweige denn das hergestellt (und nicht nur gewährleistet), wonach alle in der Berufung auf Menschenrechte streben: die Anerkennung unseres Menschseins unabhängig davon, dass wir miteinander in moralischen, rechtlichen und ökonomischen Beziehungen stehen. In den Menschenrechten kommt insofern stets ein immer auch rechtstranszendenter Anspruch auf letzte Gerechtigkeit zum Ausdruck. Das Problem der Menschenrechte ist mithin nicht nur die fehlende Anerkennung und Durchsetzung in der politisch-ökonomischen Wirklichkeit, sondern auch die Frage, in welchem Sinne bzw. inwieweit es sich hier überhaupt um Recht handelt. Damit provoziert die Frage der Menschenrechte wie vielleicht kein anderes politisches Problem die Grundfrage allen Rechts, woraus nämlich einerseits alles Recht seine letzte Legitimation erhält, und warum wir andererseits zur Einhaltung eines elementaren Gerechtigkeitsanspruchs einer verlässlichen und einklagbaren Rechtsordnung bedürfen. Auf diese Frage konzentrieren sich die folgenden Ausführungen. 1.2 Zur Geschichte der Menschenrechte Die Menschenrechte würden die skizzierten Probleme nicht aufwerfen, würden mit ihnen nicht höhere als bloß rechtlich einklagbare „Rechte“ reklamiert, die jeder Mensch für sich sollte beanspruchen können ausschließlich aufgrund seines Menschseins und nicht aufgrund seines Status als Rechtsperson. Das weiß bereits die Déclaration des französischen Volkes vom 27.8.1789, wenn sie nicht nur eine Reihe grundlegender Rechte erklärt, sondern auch natürliche, unveräußerliche Menschenrechte, die in der Geschichte immer wieder missachtet und vergessen wurden, quasi wieder-erkennt. Menschenrechte müssen insofern schon immer gegolten haben. 348 4-5 Recht und Gerechtigkeit Das gilt nicht zuletzt für religiöse Zusammenhänge. So können beispielsweise in den Predigten der Propheten des sog. Alten Testaments durchweg Argumentationen auf der Basis heutigen Menschenrechtsverständnisses ausgemacht werden. Sie klagen gegen die jeweils Herrschenden sozial gerechte Verhältnisse ein unter Berufung auf eine letzte göttliche Gerechtigkeit, an der alle politischen Rechtserklärungen sich messen lassen müssen.11 Doch explizit Gegenstand politischer Verlautbarungen sind Menschenrechte erst mit der Neuzeit. Üblicherweise wird als erste Urkunde die von Virginia vom 12. Juni 1776 genannt. Ohne Einschränkungen, für alle und gleichermaßen bloß hinsichtlich des Menschseins (nicht hinsichtlich des Status als Bürger o.ä.) und daher unveräußerlich, mithin unabhängig auch von kriegerischen Verhältnissen oder der Aberkennung von Bürgerrechten, halten die Volksvertreter für alle Menschen von Natur aus … gewisse angeborene Rechte fest.12 - Damit ist historisch ein wichtiger Schritt getan, durch den - unter dem philosophischen Einfluss von Lockes „Second Treatise of Government“ von 1690 - eine ursprüngliche Menschenwürde nicht nur als Grundstein der Verfassung festgeschrieben wird, sondern auch einklagbar wird. Wenn gleichwohl auch in den Vereinigten Staaten elementare politische Freiheitsrechte erst Jahrzehnte später juristisch Wirklichkeit wurden (faktisch noch immer nicht), dann wohl deswegen, weil weder das zitierte Dokument noch die entsprechenden Verlautbarungen im revolutionären Frankreich die Erklärung der Menschenrechte selbst zum Ziel hatten; diese dienten vielmehr als argumentative Basis für die Emanzipation von der Kolonialmacht bzw. von den traditionellen Herrschaftsstrukturen Krone, Adel, Kirche. Damit war gleichwohl eine Bewegung in Gang gesetzt, die unter der Fahne von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als Demokratisierungsprozess mehr und mehr das gesamte Abendland mitgerissen hat. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 schließlich gilt als Versuch, auf die Zerstörung dieser Bewegung durch die Schrecken der beiden Weltkriege, insbesondere den Holocaust, eine auch völkerrechtlich wegweisende Antwort zu finden: Menschenrechte werden nunmehr nicht nur aufgelistet und bestätigt, sondern die Mitgliedstaaten verpflichten 11 12 Das gilt insbesondere für die vielzitierten Passagen des Propheten Amos, etwa 2,6ff oder 5,7ff, aber auch für entsprechende Passagen in den Büchern Leviticus (z.B. Kap. 25) oder Deuteronomium (Kap. 15). Alle diese und ähnliche Einlassungen berufen sich auf die Tora als göttlicher Weisung, die im Dekalog ihren Kernbestand zusammenfasst, wobei alle sog. Gebote von der Grundeinsicht abhängen, die den Gerechtigkeitsmaßstab für alle Rechtsverhältnisse liefert: „Ich bin JHWH, dein Gott, der dich aus dem Sklavenhause herausgeführt hat.“ (Dtn 5,6). – Zum theologischen Verständnis der Menschenrechte vgl. insbesondere H.E.Tödt: Menschenrechte – Grundrechte. In: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft. Teilbd. 27, Freiburg: Herder 1982, S.9-57, hier S. 46ff. Heidelmeyer (1982), S. 56. 4-5 Recht und Gerechtigkeit 349 sich, „die allgemeine Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten durchzusetzen“. Damit geht die UNO über die bloße moralische Selbstverpflichtung hinaus und realisiert, dass moralisch allein sich Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht verhindern lassen; andererseits bindet die Erklärung die ihr beigetretenen Staaten, gerade in Anerkennung der faktischen Nichteinhaltung von Menschenrechten bloß als „zu erreichendes Ideal“, auch politisch, ihrerseits konkrete Rechtsordnungen zu schaffen, die zunehmend die von ihnen global anerkannten Menschenrechte auch als einklagbare Grundrechte formulieren und somit dem moralischen Anspruch aller nach Gerechtigkeit nachkommen. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland hat im Art.1 eine für solche konkrete Rechtsordnungen wegweisende vierstufige Formel gefunden, indem die in ihm festgehaltenen und jede Rechtsprechung bindenden und einklagbaren Grundrechte ihrerseits gekoppelt werden an Menschenrechte, die wiederum einer rechtlich nicht fixierbaren Menschenwürde sich verdanken.13 Die weitere Geschichte lässt sich eher an einigen Fragen und Kontroversen ablesen, die in den unterschiedlichen völkerrechtlichen Pakten, den vielfältigen Diskussionen und den einschlägigen Veröffentlichungen der letzten Jahre ihren Niederschlag gefunden haben14: Müssen und können die einzelnen Länder alle Menschenrechte in ihre Verfassungen aufnehmen (auch in Deutschland ist das nicht der Fall!)? Ist eher den persönlichen und politischen oder eher den sozialen und kulturellen Grundrechten der Vorrang zu geben? Und wie steht es überhaupt um die Zuordnung und Nomenklatur der einzelnen Menschenrechtsgruppen: elementare Lebens-, negative Abwehr-, persönliche Freiheits-, politische Teilnahme- bzw. Gestaltungs-, soziale und kulturelle Teilhabe- bzw. 13 14 Von der Systematik dieses mit Recht gerühmten Art.I des GG her lässt sich die gesamte Thematik und Problematik des vorliegenden Kapitels aufrollen. In unvergleichlich klarer und klärender, konkrete Rechtsentscheidungen bindender zugleich aber sie auch erst eröffnender, weil nicht konkretistisch fixierender Weise sind die elementaren Rechtsbegriffe in Hierarchie gebracht. Der Klarheit halber setze ich nachfolgend diese tragenden Begriffe wie ihre syntaktischen Funktionen kursiv: „ (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. - (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletztlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. - (3) Die nachfolgenden Grundrechte binden [hier ist in der Logik eigentlich ein (4) zu setzen:] Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“ Sie können im begrenzten Rahmen des vorliegenden Beitrags nur aufgelistet, nicht differenziert erläutert werden; die im Anhang angegebene Literatur, insbesondere Brunkhorst (1999), Gosepath (1998), Höffe (1999), Shute (1996) enthält dazu die wichtigsten Informationen und vielfältige Literaturangaben. 350 4-5 Recht und Gerechtigkeit Leistungs- , kollektive und ökologische Rechte?15 Und in welchem Verhältnis stehen zueinander konkrete Menschenrechte und das Eine grundlegende Menschen-„Recht“ des Menschseins? Verdankt sich die Forderung nach Universalität der Menschenrechte einem einseitig westlichen Menschenbild oder ist sie generalisierbar? Sind politische Rahmenbedingungen wie das Demokratie-Prinzip Voraussetzung für Menschenrechte oder (nur) sinnvolle Institutionen ihrer Garantie? Hängt die Anerkennung von Menschenrechten vorrangig an ihrer rechtlichen Durchsetzung oder an ihrer moralischen Vergewisserung? Und: Ist die Rede von Menschenrechten sinnvoll allein in einem rechtlichpolitischen Rahmen, oder setzt sie tieferliegende anthropologische Einsichten voraus, vielleicht gar rechtstranszendente religiöse Glaubenssätze? 1.3 Ein Begriff der Menschenrechte Als Zwischenergebnis und zugleich Arbeitsgrundlage für eine differenziertere Erörterung von Begründung, Tragweite und Achtung sowie Erhaltung der Menschenrechte kann nun zumindest hypothetisch festgehalten werden, worum es sich bei Menschenrechten eigentlich handelt: (1) Zunächst einmal sind es Rechte, die für Menschen gelten. Das beinhaltet dreierlei: Erstens geht es um elementare Rechte, d.h. Rechte, durch deren Verletzung ein Mensch in seinem Menschsein (und nicht in seinem Status als Bürger, Familienmitglied, oder arbeitender Mensch) verletzt wird, durch das er also mit den Grundlagen seiner Existenz konfrontiert wird. Kant spricht in diesem Zusammenhang von einem einzigen „ursprünglichen“ „angeborenen“ Recht.16 – Der zuweilen gegen dieses anthropologische Verständnis sowie eine entsprechende Begründung der Menschenrechte vorgebrachte Vorwurf des Speziezismus geht ersichtlich an dieser Bedingung vorbei. Daher kommen in ihnen apriorische, von der Ausformulierung konkreter Rechte und Rechtsordnungen unabhängige „Rechte“ zur Geltung. Sie aber kommen jedem 15 16 Am einleuchtendsten differenziert hier Brieskorn (1997), S. 17f. Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten (1797), A 45. 4-5 Recht und Gerechtigkeit 351 Menschen zu auch unabhängig von seiner Einbindung in einen politisch-rechtlichen Verband. Doch fundamentalen und begründenden Charakter gewinnen diese drittens als Basis für alle konkreten Rechtsverordnungen. (2) Bei Menschenrechten handelt es sich nicht um Definitionen oder Wesensmerkmale von Menschsein, sondern um Rechte. Auch dies bedeutet dreierlei: Erstens ist von Rechten grundsätzlich nur die Rede in einem relationalen Verhältnis, hier von Menschen gegenüber Menschen. Das meint auch Kant, wenn jene ursprüngliche Freiheit „mit jedes anderen Freiheit“ zusammen soll bestehen können.17 Daraus ergibt sich, dass es sich, zumindest bei den ausformulierten Menschenrechten, um gesetzte Normen handelt, nicht um naturwüchsige. Drittens folgt aus beidem, dass es um prinzipiell nicht nur beanspruchbare, sondern auch einklagbare Rechte gehen muss. (3) Die zuletzt genannten rechtlichen Merkmale scheinen den ersten anthropologischen zu widersprechen. Das kann eine dritte Überlegung ausgleichen: Bei Menschenrechten geht es um Rechte hinsichtlich menschlicher Angelegenheiten. Damit ist viel gesagt, vor allem hinsichtlich dessen, was wir von ihrer Achtung erwarten dürfen: Wenn es sich um Rechte handelt, deren Einhaltung nicht beansprucht, Menschsein zu stiften oder zu gewähren, sondern nur zu wahren und innerhalb von Menschen gestifteten Ordnungen zu garantieren, gewinnt in ihnen ein ursprüngliches, möglicherweise vorrechtliches Menschen-„Recht“ als rechtlich-gesetzter Anspruch bloß Gestalt, kann aber mit konkreten Menschenrechten nicht identifiziert werden. Ihren Grund hat diese Einschränkung historisch: Bei Menschenrechten im engeren und hier favorisierten Sinn handelt es sich um eine Gestalt der Moderne, die versucht, für alle Menschen unabhängig von ihrem Status, unabhängig von ihrer kulturellen Einbettung, aber auch unabhängig von ihrer weltanschaulichen Begründung Rechte festzumachen, die für alles menschliche Verhalten untereinander konstitutiv sind. Ein religiöser oder metaphysischer Sinn von Menschenrechten als Begründung von Menschsein wird damit nicht abgelehnt, wird aber in dem Problem der Geltung und Achtung der Menschenrechte nicht direkt berührt. 17 Ebd. 352 4-5 Recht und Gerechtigkeit Damit ist drittens gemeint, dass ihre Achtung nicht in einem Naturautomatismus passiert, sondern unser menschliches Handeln beansprucht: Wir sind verantwortlich, durch moralische Normen, vor allem aber politische und rechtliche Ordnungen ihre Achtung auch zu vollziehen. Wir selbst sind es aber auch, die aufgerufen sind, uns in einen Diskurs zu ihrer verallgemeinerbaren Begründung und Anerkennung einzulassen. Die Rede von Menschenrechten beinhaltet mithin eine dreistellige Relation: Einerseits geht es in ihnen nur um solche Belange von Menschsein, die auch rechtliche Relevanz gewinnen können, so dass die Beurteilung, ob ein Menschenrecht verletzt ist bzw. wie es eingeklagt werden kann, allein vom Rechtsstatus eines entsprechenden Falls her erfolgen kann. Andererseits hat die Legitimität eines Menschenrechts ihr letztes normatives Kriterium nicht in sich selbst, sondern im Menschsein, so dass ein Menschenrecht stets über seinen Status als Recht hinausweist; dies darf und muss als eher moralische Ebene in seiner Beanspruchung mit bedacht werden. Eine dritte fundamentale Tatsache ist es, dass bei Menschenrechten stets von Menschen verursachte und daher auch zu verantwortende Relationen zwischen Menschen zur Debatte stehen, nicht also das für Menschen selbst nicht mehr disponible Menschsein selbst. Die Bezeichnung jener Relationen als Rechte verdankt ihre Berechtigung gleichwohl einem Gerechtigkeitsanspruch, der in allen Rechten Gestalt gewinnt, aber daher gegen alles positive Recht stets auch „ein höheres Recht“ beansprucht.18 1.4 Recht und Gerechtigkeit Durch unseren Versuch einer hypothetischen Definition der Menschenrechte ist auch deutlicher geworden, warum mit der Frage der Menschenrechte auch die grundlegende Frage nach dem, was überhaupt Recht ist, zur Debatte steht, genauer die Frage nach dem Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit. Das gilt es in einem letzten Abschnitt genauer zu beleuchten. Auffallend ist, dass die rechtstheoretischen Diskussionen sich genau um die Bestimmung dieses Verhältnisses bewegen. Drei idealtypische Positionen haben in der Geschichte des Rechts Einfluss gewonnen: Positives Recht ist der unmittelbare Ausfluss einer dem Recht übergeordneten, aber rechtstranszendenten Gerechtigkeit. (An ihr hat jedes Recht daher ihr letztes normatives Kriterium.) 18 Vgl. G.W.F.Hegel (1821): Grundlinien der Philosophie des Rechts § 30. 4-5 Recht und Gerechtigkeit 353 Gerechtigkeit ist nichts anderes als der durch positives Recht herstellbare (bzw. nach Ansicht einiger auch hergestellte) Rechtszustand. Die Sphäre der Gerechtigkeit ist eine gegenüber der des Rechts indifferente, so dass a) entweder Gerechtigkeit durch positives Recht nie herstellbar ist, aber gleichwohl sein Kriterium an ihr haben kann oder b) Gerechtigkeitsanforderungen Geltung und Inhalt des positiven Rechts nicht berühren. Natürlich kommt es auch zu Interferenzen; so sind durchaus Berührungen zwischen 1) und 3a) möglich wie auch zwischen 2) und 3b). Wichtiger als eine typologische Einordnung einzelner Positionen ist es jedoch, ihre Aussagekraft wie ihre Gefahren auszuloten und auf die Bedeutung für die Menschenrechte hin zu überprüfen, was an den wichtigsten Stationen der Rechtsgeschichte19 studierbar ist: • Bereits in der urgriechischen Mythologie stehen sich keineswegs Themis als göttliche Satzung und Dike als menschliches Rechts schlicht entgegen. Themis ist vielmehr die gesamte dem Verlauf von menschlichem Händel und Geschehen wesentlich entzogene ursprüngliche und darum als göttlich empfundene Lebensordnung: Als Prinzip allen Lebens ist sie jedoch zugleich die Ordnung, die in den Wachstumskräften und gesetzmäßigen Abläufen lebendiger Wirklichkeit wiederzuerkennen ist. Eine dieser in Themis eingebundenen realen Ordnungen ist Dike, die die konkrete Gestaltung des Rechtslebens durch den an der Gerechtigkeit orientierten Rechtsspruch sichert. Diesem rechtstheoretischen Grundmuster folgen die meisten antiken wie auch mittelalterlichen philosophischen wie religiösen Rechtsanschauungen, die menschliche Rechtsordnungen bis hin zu politischen Ordnungsstrukturen an ein kosmisches oder göttliches Rechtsideal binden. Obwohl Menschenrechten vergleichbare Rechtsbestimmungen in ihnen durchaus zu finden sind, ist hier nicht ausdrücklich von Rechten von Menschen die Rede, denn der Gedanke eines Rechts eines Einzelnen gegenüber Institutionen aufgrund seiner selbstverständlichen Einbindung in die Gemeinschaft ist noch nicht ausgebildet. Wenn Einzelne oder Gruppen oder auch politische Institutionen Menschen gegenüber ungerecht sind, wird dies als Verstoß gegen höhere Ordnungen interpretiert, nicht als Verstoß gegen Rechte einzelner Menschen ihnen gegenüber. Der Bruch dieses Denkens war unvermeidbar, als in den neuzeitlichen Konfessionskriegen die Bindung an göttliches Recht zu konkurrierenden Auslegungen 19 Vgl. dazu die umfangreichen, aber präzis und differenziert orientierenden Artikel „Recht, Gerechtigkeit“ von F.Loos/H.L.Schreiber in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 231311, „Gerechtigkeit“ von R.Hauser/F.Loos/H.L.Schreiber/H.Wenzel in: Hist.WB d. Philosophie, Bd. 3, Basel 1974, Sp. 329-338, und „Recht“ von M.Herberger in: ebd., Bd. 8, 1992, Sp. 221-229. 354 4-5 Recht und Gerechtigkeit führte. Dagegen half nur die Idee, die Konstituierung von Recht wie auch das Kriterium seiner Gerechtigkeit an die vertragliche Übereinkunft der beteiligten Rechtsgenossen zu binden. Naturrechtlicher Status kam eben dieser Übereinkunft zu. Das neuzeitliche Naturrecht verankert das unveräußerliche Menschsein des Menschen daher nicht mehr in einer dem Menschen entzogenen kosmischen oder göttlichen Ordnung, sondern in einer menschlicher Macht und Selbstbestimmung überantworteten Vernunft – so, bei allen Unterschieden, die Konstruktionen von Hobbes über Locke bis zu Rousseau. Daher werden auch die Menschenrechte erst mit dem Subjektivitätsdenken der Neuzeit expliziter Gegenstand politischer Vereinbarungen. • Wie aber war nun, entkoppelt von einer metaphysischen Fundierung auch eine allgemeinverbindliche Begründung von Menschenrechten möglich? Die entscheidende Überlegung dazu stammt von Kant, der „die Idee der Würde eines vernünftigen Wesens“ wie auch das daraus sich ergebende einzige „jedem Menschen [nur] kraft seiner Menschheit zustehende Recht“ nicht mehr als inhaltliches, sondern (nur) formales Prinzip aller Rechtsordnung versteht20, woraus dann erst sich konkrete Menschenrechte ergeben, die mit dieser formalen Grundlegung ihrerseits höchstmögliche Allgemeinheit und Universalität beanspruchen können. • Die Schwachstelle eines solchen formalen Rechtsprinzips hat vielleicht am besten Marx artikuliert, in der Gefahr, jene grundlegende Freiheit des Menschen als lediglich negativ-absondernde Unabhängigkeit von anderen zu verstehen. Das aber ließe „jeden Menschen im andern Menschen nicht die Verwirklichung, sondern vielmehr [nur] die Schranke seiner Freiheit finden.“21 Diesen Gedanken des Einbaus von Allgemeinheit als Sozialprinzip in die Idee der Freiheit des Menschen hat Marx Hegel zu verdanken, der seinerseits den bloß gemeinschaftlichen Charakter einer Rechtsordnung an dem abstrakten Freiheitsbegriff Rousseaus kritisiert hatte, freilich um den Preis einer erneuten (metaphysischen) Einbindung jeder Rechtsordnung in „höheres Recht“.22 • Der Rechtspositivismus, der in der Nachfolge der Historischen Rechtsschule des 19.Jh. das Rechtsdenken im 20.Jh. bestimmt hat, tendiert hingegen dazu, den Standpunkt absoluter und Recht letztlich normierender Gerechtigkeit als „irrationales“, ja den Rechtsstatus von Rechtsverhältnissen gefährdendes Ideal abzuweisen (Kelsen). Die positivistische Gewährleistung von Rechtssicherheit kann freilich, so auch der 20 21 22 Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), A 77, und: Metaphysik der Sitten (1797), A45. Karl Marx: Zur Judenfrage (1843); MEW Bd. 3, S. 64f. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), §258, § 30. 4-5 Recht und Gerechtigkeit 355 späte Radbruch, zu Konflikten mit elementaren Gerechtigkeitsforderungen führen, die gegen ungerechte politische Regimes geltend gemacht werden müssen. • Die Kontroverse um die Grundlegung der Rechtsordnung und ihrer Bindung an allgemeingültige menschenrechtliche Normen entweder in einem liberal-personalen oder in einem kommunikativ-sozialen Freiheitsprinzip reicht bis in die Gegenwart hinein. Die jüngere Debatte etwa zwischen Liberalen wie Rawls und Kommunitariern wie MacIntyre, Taylor und Walzer23 hat deutlich gemacht, dass die Grundlegung einer Rechtsordnung und ihrer Bindung an allgemeingültige menschenrechtliche Normen in einem liberal-personalen oder in einem kommunikativ-sozialen Freiheitsprinzip nicht als ausschließender Gegensatz gesehen werden kann. Vielmehr stehen liberale, soziale und auch kollektive Ansprüche in einem gegenseitigen Bedingungsverhältnis, das je aktuell auszuloten ist. • Auch ein utilitaristisch verkürztes Gerechtigkeitsverständnis äußerlicher Verteilung vermag Menschenrechte nicht zu sichern. Das hat etwa Rawls bewogen, ein Gerechtigkeitsprinzip zu etablieren, das auch den Ausgleich unverschuldeter Ungleichheiten beinhaltet, freilich auf der Grundlage eines liberal-individualistischen Denkens.24 Gegen die Gefahren liberalistischer Willkür und Ungerechtigkeit klagt Habermas darum politische Rahmenbedingungen ein, die letztlich allein das Recht als gerecht sichern können25, während Tugendhat ein Kriterium für ein gerechtes Recht eher im System der Moral sucht26. Systemtheoretische analytische Rechtstheorien wiederum tendieren dazu, eine Gerechtigkeit als Kriterium gegenüber Recht als bloß malerischen, aber nicht logischen und daher irrelevanten Begründungsversuch für Recht abzuweisen (Luhmann).27 • Wenn Luhmann gleichwohl Menschenrechten die Funktion zuspricht, Zukunft offen zu halten, bricht auch in diesem vielleicht modernsten Versuch einer nichtmetaphysischen, sondern Wirklichkeit nurmehr präzise sowie verlässlich beschreibenden Rechtstheorie das alte Problem des Gegensatzes zwischen Recht und höherer Gerechtigkeit durch, das auf die geschichtsphilosophische Dimension allen Rechtsdenkens verweist: Wenn dem Menschen in seinem Menschsein letztlich Gerechtigkeit widerfahren soll, scheint der Gedanke einer rechtstranszendenten Gerechtigkeit 23 24 25 26 27 Vgl. dazu vor allem die Anthologie einschlägiger Aufsätze Honneth (1995), sowie die Einführungen von Reese-Schäfer (1995) und Zahlmeister (1992). John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit (1971), Frankfurt 1975; sowie: John Rawls: Die Idee des politischen Liberalismus, Frankfurt 1992. Vgl. vor allem Jürgen Habermas: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt 1996; sowie: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt 1994. Ernst Tugendhat: Vorlesungen über Ethik, Frankfurt 1993, 13.Vorlesung. Niklas Luhmann: Das Recht der Gesellschaft. Frankfurt 1993, S. 116. 356 4-5 Recht und Gerechtigkeit nicht verabschiedet. Benjamin sah sie in der Tradition jüdischer Geschichtsphilosophie als die alle Rechtsetzung als Akt von Gewalt entlarvende, ihren Gewaltcharakter letztlich vernichtende, doch ihren Gerechtigkeitsanspruch erlösende und damit Recht nicht mehr setzende, sondern Gerechtigkeit waltende göttliche Gerechtigkeit.28 - Die in allen Verfassungen oder völkerrechtlichen Pakten sinnvollerweise stets nur benannte, nie aber definierte Menschenwürde, die selber kein Recht ist, aber Grundlage und Voraussetzung aller konkreten Menschenrechte, findet in dieser Denkfigur eine zumindest einleuchtend sinnstiftende Begründung.29 28 29 Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt (1921), in: GS II/1, Frankfurt 1977, S. 179ff, bes. S. 198f. Auf den theologischen Bezug dieses Satzes kann im vorliegenden Rahmen nicht näher eingegangen werden. Es liegt auf der Hand, dass an dieser Stelle die biblische Rede von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen (Gen 1,27, indirekt aber auch Gen 2,7) entfaltet werden müsste. Das würde deutlich machen, dass nicht nur letzte Gerechtigkeit, sondern auch Menschsein selbst nicht in der Disposition menschlichen Handelns stehen. Daraus folgt wiederum, darauf sei hier jedenfalls kurz verwiesen, dass die Menschenwürde natürlich nicht als Eigenschaft des Menschen zu verstehen, sondern als kategoriale Wesensbestimmung. Das macht auf philosophischer Ebene bereits Kant in seiner „Grundlegung“ (Kant (1785), A 77) mit wenigen Worten klar: An die Stelle der Würde kann nichts anderes gesetzt werden, sie verstattet kein Äquivalent, ist daher nicht relativ und kann auch nie zur Disposition stehen. Das bedeutet natürlich nicht, dass wir nicht in unserer Würde auch verletzt werden könnten. Eben diese Unterscheidung zwischen (möglicher) Verletzung und (nicht möglicher) Vernichtung menschlicher Würde wird, nebenbei bemerkt, in neueren Debatten insbesondere bioethischer Provenienz, nicht selten zum Nachteil für die Diskussion übersehen. 4-5 Recht und Gerechtigkeit 2 Unterrichtspraktischer Teil: Unser tägliches Brot gib uns heute. Zum Problem der rechtlichen Einlösung fundamentaler Lebensansprüche 2.0 Begründung und Zielsetzung 357 Im folgenden wird bewusst ein eher strittiges Beispiel als Thema zur Erläuterung der Möglichkeiten einer unterrichtlicher Umsetzung gewählt. Damit sollen Folter, willkürlicher Entzug elementarer juristischer Ansprüche oder Verfolgung nicht herabgesetzt werden. Die Auseinandersetzung mit solchen Menschenrechtsverletzungen setzt aber ihren Unrechtscharakter wie entsprechende Rechtsansprüche schon voraus und zielt somit eher auf politische Aufklärung bzw. Übernahme politischer Verantwortung. Philosophisch interessanter, weil auch die rechtlichen Grundlagen problematisierend, wäre die Frage der Anwendung ungerechter, sprich gewalttätiger Mittel zur Erreichung eines in sich gerechten Zwecks, etwa bei der Frage des militärischen Eingreifens gegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Bürgerkriegssituationen. Doch auch hier steht nicht die evidente Verletzung von Menschenrechten zur Debatte, sondern die Art ihrer Verteidigung. Kritischer wird die Diskussion elementare Ansprüche, zumal wenn Gründe für den Bruch elementarer Menschenrechte dabei nicht eindeutig auszumachen sind, oder wenn nicht klar ist, ob in der Verletzung elementarer Ansprüche überhaupt Menschenrecht verletzt wird. Das ist der Fall beim Phänomen Hunger, unter der Voraussetzung freilich, dass Hunger heute oft nicht mehr ein (allein) durch Naturkatastrophen verursachtes Schicksal darstellt, sondern ein durch menschliches Verhalten herbeigeführtes bzw. in Kauf genommenes Unrecht oder wenigstens eine Situation, die durch menschliches Eingreifen zu verhindern ist. Spannend wäre auch die Diskussion um die Tragweite subsistentieller Lebensansprüche wie z.B. auf technisch komplizierte und teure Gesundheitsleistungen. Solche Fragen reichen stark auch in die an anderer Stelle verhandelte Frage ethischer Entscheidungsfindung hinein; auch deshalb wähle ich hier das Beispiel Hunger. Der Vorschlag ist zunächst für die Sek I konzipiert. In der 9./10. Klasse sehen eine Reihe von Lehrplänen der Fächern Ethik wie Geschichte/Gemeinschaftskunde explizit die Auseinandersetzung mit Menschenrechten vor. Für diese Altersstufe sinnvoll betone ich einige präsentative und erfahrungsorientierte, das affektive Element und die Zielsetzung der Orientierung berücksichtigende Zugänge. Unter gezielterer Erörterung auch der rechtsphilosophischen Kategorien, entsprechender Quellen sowie reflexiver Elemente bietet sich der Vorschlag ebenso für die Sek II an. Auf 358 4-5 Recht und Gerechtigkeit detaillierte methodische Ausführungen verzichte ich und skizziere nur exemplarisch einige sinnvolle Unterrichtselemente unter besonderer Aufmerksamkeit für die philosophische Erarbeitung des Themas: 2.1 Präsentativer Einstieg Die Auseinandersetzung beginnt mit einem präsentativen Einstieg: Gezeigt wird das folgende Bild, am besten als Folie. 30 Die Erarbeitung erfolgt unter den für Bild-Erschließung sinnvollen Kriterien: a) des unmittelbar rezeptiven Zugangs, b) der ikonografischen Erschließung, c) der ikonologischen Deutung und d) der rezeptionsästhetischen Beanspruchung.31 30 31 Bild aus einem Artikel aus: Die Zeit, Nov.1998. Zur Arbeit mit Bildern vgl. meinen Kommentar zur Auftakt-Doppelseite des Kap.7 (Spurensuche) im Lehrerband „Ich bin gefragt“. Ethik 9/10. Berlin: Volk und Wissen 2002. Die Kriterien beziehen sich auf Arbeiten von Erwin Panofsky (1931 und 1957, hier insbes. S. 51) sowie MüllerDoohm (1997). – Zur genaueren Begründung des Präsentativen vgl. auch die Erläuterungen zum Einstieg in Kapitel 4-2, in der Einleitung zum Kapitel 4-1 sowie in der Einleitung, Abschnitt 2.2. 4-5 Recht und Gerechtigkeit 359 Durch differenzierte Fragestellungen lässt sich stichwortartig festhalten, z.B. in einer mindmap mit den Ästen „erste Eindrücke – differenzierte Elemente – begründete Deutungen“: ad a) das Bild einige Minuten ohne Kommentare betrachten einige elementare Assoziationen sowie persönliche Reaktionen zum Bild (schriftlich) zusammentragen; das Bild mit möglichst wenigen Begriffen, einer These oder einer Frage betiteln in einer Kleingruppe Eindrücke austauschen ad b) Was genau ist das bzw. könnte das sein, was wir da sehen? ad c) Fallen uns besondere Bild-Konstruktionen auf, die möglicherweise sinnfällig sind? Versuch, erste Deutungen in Worte zu fassen. ad d) Beziehen wir uns nun selbst auf dieses Bild: Kommen wir dort vor, haben wir etwas damit zu tun? Inwiefern? – Warum zeigen wir auf die Abbildung bestimmte Reaktionen? Die Anbindung an das Thema Menschenrechte findet mithilfe folgender Anstöße statt: Das Bild sollte als Einstieg dienen zum Thema „Menschenrechte“; inwiefern leuchtet diese Themenstellung auf der Basis der besprochenen ersten Eindrücke ein? Warum/inwiefern hättet ihr für das Bild ein ganz anderes Rahmenthema erwartet? Passt möglicherweise das Thema „Menschenrechte“ nach eurem Eindruck für das Bild gar nicht? Warum? Formuliert schließlich, ausgehend vom Bild und seiner Diskussion, einige Fragen zum Thema Menschenrechte, die euch wichtig erscheinen für eine Auseinandersetzung. Welche Zielsetzungen verbindet ihr mit euren Anfragen, welche Erwartungen habt ihr, wenn sie im Unterricht zur Sprache kommen? Kommentar zur Zielsetzung dieses Einstiegs: • Erstens soll von vorneherein der moralische Anspruch von Menschenrechten verdeutlicht werden. Er bildet die Grundlage zugleich für den universalen Charakter der Menschenrechte, die jeden Menschen in die Verantwortung nehmen. 360 4-5 Recht und Gerechtigkeit • Zweitens soll jedoch vermieden werden, dass die Kinder und Jugendlichen mit dem moralischen Anspruch als bloß äußerer Norm konfrontiert werden. Vielmehr wird durch den affektiven Charakter des Präsentativen der je persönliche Herausforderung durch die Menschenrechte Raum gegeben. • Die Vielschichtigkeit des Bildes ist bewusst gewählt, um die Vielschichtigkeit und auch nicht eindeutige Einordnung dieses Bildes in den Katalog von Menschenrechten herauszustellen. Das Thema Menschenrechte wird so als Frage zur Sprache gebracht, die es als Problem zu erschließen gilt. So können wir durch das Bild fragen, ob sich der verhüllte Mensch überhaupt in einem Menschenrecht verletzt fühlt oder ob hier wirklich die Verletzung eines Menschen-Rechts vorliegt oder eher die Würde und das Menschsein des Menschen infrage steht; schließlich kann in aller Schärfe die Frage nach Möglichkeiten und Ohnmacht moralischer wie rechtlicher Hilfs-Maßnahmen aufbrechen. 2.2 Menschenrechte kennen lernen Folgen sollte dann die Verortung des im Bild dargestellten Unrechts in den Menschenrechten. Eher sachorientiert ist nun das Ziel, Menschenrechte kennen zu lernen sowie verschiedene Gruppen von Menschenrechten zu differenzieren. (1) Zu beginnen ist mit kurzen Sammlungsaufgaben: bekannte elementare Menschenrechte nennen Einordnung des Bildes Menschenrechten in Gruppen einteilen (2) Diesem die zufällige persönliche Kenntnis aufnehmenden Schritt folgt die Kenntnisnahme bzw. Erläuterung und Ordnung der 1948 von der UNO erklärten Menschenrechte. Zunächst sind die genannten Vorschläge in dem nun vorzulegenden Katalog wiederzuerkennen. Eventuell dort nicht gefundene Vorschläge sollten festgehalten werden, um dies später zu überprüfen. Konkreter ist dann (mit Hilfestellung) das im Bild Gemeinte in den Menschenrechtskatalog einordnen. Dann ist die Ordnung der Menschenrechte zu wiederholen, verbunden mit dem Versuch, die Gruppen zu benennen; auf die übliche Unterteilung kann verwiesen werden: elementare „Rechte“ des Menschseins - persönliche 4-5 Recht und Gerechtigkeit 361 Freiheitsrechte – politische Teilnahme- bzw. Gestaltungsrechte – soziale Teilhaberechte. Vertiefend ließe sich eine Diskussion anzetteln um die Wertigkeit und Reihenfolge der verschiedenen Gruppen, verbunden mit einer Recherche zu den politischen Motiven unterschiedlicher Gewichtungen. Fächerübergreifend (z.B. bei Projektarbeit) können Informationen aus dem Geschichtsunterricht zur Entstehung der Menschenrechtserklärung und den Streit um ihre weitere Differenzierung eingebracht werden. Für höhere Klassen empfiehlt sich die Verortung der Erklärungen in einschlägigen politiktheoretischen und philosophischen Texten, z.B. Hobbes, Locke, Rousseau, Kant. (3) Nun kann der Art. 25 genauer betrachtet werden: Jeder Mensch hat Anspruch auf eine Lebenshaltung, die seine und seiner Familie Gesundheit und Wohlbefinden, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztlicher Betreuung und der notwendigen Leistungen der sozialen Fürsorge gewährleistet, er hat das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität, Verwitwung, Alter oder von anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände. Zunächst ist analytisch festzuhalten, was alles genauer dem Schutz dieses Menschenrechts unterliegt und wer jeweils davon betroffen ist. Daraus ergibt sich fast zwangsläufig die Frage nach der Problematik der hier erklärten Rechte: Wer kann sie verletzten, wem gegenüber kann sie wer einklagen? Fortgeschrittene Klassen schließlich können die deutsche mit der englischen bzw. französischen Fassung vergleichen und das Wort „Anspruch“ im Unterschied zu „Recht“ zur Diskussion stellen (die anderen Fassungen differenzieren nicht und sprechen nur von „right“ bzw. „droit“). Interessant wäre auch der Versuch, Gründe zu finden, warum sich dieser Artikel im deutschen Grundgesetz nicht findet. Das tiefere Ziel dieser Untersuchungen ist, über die Einordnung des Art.25 hinaus an diesem Beispiel die Hintergründe, Möglichkeiten und Grenzen juristischer Codifizierung von Menschenrechten bewusst zu machen und damit philosophisch den Rechtscharakter der Menschenrechten zu problematisieren. 362 4-5 Recht und Gerechtigkeit (4) Eine erste Zusammenfassung, zugleich einen Rahmen für weitere Unterrichtselemente bieten die folgenden Fragen. Höhere Klassen sollten sie in Arbeitsgruppen erörtern und die Antworten in Arbeitsthesen bzw. hypothetischen Definitionen festhalten: Was ist überhaupt ein Menschenrecht? Lassen sich dafür sinnvolle, begründete und überprüfbare Kriterien festhalten? Wie weit reicht ein Menschenrecht, was alles ist eingeschlossen? Wann wird ein Menschenrecht verletzt? Wer ist jeweils dafür verantwortlich zu machen? Wem gegenüber kann eine Verletzung zur Klage gebracht werden? Welche notwendigen Bedingungen können genannt werden zur Bewahrung und Erhaltung der Menschenrechte? Welche weiteren Faktoren sind dabei zu bedenken (ökonomische Strukturen, politische Systeme, infrastrukturelle und technische Möglichkeiten etc.)? Welchen (prinzipiellen) Grenzen ist die Einhaltung von Menschenrechten ausgesetzt? Ein Korrektiv erhalten die entsprechenden Antworten durch die Konfrontation mit kurzen definitorischen Texten aus der einschlägigen Literatur, z.B. Brieskorn (1997), S.17ff, S.102ff, oder Lohmann (1998), S.63ff, oder Höffe (1999), S.62ff. Die weiteren Unterrichtssequenzen werden nur kurz als Vorschläge skizziert. Wichtig für ihre konkrete Konzeption ist dabei das rechte Maß zwischen textgestützten Erörterungen, erfahrungsdimensionierten Informationen und handlungsorientierten Erarbeitungen: 2.3 Diagnose von Unrechtsverhältnissen Für eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema Menschenrechte ist zunächst eine genauere Diagnose von Unrechtsverhältnissen erforderlich. Ziel ist es dabei, nicht nur Sensibilität für die Verletzung von Menschenrechten zu wecken, sondern auch unter dem Anspruch einer kritischen Theorie und Zeitdiagnose Ursachen für Menschenrechtsverletzungen über eine faktizitär-empirische Sicht hinaus differenziert zur Sprache zu bringen. 4-5 Recht und Gerechtigkeit 363 Ausgehend von dem Impulsbild und der in 2.2. vorgenommenen Einordnung des Phänomens Hunger in die Reihe von Menschenrechtsverletzungen ist nun differenzierter zu fragen: Wie und wodurch kann entstehen, was wir auf dem Impulsbild gesehen haben? Was eigentlich sind Hungersnöte? Welche Faktoren spielen bei einer Hungersnot eine Rolle? Einzelne Faktoren sind genauer in ihrem Verhältnis zueinander auszuloten: Armut – Arbeitslosigkeit – ungerechte Verteilung von Lebensmitteln – ungerechte Verteilung von Produktionsmitteln zum Erhalt von Lebensmitteln wie Land, Landqualität, Einsatz von Technik beim Säen und Ernten (bis hin zu modernen Biotechnologien) – Globalisierung vs. Regionalität der Nahrungsmittelproduktion – Nahrungsmittel-Kartelle / Preisabsprachen – geografische / politische Infrastrukturen … Welche Rolle spielen beim Phänomen Hunger soziale Faktoren wie Einsamkeit, Indifferenz, soziale Kälte, Agonie, Verstädterung, und ökologische Faktoren wie Klimaveränderung, Monokultur? Haben sich heute Faktoren, die zu Hunger führen, im Vergleich zu früheren Zeiten geändert? Inwiefern/wo ist es heute (noch) gerechtfertigt von Hunger-„Katastrophen“ zu sprechen? Handelt es sich um reine Naturkatastrophen? Die Diagnosen können von der Sache her nur interdisziplinär erfolgen. Wichtige Bezugspunkte für Quellenmaterial bieten hier aktuelle Zeitungsmaterialien zu Hungersnöten, differenzierte Materialien von Hilfsorganisationen wie UNICEF, Misereor, Brot für die Welt, (die auch politische Studien etwa zur Landverteilung bieten), auch durch Internetrecherche, wirtschafts- und ernährungs-wissenschaftliche Studien wie das Buch J.Lutzenberger/F.T.Gottwald: Ernährung in der Wissensgesellschaft. Vision: Informiert essen. Frankfurt/M.: Campus 1999, oder R.Strahm: Warum sie so arm sind, Wuppertal 9.Aufl.1995. 364 2.4 4-5 Recht und Gerechtigkeit Bedingungen zur Verhütung von Hunger Der Folgeschritt hat elementare Bedingungen zur Verhütung von Hunger zu benennen, auszuloten und gegeneinander abzuwägen. Dafür sind zwei Fragedimensionen zu unterscheiden, die hier nur kurz angedeutet werden können: a) Warum überhaupt sollen wir Hunger verhüten und bekämpfen – der anthropologische und moralische Diskurs. – Hier können Fragen zur Sprache kommen nach dem Menschsein des Menschen, inclusive des Problems der Einordnung von Hunger in die Übel des physischen Mangels, des moralisch Bösen oder der metaphysischen Endlichkeit32, nach Grundbedingungen guten Lebens/Überlebens33, nach dem Verhältnis von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit34, nach Dimensionen der Gerechtigkeit (Verteilung und/oder Rechtfertigung)35, nach der Rolle religiöser Normen (z.B. anhand des Versuchs, die „Vaterunser“-Bitten nach Brot und Schuldvergebung in Relation zu setzen36), nach ethischen Begründungen: um des Gutgehens willen oder aus Verpflichtung gegenüber menschlicher Würde, etc. b) Wie und mit welchen Programmen ist Hunger am besten zu bekämpfen und zu verhüten – der politische und infrastrukturelle Diskurs. – Unter philosophischer Perspektive sind hier Fragen interessant nach dem Status der moralischen Verantwortung, der juristischen Absicherung und dem Verhältnis beider, nach den entsprechenden moralischen, juristischen, ökonomischen, politischen Voraussetzungen und Lösungsstrategien zur Wahrung der Menschenrechte, speziell auch nach dem 32 33 34 35 36 Diese Unterteilung geht zurück auf den Abschnitt I.21 der „Théodicée“ von Leibniz (Leibniz 1720). Natürlich ist sie nicht akademisch gemeint. Vielmehr hat eine entsprechende Zuordnung erhebliche Konsequenzen für die Einschätzung und auch Bekämpfung von Hunger. Sättigung gehört natürlich zu den Grundbedingungen menschlichen Lebens. Interessant wird diese Tatsache jedoch, wenn sie politisch in Konkurrenz zu anderen subsistentiellen Ansprüchen oder zu marktwirtschaftlichen und konsumorientierten Gesichtspunkten (etwa der Vernichtung und auch schon luxuriösen Verschwendung von Lebensmitteln) diskutiert wird. Das hat natürlich erhebliche moralische Konsequenzen, aus welcher Motivation heraus ich also zur Linderung und Bekämpfung von Hunger verpflichtet bin, bis hin zur problematischen Klärung der Eigentumsfrage. Unmittelbar einleuchtend ist es etwa, dass die Verteilungsgerechtigkeit kein hinreichendes Kriterium zur Linderung von Hunger darstellen kann, die Frage andererseits in Situationen allgemeinen Mangels nicht leicht zu entscheiden ist. Gemeint ist hier vor allem die Diskussion, warum sich die Einlösung elementarer Ansprüche gerade an Gott richtet und welche Konsequenzen das hat. Die Verbindung der Bitte um Brot mit der um Schuldvergebung verbietet eine quietistische Haltung, als sei es quasi Schicksal, satt werden zu können oder hungern zu müssen, entlastet aber andererseits in dem Problem, in der Bekämpfung von Hunger auch an sozusagen natürliche Grenzen von Ressourcen oder auch Machbarkeit zu gelangen. 4-5 Recht und Gerechtigkeit 365 Vergleich mit ähnlichen Diskursen zur Verhinderung von Krankheiten oder auch sozialer Absicherung, schließlich nach Problemen wie etwa dem Teufelskreis von Arbeitslosigkeit, Armut, Hunger, Agonie, oder dem Subsidiaritätsproblem der Hilfe zur Selbsthilfe zwischen notwendiger unmittelbarer Hilfeleistung und durch Hilfe erzeugter Abhängigkeiten sowie Anspruchshaltungen, oder auch dem Problem des Ausgleichs zwischen Verteilungsgerechtigkeit nach dem Gleichheitsmaßstab und Zuteilungsgerechtigkeit nach dem Bedürftigkeitsmaßstab. 2.5 Grenzen in der Bekämpfung von Hunger Schließlich sind im Sinne der Einbindung in das Rahmenthema „Gerechtigkeit“ Grenzen in der Bekämpfung des Hungers zu erörtern, a) einerseits politisch-ökonomisch zu bedenkende Grenzen, wie die Frage nach dem Verhältnis von Verfassungsideal und Verfassungswirklichkeit, nach der Möglichkeit strafrechtlicher Institutionen und Sanktionen, nach der Möglichkeit bürgerrechtlicher Bewegungen, nach dem Verhältnis zwischen politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen (Stichwort „Globalisierung“) usw. b) andererseits anthropologisch-metaphysische Grenzen, wie die Frage nach Perfektibilität und Imperfektibilität der Sicht des Menschen, wie auch die Schwierigkeit der Benennung elementarer Faktoren für gelingendes Menschsein, einschließlich seiner Sterblichkeit und der Argumentation mit diesen Faktoren, oder wie die Frage nach dem Verhältnis von rechtlich-politischen und rechtstranszendenten Gerechtigkeitsund Glücksansprüchen des Menschen (wie z.B. die heikle Definition von Verhältnissen wie Gesundheit oder Glück/Zufriedenheit). 2.6 Zum Verständnis von „Gerechtigkeit“ Im Sinne der Einbindung in das Rahmenthema „Gerechtigkeit“ scheint es darüber hinaus sinnvoll, das Verständnis von Gerechtigkeit selbst zur Diskussion zu stellen. a) Auf der kognitiv-begrifflichen Ebene bietet sich dafür eine Zusammenstellung von Texten mit unterschiedlichen Begriffen von Gerechtigkeit an, also zu religiösen, naturrechtlichen, vernunftrechtlichen, prozeduralen Gerechtigkeitstheorien, oder zur Differenz zwischen austeilender, distributiver, und ausgleichender, kommutativer Gerechtigkeit, auch im Verhältnis zu Gerechtigkeit als Tugend, oder zu verschiedenen Gerechtigkeitsformeln (z.B. “Jedem das Gleiche“ – „Jedem nach seinen 366 4-5 Recht und Gerechtigkeit Verdiensten“ – „Jedem nach seinen Bedürfnissen“ etc.). Eine dafür gut gebräuchliche Sammlung findet man bei Bleier-Staudt (1999), Materialien S.10-18. b) Als Ergänzung bzw. als Alternative (nicht nur für die Sekundarstufe I) ist wiederum die Arbeit mit Bildern zu empfehlen, wiederum unter den oben unter 2.1. angegebenen Ebenen. Dazu bietet sich eine Auseinandersetzung mit folgenden Abbildungen an: • Plastik einer Iustitia-Figur (zuweilen zu finden vor Justizgebäuden, ansonsten Abbildungen in entsprechenden Lexika): i.d.R. Frauenfigur mit Waage in der einen, zuweilen Schwert in der anderen Hand, wobei die Waage meist auf Ausgleich steht, meist sind die Augen der Iustitia verbunden als Zeichen der Neutralität. • Der Engel Michael vom Jüngsten Gericht (z.B. von Rogier v.d.Weyden auf dem großen Tafelbild des Hospizes in Beaune): i.d.R. mit offenen den Betrachter anblickenden Augen, Schwert in der einen, Waage in der anderen Hand, die diesmal aber zwischen Guten und Bösen abwiegt, diesen winkt als gerechter Lohn der Himmel, jenen droht als gerechte Strafe die Hölle; Bezug ist die Rede Jesu vom Weltgericht Mt 25. Die erste Gerechtigkeit richtet offensichtlich etwas anderes als die zweite: Hier geht es um den irdisch zu fassenden möglichst gerechten Rechtsspruch vor Gericht, dort um die Idee einer letzten und ewigen Gerechtigkeit, die allen Menschen je persönlich zuteil werden soll. c) Als interessanter Diskussionsimpuls lohnt die Legende vom Zwölften Kamel: Sie bringt eine Reihe unterschiedlicher Gerechtigkeitsbegriffe in kurzer bildhafter Form miteinander ins Spiel: Der Vater ist gestorben und hat seinen drei Söhnen 11 Kamele hinterlassen, von denen 4-5 Recht und Gerechtigkeit 367 der Älteste die Hälfte, der Mittlere ein Viertel, der Jüngste ein Sechstel erhalten soll. Tief traurig finden die drei keine Lösung, um den Willen des Vaters zu erfüllen. Da kommt ein Händler des Wegs und bietet ihnen sein eigenes einziges Kamel als zwölftes an. Im Nu ist geteilt: Der erste Sohn erhält 6, der zweite 3, der dritte 2 Kamele. Lächelnd nimmt der Händler das wieder übrig gebliebene 12. Kamel mit sich, und man verabschiedet sich in Frieden.37 2.7 Dokumentation als Abschluss Empfehlenswert ist in jedem Falle (u.U. auch nach 2.2.) ein Abschluss der Unterrichtseinheit in wiederum präsentativer Form: die Erarbeitung einer Ausstellung mit Installationen [neben Texten auch gesammelte oder selbst erstellte Bilder und Collagen, provokative Anfragen, Betroffenheitsäußerungen, authentische Äußerungen, Filmdokumente, Schemata begrifflicher Differenzierung, Exposés sinnvoller weiterer Arbeitsaufträge für ältere Mitschüler (zur Differenzierung) wie für jüngere (zur Orientierung), ein von Schülern vorbereitetes Diskussionsforum, mit Vertretern z.B. von (betroffenen) Exilanten, Menschenrechtsorganisationen, Juristen, Philosophen, Theologen etc.]. Ziel eines solchen Schritts ist die Einbindung einer unter philosophischem Anspruch erfolgenden kritisch-differenzierenden Auseinandersetzung mit dem Thema in die persönliche Orientierung, insofern wir nämlich mit Aristoteles das, was das Gute sei oder das Recht oder die Gerechtigkeit nicht zum Thema machen, um einen philosophischen Begriff davon zu erlangen, sondern um gut bzw. in Recht und Gerechtigkeit leben zu können.38 37 38 Vgl. dazu G. Teubner (Hg.): Die Rückgabe des zwölften Kamels. Niklas Luhmann in der Diskussion über Gerechtigkeit. Stuttgart: Lucius 2000. Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik 1103b.
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