I Religionsphilosophische Grundlegung Abgrenzungen und Fragestellung einer philosophisch begründeten Didaktik des Religiösen 1 „Religion ist eine der wichtigsten Angelegenheiten unseres Lebens.“2 - Vor gut 200 Jahren konnte der spätere Systemphilosoph des Deutschen Idealismus, der damals noch junge Student der Theologie Georg Wilhelm Friedrich Hegel diese Meinung noch ganz selbstverständlich zu Papier bringen. Freilich hatte Hegel bereits damals ganz unorthodox einen institutionenkritischen Blick auf Religion3: Gegen „ein totes Kapital … von religiösen Kenntnissen“ setzte Hegel auf eine Religion, die einerseits gut aufklärerisch ganz „auf der allgemeinen Vernunft gegründet“ ist, andererseits gegen die Abstraktheit des bloß „raisonierenden Verstandes“ vor allem „Herz und Phantasie beschäftigt“. 1 Dieses und die als Teil I nachfolgenden Kapitel sind eine umgearbeitete, um einige Anmerkungen gekürzte und aktualisierte, an anderen Stellen um Erläuterungen nicht unwesentlich erweiterte Fassung meiner Abhandlung: Religion zur Sprache bringen. Lehraufgaben im Bereich aus philosophiedidaktischer Perspektive. In: Dieter Fauth / Ulrich Bubenheimer (Hg.): Hochschullehre und Religion – Perspektiven verschiedener Fachdisziplinen. Würzburg: Religion & Kultur 2000, S.1769. – Die Herausgeber hatten für diesen Band Vertreter verschiedener Fachdisziplinen um Beiträge zu der Frage gebeten, welche Rolle die Religion in der Lehre und Ausbildung der jeweiligen Fächer spielt. Zugleich war damit die Gelegenheit geboten, das „Religion“ eingehender zum Thema der Auseinandersetzung zu machen, als dies in Aufsätzen üblicher Länge möglich ist. Ich habe damals versucht, diese Gelegenheit ausgiebig zu nutzen, so dass bald die ursprünglich geplante Länge erheblich überschritten wurde. Das war vor allem darin begründet, nicht nur die faktische Rolle zu beleuchten, die das Thema Religion im philosophischen Zweig der Lehrerbildung spielt, sondern dafür zugleich eine Begründung zu liefern. Dieser Versuch bietet sich darum gut an als Grundlegungskapitel für die vorliegende Arbeit. 2 Dieses wie die folgenden Zitate stammen aus Hegels Fragment 1 der sog. „Fragmente über Volksreligion und Christentum“ vom Winter 1792/93; in: Hegel, Werke. Bd.1. Ed. Moldenhauer / Michel. Frankfurt 1970, S. 9ff. - Die sog. Jugendschriften Hegels bieten bekanntlich reichhaltiges Material für das auch hier zur Debatte stehende Verhältnis von Religion und Philosophie. Die frühesten Fragmente aus der Tübinger Studentenzeit konzentrieren dieses Thema zudem auf eine aufklärerisch gefasste Bildungskonzeption. Das erklärt die Rezeptions-Renaissance dieser Schriften zu Beginn des 20.Jh. (vgl. insbes. Dilthey (1905), Nohl (1907)) wie auch unter stärker gesellschaftspolitischen Fragestellungen in den 50er- und 60er-Jahren (vgl. Lukács (1948), Ritter (1965)). Mich selbst haben diese Schriften seit dem Theologiestudium beschäftigt und waren Thema der theologischen Diplomarbeit unter dem Titel: Der Anspruch der Versöhnung unter den Bedingungen der Geschichte. Überhänge aus der Rezeptionsgeschichte der Hegelschen Jugendfragmente zur Klärung ihrer systematischen Implikationen und ihrer Bedeutung für die Theologie. MS (113 + 39 S.)Tübingen 1975. 3 Biografisch erklären sich diese orthodoxiekritischen Äußerungen aus Hegels Begegnungen mit der Schultheologie in seinen Tübinger Studienjahren. 1 Religionsphilosophische Grundlegung 71 In dieser Perspektive galt Religion für Hegel, und damit sind wir beim Thema, als wesentliches Element von Bildung: Dass aus den natürlichen Anlagen des Menschen „eine wirkliche Rezeptivität für moralische Ideen und Empfindungen entstehe, dies ist Sache der Erziehung, Bildung“; und eben „die Religion gibt also der Moralität und ihren Beweggründen einen neuen erhabeneren Schwung“. Religion bietet für Hegel mehr als individuellen Seelentrost; „die Kraft der Religion [muss] in das Gewebe der menschlichen Empfindungen eingemischt, ihren Triebfedern zum Handeln beigesellt [sein] und sich in ihnen lebendig und wirksam erweise[n]“. Heute, gut 200 Jahre später, muss Hegels Auskunft anachronistisch erscheinen. Auch wenn der religiösen Frage, ja selbst der Gottesfrage „an der Schwelle des Jahrtausends“ wieder hohes Interesse entgegengebracht wird4, bereitet es heute gerade in philosophischer Perspektive eher Probleme, sich mit der Frage nach Religion auseinander zu setzen. Doch Schwierigkeiten schärfen den Blick, verdeutlichen Stoßrichtungen und gliedern Gedanken; darum beginne ich mit einigen Problemen, die sich in den Weg stellen, soll, so die Zielsetzung der nachfolgenden Kapitel, der Umgang mit Religion unter der Perspektive von Bildung beschrieben, 4 Während 1999 der diesem Kapitel zugrundeliegende Beitrag verfasst wurde, mussten dem aufmerksamen Zeitgenossen eine Reihe aktueller Beiträge ins Auge fallen: Nicht nur die Theologie, insbesondere in ihrer religionssoziologischen Disziplin, auch Organe, von denen man es weniger erwarten würde, griffen 1999 die religiöse Frage intensiviert auf: So veröffentlichte die Wochenzeitung für Deutschlands Bildungsbürgertum [„Die ZEIT“] in ihrem Magazin „Leben“ unter der ständigen Rubrik „Entscheiden“ (!!) am 24.6.1999, S.8, einen Beitrag von Franz Kardinal König mit der eigentümlichen Ankündigung „An der Schwelle des Jahrtausends stellt sich erst recht die Gottesfrage - auch für Sie.“ Die Formulierung „erst recht“ indiziert, dass die Gottesfrage in einer Zeit gestellt werde bzw. werden müsse, die sich vordergründig bereits von ihr verabschiedet habe. Und die Zuspitzung „auch für Sie“ unterläuft das gängige Urteil, der religiöse Mensch am Ende des 20. Jahrhunderts sei in der Minderheit und zunehmend weniger in der Schicht der aufgeklärten, das eigene Leben selbst bestimmenden und organisierenden Menschen der reichen Industrienationen zu finden. - Gegen dieses Vorurteil, explizit sogar gegen die spätoder nach-aufklärerische Interesselosigkeit, sich im dritten Jahrtausend noch mit dem Thema „Religion“ auseinander zu setzen, veröffentlichte die spätaufklärerische Zeitschrift für europäisches Denken, die nach eigener Auskunft „nie theologische Interessen“ verfochten habe, der „Merkur“, sein Doppelheft im Herbst 1999 zum Thema „Nach Gott fragen. Über das Religiöse“ [Merkur. Heft 605/606, hg. v. K.H.Bohrer u. K.Scheel, Stuttgart 1999]; die Herausgeber behaupten gar, wer sich mit dieser Frage nicht auseinandersetze, nehme Schaden „an seinem Intellekt“, gerade auch der sog. Ungläubige (S.771). - Das dritte Beispiel: Ein wenig vorsichtiger, vielleicht spöttischer im Titel, doch in gleicher Weise an der Frage interessiert: „Welche philosophischen Bedingungen des menschlichen Weltbezuges sind es, die dazu führen, dass alle Kulturen Religion ausbilden?“ konzipierte das unorthodoxe, eher an philosophischen Nachtstücken denn an traditionellen Diskursen interessierte Journal für Philosophie „der blaue reiter“ sein letztes Heft 1999 zum Thema „Götter“ [der blaue reiter. Journal für Philosophie. Nr.10. Stuttgart 1999]. Schließlich: Die letzte TV-Sendung des sog. „Baden-Badener Disputs“ im Jahr 1999, also im ausgehenden zweiten Jahrtausend, sollte sich dem Thema stellen: „Hat Gott noch Zukunft?“ Dass bei Redaktion des Kapitels für den Zusammenhang der vorliegenden Arbeit Ende 2001 dieses Thema erneut in den Mittelpunkt deutscher Feuilletons rückte, dazu s.o. meine Einlassungen zur Wiederkehr des Religiösen im Einleitungskapitel im Abschnitt 1. 72 1 Religionsphilosophische Grundlegung kritisch beleuchtet und auch begründet werden. Vier Probleme sehe ich vor allem, die kurz zu entfalten sind, um damit zugleich die Zielsetzungen der vier Folgekapitel (1-1, 1-2, 1-3, 1-4) zu skizzieren: (1) Macht es in säkularen Zeiten überhaupt noch Sinn, sich auf die Frage nach Religion einzulassen? (2) Warum und wie kann heute sinnvoll von Religion als „Bildungsgut“ geredet werden? (3) Welche grundsätzlichen Orientierungen liefert dafür ein philosophischer Begriff von Religion? (4) Welche Grundlinien einer Didaktik des Religiösen sollten aus Sicht der Philosophie im Kontext schulischer Bildung festgehalten werden? (1) Die Ausgangsschwierigkeit ist wissenschaftstheoretischer bzw. wissenschaftsgeschichtlicher Natur. Genauer steht die Konkurrenz von Philosophie und Soziologie in ihrem Blick auf Religion zur Debatte. Das Eingangszitat von Hegel verdeutlicht, dass für Hegel ein philosophischer von einem soziologischen Blick auf Religion nicht zu trennen war. Wie sonst könnte die Religion ganz selbstverständlich als eine „Angelegenheit unseres Lebens“ in den Blick genommen werden und zugleich eben damit nach einem „Begriff der Religion“ gefragt werden? Gerade Hegel gehört zu den neuzeitlichen Philosophen, die den genauen nicht nur diagnostischen, sondern zunächst auch schlicht historiografischen Blick auf Wirklichkeit zum Fundament philosophischer Spekulationen gemacht haben. Wie sonst wäre sein berühmter Satz zu verstehen, Aufgabe der Philosophie sei es, das was ist zu begreifen.5 Dieses Verständnis von Philosophie zieht sich zweifelsohne bis in die gegenwärtige Philosophie; insbesondere die Kritische Theorie der Frankfurter Schule hat es geradezu zu ihrem Grunddogma erhoben.6 Und doch ist die Philosophie heute mehr 5 Hegel (1821): Grundlinien der Philosophie des Rechts. Vorrede. 6 Vgl. dazu als zentrale Dokumente zu Entstehung und Selbstverständnis der Kritischen Theorien der (älteren) Frankfurter Schule: Max Horkheimer: Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung [1931]; in: Ges.Schr. Bd.3, Frankfurt 1988, S.20ff; sowie der berühmte Aufsatz Horkheimers von 1937: Traditionelle und Kritische Theorie; in: Ges. Sch. Bd. 4, Frankfurt 1988, S.162ff; auch die Antrittsvorlesung von 1931 von Theodor W. Adorno: Die Aktualität der Philosophie; in: Ges.Schr. Bd. 1, Frankfurt 1973, S. 325ff. Programmatisch fordert vor allem Horkheimer in seinem Eröffnungsvortrag als Direktor des berühmten Frankfurter Instituts für Sozialforschung eine Sozialphilosophie, die „sich daher vor allem um solche Phänomene zu bekümmern [habe], die nur im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Leben der Menschen verstanden werden können“, worunter Horkheimer ausdrücklich auch die Religion zählt (a.a.O. S.20). Auch der eher theoretisch denkende Adorno ist davon überzeugt, dass alle philosophische Deutung „ihr einzelwissenschaftliches Material vorwiegend der Soziologie zu entnehmen habe“ (a.a.O. S.340), ja plädiert nach dem „endgültige(n) Zerfall der phänomenologischen Philosophie“ (331) 1 Religionsphilosophische Grundlegung 73 denn je auf Eckdaten angewiesen, die sie einer selbständig gewordenen soziologischen Wissenschaft verdankt. Das hat aber bisweilen dazu geführt, dass die Soziologie glaubt, die Philosophie beerben und ersetzen zu können. Zumindest hinsichtlich der Religion ist dies meines Erachtens ein schwerer Irrtum, weil so elementare Dimensionen des Phänomens Religion nicht genügend in den Blick kommen; auch deshalb bin ich von der Notwendigkeit einer philosophischer Theorie von Religion überzeugt. Dafür eine Begründung zu liefern, die soziologischer Diagnostik nicht nur standhält, sondern sie überhaupt erst recht zu deuten weiß, dem dient das erste Teilkapitel. (2) Die zweite und für den Zusammenhang vielleicht zentrale Schwierigkeit ist bildungstheoretischer Natur: Philosophie hat im deutschen Bildungssystem, insbesondere an höheren Schulen, stets eine Rolle gespielt, wenngleich in den letzten Jahren eher nur als ergänzendes Wahlfach7. Doch mit der Etablierung eines Alternativfachs8 für den Religionsunterricht wächst der Philosophie eine ganz neue Aufgabe zu, nämlich die der entsprechenden Bezugswissenschaft und Lehrerfür eine Verwandlung der Philosophie „in philosophischen Essayismus“ (343), der es dann in nur noch kritischer Perspektive darum zu gehen habe, „im kleinen einzudringen, im kleinen die Maße des bloß Seienden zu sprengen“, so der letzte Satz des Aufsatzes (344). Freilich weist Adorno zugleich darauf hin, dass Fakten noch nicht für sich selbst sprechen, sondern gedeutet werden müssen, und zwar in folgender, deutlich hegelianisch-marxistischer Weise: „Deutung des Intentionslosen durch Zusammenstellung der analytisch isolierten Elemente und Erhellung des Wirklichen kraft solcher Deutung: das ist das Programm jeder echten materialistischen Erkenntnis.“ (336). Diese Auffassung von Philosophie als Kritischer Theorie reicht trotz der Kritik an geschichtsphilosophischen Interpretamenten bei Adorno und Horkheimer hinüber auch bis zu den vielfältigen Entwürfen von Jürgen Habermas, etwa in seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ (Frankfurt 1981) 7 Nur wenige Länder sehen z.Zt. überhaupt (noch) die Möglichkeit eines eigenständigen, d.h. zunächst einmal von einem Alternativfach gegenüber Religion prinzipiell unterschiedenen Unterrichtsfachs Philosophie vor. Mit der wieder zunehmend stärkeren Festlegung des Fächerkanons in der Sekundarstufe II ist aber faktisch auch die Attraktivität eines zusätzlichen Wahlfachs für Schüler gesunken. In Nordrhein-Westfalen etwa, wo sogar Leistungskurse in Philosophie vorgesehen waren, wird diese Möglichkeit heute meines Wissens kaum noch wahrgenommen. 8 In der bildungspolitischen Diskussion um ein solches Fach ist man sich inzwischen weitgehend einig, dass die Nomenklatur „Ersatzfach“ unangemessen, zumindest aber anachronistisch ist, vor allem wenn man auf die ostdeutschen Bundesländer schaut. Ausgehend von K.E. Nipkows Idee einer Fächergruppe (vgl. Nipkow 1998 sowie Evangelische Kirche 1994) und angesichts der Diskussionen zum Brandenburgischen Fach „LER“ (vgl. dazu unten Kap. 4-4-1) scheint sich zunehmend das Konzept eines Wahlpflichtbereichs durchzusetzen, in dem neben dem tradierten konfessionellen Religionsunterricht ein philosophisch fundierter Ethikunterricht fest verankert ist. Der angemessene Name für ein solches Alternativfach zum Religionsunterricht ist hingegen bis heute umstritten, die Angebote lauten von „Ethik“, über „Werte und Normen“, „Praktische Philosophie“, bis zu „Philosophie“. Dass sich hinter dem Namen auch konzeptionelle Unterschiede verbergen, ist offenkundig. - Vgl. dazu meine Bemerkungen zum Verständnis philosophischer Ethik in Kapitel 1-3. - Zum Thema Fächergruppe sei verwiesen auf das Abschlusskapitel 5-4. 74 1 Religionsphilosophische Grundlegung ausbildung. Entsprechende Angebote an den Hochschulen sind jedoch noch nicht recht etabliert.9 In der Tat hat sich, wie etwa Matthias Tichy bemerkt10, die Fachphilosophie im Streit um die rechte Bezugswissenschaft für das Fach Ethik bislang eher bedeckt gehalten; andere Disziplinen, die Erziehungswissenschaften, die Religionspädagogik, insbesondere aber die Religionswissenschaften haben sich stärker zu Wort gemeldet. Hintergrund der philosophischen Zurückhaltung mag vor allem die Gefahr einer philosophischen Ansprüchen prinzipiell widerstreitenden Einbindung um nicht zu sagen Funktionalisierung der Philosophie für eine allgemeine Werteorientierung gerade im Bereich des Themas Religion sein.11 - Warum und wie philosophisch gleichwohl sinnvoll von einem Bildungsgut „Religion“ geredet werden kann, dieser Schwierigkeit stellt sich das zweite Unterkapitel. (3) Hegel hatte nicht nur bildungskonzeptionell, auch philosophisch ein ungebrochenes Verhältnis zu Religion. Voller Überzeugung konnte er festhalten, „dass der Inhalt der Philosophie und der Religion derselbe ist“12. Davon können wir heute nicht mehr ausgehen; zum einen hat sich die Philosophie im Zeitalter nachmetaphysischen 9 In Baden-Württemberg werd beispielsweise erst seit Winter 1999/2000 überhaupt die Möglichkeit geboten, durch das Studium Philosophie/Ethik eine spezielle Qualifikation auch für das Fach Ethik zu erwerben. In fachdidaktischer Hinsicht wird das Lehrangebot für ein Ethik-Studium seitens der Hochschulen bundesweit jedoch überwiegend noch über Lehraufträge abgedeckt. 10 Matthias Tichy: Die Vielfalt des ethischen Urteils. Grundlinien einer Didaktik des Faches Ethik/Praktische Philosophie, Bad Heilbrunn 1998, S. 9. 11 In den wenigen philosophischen Fachdidaktiken findet das Gebiet des Religiösen kaum Erwähnung: Heinz Schmidt (Didaktik des Ethikunterrichts, 2 Bde., Frankfurt: Kohlhammer 1982) spricht im Band I „Grundlagen“ das Thema „Religion“ gar nicht an, offenkundig aufgrund des hier unterstellten Ethik-Verständnisses; im Band 2 „Unterricht“ subsumiert Schmidt den Bereich der Religion dem Lernfeld „Sinndeutung und Lebensorientierung“, in eher religionskritischer, allenfalls noch religionskundlicher, nach meinem Eindruck aber nicht in Religion erschließender Hinsicht. - Die jahrelang einschlägige Philosophiedidaktik von Wulff D.Rehfus: Didaktik der Philosophie. Düsseldorf: Schwann 1980 geht auf das Thema Religion überhaupt nicht ein. Ebenso wenig findet das Thema Erwähnung in dem breit angelegten „Handbuch des Philosophie-Unterrichts. Hg.v.W.D.Rehfus/H.Becker, Düsseldorf: Schwann 1986“, nicht einmal in der umfangreichen Glossarliste. - Auch in Ekkehard Martens: Dialogisch-pragmatische Philosophiedidaktik. Hannover: Schroedel 1979, sucht man eine Auseinandersetzung mit dem Thema „Religion“ vergeblich, ebenso in seiner didaktisch angelegten Arbeit E.M.: Sich im Denken orientieren. Philosophische Anfangsschritte mit Kindern. Hannover: Schroedel 1990 (jetzt revidiert als „Philosophieren mit Kindern. Stuttgart: reclam 1999“ neu erschienen). - Matthias Tichy (1998, wie oben Anm.10) geht auf das Thema „Religion“ immerhin in der Perspektive der Auseinandersetzung mit religionsunterrichtlichen Konzeptionen ein. 12 G.W.F.Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), § 573 Anm.; in: Hegel: Werke. Bd.10. Ed. Moldenhauer/Michel. Frankfurt 1970, S. 371. 1 Religionsphilosophische Grundlegung 75 Denkens13 zunehmend von religionsspezifischen Reflexionen gelöst, zum andern stellt sich das Phänomen Religion in nachmodernen Zeiten vielfältiger, offener, weniger greifbar dar als zu Zeiten Hegels. Auf diese veränderte Theorielage kann im Rahmen dieser Arbeit nicht ausführlich geantwortet werden. Wenn aber auch die Didaktik der Philosophie sich mit dem Thema Religion ernsthaft befassen soll, so nicht zuletzt weil sie der Ansicht ist, einen durch andere Wissenschaften nicht ohne weiteres abzudeckenden Beitrag leisten zu können und zu müssen - und das ist meine These. Darum sind in einem dritten Teilkapitel einige grundsätzliche Perspektiven, eher leitlinienartig im Blick auf das Verhältnis der Philosophie zur Religion nötig.14 (4) Die vierte Schwierigkeit kann ebenfalls mit Hegel verdeutlicht werden, der, obwohl selbst acht Jahre lang Philosophielehrer an einem Gymnasium, stets recht despektierlich auf Versuche einer Didaktisierung der Philosophie geblickt hat. Didaktik ist innerhalb der philosophischen Wissenschaft nach wie vor ein eher ungeliebtes Stiefkind. Philosophie, so ein schnell beigebrachtes, oft wenig reflektiertes Argument, habe es stets mit der abstrakten Arbeit des Begriffs, dem Denken des Denkens zu tun, dürfe nicht verwechselt werden mit alltäglichem Welt- und Lebensraisonnement. Manche Versuche in Richtung einer „angewandten Philosophie“ scheinen tatsächlich diese Differenz überspringen zu wollen; dazu fällt dem Philosophen Hegels Spott über gehaltloses Herumraisonnieren ein.15 Meine Absicht ist es, gegenüber solchen Vorurteilen und Missverständnissen zu zeigen, wenn auch nur in Konzentration auf die Religions-Thematik, dass die Philosophie durchaus richtungsweisende didaktische Beiträge zu erbringen vermag. Darum entwirft das vierte Teilkapitel Leitlinien einer Didaktik des Religiösen in philosophischer Perspektive, die dann in den folgenden Teilen der Arbeit exemplarisch zu entfalten sind. 13 Mit dieser Formulierung beziehe ich mich auf eine „weiche“, d.h. zunächst nur diagnostische, noch nicht positionelle Lesart des Titels von Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt 1992. Diagnostisch meint die Rede vom nachmetaphysischen Denken, dass die Philosophie heute faktisch „dem privilegierten Zugang zur Wahrheit und der Heilsbedeutung der Theorie entsagen“ musste (57). Positionell freilich behauptet Habermas in seiner Aufsatzsammlung mehrfach, dass wir nach Hegel „zum nachmetaphysischen Denken keine Alternative“ hätten (36), weder im Sinne einer Theorie der Erreichbarkeit eines Vernunftideals, welche hinter Kants kritische Einsichten zurückfallen würde, noch aber auch im Sinne einer negativen Metaphysik, deren paradoxalen Aussagen Habermas die philosophische Zustimmung versagt, auch wenn er im gleichen Satz der Religion solche Aussagen zuzugestehen scheint, so dass er von einer Koexistenz zwischen Philosophie und Religion spricht (185). 14 Vgl. dazu auch meine Auseinandersetzung mit der Ende 2001 verschiedentlich proklamierten Wiederkehr des Religiösen in der Einleitung der Arbeit, Abschnitt 1. 15 Etwa in G.W.F.Hegels Privatgutachten „Über den Vortrag der Philosophie auf Gymnasien; in: Hegel: Werke. Bd.4. Ed. Moldenhauer/Michel. Frankfurt 1979, S. 414. Kapitel 1-1 Religionssoziologische Eckdaten Vielleicht wird zuweilen zu selbstverständlich behauptet, religiöse Orientierung sei heute, in Zeiten zunehmenden Verschwindens des Religiösen anachronistisch geworden. So habe ich selbst in der Einleitung der Arbeit lediglich unterstellt, Religiosität werde hier und heute nicht mehr so selbstverständlich gelebt, dass wir für den Religionsunterricht religiöse Beheimatung als Basis unterstellen dürften1. Selbstverständlich muss eine solche Behauptung sich zunächst einmal auch an faktisch nachprüfbaren Zahlen oder Verhältnissen messen lassen, um das gleichzeitige Plädoyer für die Unverzichtbarkeit religiöser Bildung nicht von vornherein banal-selbstverständlich oder aber anachronistisch-spekulativ erscheinen zu lassen. Wenn auch die empirischen Grundlagen solcher Zahlen hier im nicht einzelnen aufgeführt werden2, sollen darum wenigstens einige aus ihnen gefolgerte religionssoziologische Eckdaten in den Blick genommen werden. 1 Der Prozess der Säkularisation Franz-Xaver Kaufmann schreibt 1989: „Die Denkhorizonte des Religiösen und des Modernen scheinen sich irgendwie auszuschließen, wenigstens für das zeitgenössische Bewusstsein.“3 Kaufmanns Diagnose bietet einen guten Ansatz, die These vom zunehmenden Verschwinden des Religiösen zu differenzieren, lädt er doch durch die Kennzeichnung „scheinbar“ dazu ein, sich erst einmal genauer vor Augen zu halten, was denn eigentlich die Denkhorizonte des Religiösen zum einen, des Modernen zum zweiten und des zeitgenössischen Bewusstseins zum dritten meinen. 1 Vgl. dazu die Thesen des Deutschen Katecheten-Vereins (1992), insbesondere die These 8, sowie exemplarisch für die breite Auseinandersetzung in der Religionspädagogik Scholl (1989) und (1993) sowie F.X.Kaufmann (1989b). Für mich selbst kann ich verweisen auf meine Thesen Petermann (1991) und (1996). 2 Dazu darf ich verwiesen auf die nachfolgend verarbeitete soziologische Standardliteratur. Speziell für die Frage nach der Religiosität Jugendlicher sollten hier hervorgehoben werden die Untersuchungen von Barz: Religion ohne Institution (1992) sowie Barz: Postmoderne Religion (1992) und neuerdings die Studie von Bucher: Religionsunterricht zwischen Lernfach und Lebenshilfe (2000) sowie die jüngste Schell-Studie (2000). 3 Dieser Satz findet sich in der Einführung des religionssoziologischen Standardwerks: Franz-Xaver Kaufmann: Religion und Modernität Tübingen 1989, S.1. 1-1 Religionssoziologische Eckdaten 77 Da es ja um die Frage nach Religiosität im Horizont der Moderne bzw. Postmoderne geht, macht es keinen Sinn, mit einer abstrakten Definition des Religiösen zu beginnen. Vielmehr ist zuerst der Horizont des Modernen zu erläutern. Die Grundthese von Modernität scheint mir die der Durchschaubarkeit und damit einhergehend der Gestaltungsmöglichkeit von Welt und Leben zu sein. Diese Weltanschauung bricht sich Bahn vor allem in den naturwissenschaftlichen Entdeckungen des 16. und 17. sowie des 19. Jahrhunderts. Die erste Epoche wird gemeinhin unter das Stichwort „Kopernikanische Revolution“ gefasst. Möglich gemacht wurden die hier erfolgten astronomischen Erkenntnisse jedoch durch eine radikal veränderte Sicht auf wissenschaftliche Erkenntnis, wie sie paradigmatisch durch Francis Bacons „Novum Organum (1620) postuliert wird: Mit seinem Satz: Der Mensch, als Diener und Erklärer der Natur, wirkt und weiß nur so viel, als er von der Ordnung der Natur durch die Sache oder seinen Geist beobachtet hat; mehr weiß und vermag er nicht. (I,1) bringt Bacon die moderne Einstellung zu dem, was wir auch heute noch in der Regel alltäglich unter Natur verstehen, auf den Punkt.4 Daraus folgt für ihn zugleich: Da unser Bestreben ist, die Natur den menschlichen Bedürfnissen und Wünschen zu unterwerfen, so ist es folgerecht, dass diese Werke, die schon längst von der Macht des Menschen abhängen, gleich Provinzen, die bereits früher erobert und unterworfen worden sind, verzeichnet und festgestellt werden, namentlich solche, die am meisten ausgearbeitet und vollendet sind (II,31.). Die Natur erklärt sich für Bacon insofern vollkommen aus sich selbst, ebenso wie der daraus abzuleitende Umgang mit Natur, der folgerichtig unter rein technischen Kategorien gesehen wird. Die Annahme einer göttlichen Schöpferinstanz ist dafür nicht mehr nötig. Diese Ansicht leitete auch Galileis Untersuchungen physikalischer Gesetze, selbst wenn Galilei wie auch Bacon sich selbst subjektiv noch als gottesgläubige Menschen ansahen. Die zweite Epoche des 19. Jh. führt nach dieser ersten Kränkung des menschlichen Geistes zur zweiten durch die Evolutionslehre von Charles Darwin einerseits und zur dritten durch die Entdeckung der Psychoanalyse durch Sigmund Freud zum andern. Die hier vorherrschenden Auffassungen zur Erklärung von Welt und Leben haben sich damit nicht geändert, sondern bestätigen Bacons Postulat, was sich kaum besser fassen lässt als durch Ernst Haeckels berühmte Einlassung am Ende seiner „Welträtsel“ (1899): Die Zahl der Welträtsel hat sich durch die angeführten Fortschritte der wahren Naturerkenntnis im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts stetig vermindert; sie ist schließlich auf ein einziges allumfassendes Universalrätsel zurückgeführt, auf das Substanzproblem. Indem dieses höchste Naturgesetz festgestellt und alle anderen ihm untergeordnet wurden, gelangten wir zur Überzeugung von der 4 Bacon (1620). 78 1-1 Religionssoziologische Eckdaten universalen Einheit der Natur und der ewigen Geltung der Naturgesetze. Der Monismus des Kosmos, den wir darauf begründen, … zertrümmert aber zugleich die drei großen Zentraldogmen der bisherigen dualistischen Philosophie, den persönlichen Gott, die Unsterblichkeit der Seele und die Freiheit des Willens.5 Durchschaubarer und machbarer geworden sind Welt und Leben für die Vernunft mithin infolge ihrer Emanzipation von (religiöser) Autorität. Schon von ihrem Selbstverständnis her setzt sich Moderne ab von der Ansicht, menschliche Lebensgestaltung sei präformiert durch Strukturen, die menschlichem Leben vorgelagert seien. Solche Formen präformierter Sinngebung betrachtet die Moderne als Vergangenheit. Und zu solchen Formen zählen vor allem religiöse Systeme, nicht nur die Kirchen, sondern auch der Glaube an Gott. Er kann im Bewusstsein der Moderne verabschiedet werden, weil Welt und Leben weitgehend ohne ihn erklärbar geworden sind und sich auch ohne ihn gestalten lassen. Entdivinisiert ist alles dem menschlichen Zugriff unmittelbar zugänglich wie auch unterworfen. Selbst der moralische Umgang mit Welt und Leben fußt nunmehr allein auf Vernunft.6 Diese Entdivinisierung von Welt und Leben wird seit Max Weber als Prozess der Säkularisation begriffen.7 Doch über die Entdivinisierung hinaus, und das ist die Kehrseite, tendiert der Prozess der Säkularisation zu der Ideologie, dass die Welt daher alles sei, was der Fall ist, also nicht nur Gott ersetzt habe, sondern ihrerseits als nunmehr einzig gültige Perspektive zu etablieren sei.8 Damit aber ist die gängige Rede von Säkularisation zugleich untergraben: Wir leben nicht mehr bloß in einem Prozess der Säkularisation, sondern in Verhältnissen faktisch vollzogener Säkularität, einer Säkularität freilich, die in ihrer säkularen Qualität gegenüber nicht säkularisierten Lebensverhält5 Haeckel (1899). 6 Zumindest gilt das in der Hinsicht, dass die Begründung moralischen Handelns allein durch die Vernunft erfolgen kann, bereits für Kant die erste Voraussetzung seiner Ethik. Kant ist sich freilich der Ambivalenz dieser Subjektivierung von Moral durchaus bewusst, wenn er etwa in seinen geschichtsphilosophischen Überlegungen konstatiert, dass es, obwohl der Mensch danach strebe, dass sein ganzes Leben “gänzlich sein eigen Werk sei“, nicht darum gehen könne dass der Mensch „wohl lebe, sondern dass er sich so weit hervorarbeite, um sich, durch sein Verhalten, des Lebens und des Wohlbefindens würdig zu machen“ [„Idee zu einer allgemeinen Geschichte...“, in: Werke, ed. Weischedel, Frankfurt 1958, Bd.VI, S.41]. – Zur Ambivalenz autonomer Moral vgl. die Notizen zu Kapitel 4-4 in der Einleitung. 7 Vgl. den diesbezüglich als einschlägige Quelle oft zitierten Aufsatz aus dem Jahr 1920 von Max Weber: Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus, in: Ges. Aufsätze zur Religionssoziologie Bd.I. Tübingen 51972, S. 207ff. 8 So hat es Peter Sloterdijk in seinen zeitdiagnostischen Einlassungen treffend formuliert, etwa in: Chancen im Ungeheuren. Notiz zum Gestaltwandel des Religiösen in der modernen Welt, im Anschluss an einige Motive bei William James, Vorwort zu: William James: Die Vielfalt religiöser Erfahrung, Frankfurt 1997, S.13f. 1-1 Religionssoziologische Eckdaten 79 nissen gar nicht mehr erkennbar ist.9 Diese Einsicht liefert zugleich eine Rechtfertigung für die inzwischen gängige Rede von „postsäkularen“ Lebensverhältnissen.10 Was bedeutet diese Diagnose für unsere Frage nach Religion? Zunächst einmal sprechen soziologische Daten noch nicht für sich selbst, auch wenn sich Theorien zu einem Phänomen wie dem Religion sich zumindest an entsprechenden Daten messen lassen müssen. Auch zurückgehender Gottesdienstbesuch und zunehmende Kirchenaustritte sind Daten, die noch zu interpretieren sind. Ohne Zweifel aber fallen religiös-kirchliche Sozialmilieus zunehmend auseinander; Entkonfessionalisierung und vor allem die Entkoppelung von Konfession (hierzulande vor allem: Christentum) und Religion sind allenthalben festzustellen; gegenüber tradierten gewinnen neue Formen von Religiosität an Bedeutung, sei es aus anderen religiösen Traditionen, sei es als neue Wege von Spiritualität und Sinnfindung; auch in westlichen Ländern macht sich eine Tendenz zu polykonfessionellen Verortungen11 bemerkbar, etwa eine nicht mehr aus tradiertem Glaubensvollzug begründete Inanspruchnahme kirchlicher Riten wie Hochzeiten, Beerdigungen, Weihnachtsgottesdiensten, oder auch die Selbstverständlichkeit, die Bedeutung der Kirchen an ihren sozialen und kulturellen Aktivitäten zu messen. Und doch berühren solche Feststellungen nur die Oberfläche, was sich leicht an entsprechenden Erklärungsmustern zeigen lässt: Insbesondere das in der religionssoziologischen Literatur beliebte Paradigma „Pluralität“12 scheint mir zur Bezeichnung dieser 9 Diese Einschätzung hat im übrigen bereits vor mehr als 100 Jahren Nietzsche gegeben in seiner berühmten Parabel vom tollen Menschen, dessen Diagnose, dass Gott tot sei und wir ihn getötet hätten, trotz der eindringlichen Bilder, in denen er sie zu vermitteln sich bemüht, keiner versteht. Nietzsche hat damit hellsichtig auf den Punkt gebracht, dass die Menschen der Moderne sich einerseits ihre Welt selbst errichtet haben, ohne zurückgreifen zu müssen auf die Vorstellung eines ihrer Willkür letztlich entzogenen Sinns von Welt, dass ihnen aber andererseits diese ihre eigene Welt keineswegs durchsichtiger geworden ist, sie der Lebenswelt mithin nach wie vor ausgeliefert sind, doch nun ohne Maßstab einer Orientierung, so dass es kein Oben oder Unten, keinen Horizont mehr gibt. 10 Zur Angemessenheit des Begriffs „Postsäkularität“ vgl. die entsprechenden Passagen in meiner Einleitung, Abschnitt (1). Zu Habermas’ Verwendung dieses Begriffs vgl. jetzt kritisch Hans Joas (2002): Eine Rose im Kreuz der Vernunft. 11 Gemeint ist das in Japan bereits seit längerem bekannte Phänomen, sich in verschiedenen Religionen bzw. Konfessionen ohne Orthodoxieprobleme gleichzeitig zuhause zu finden. Auch in Mitteleuropa ist es zunehmend unproblematisch, etwa als bekennender Christ zugleich buddhistische Meditations-Sessions zu besuchen oder indianische Naturkulte in traditionell biblische Schöpfungskontexte einzubinden. Für Länder Lateinamerikas, Afrikas und Asiens gilt dies ohnehin bereits länger nicht nur als gängige, sondern auch als anerkannte Praxis. Vgl. die kirchlichen Diskussionen zum Bedeutungswandel von Missions- in Inkulturationsarbeit. Hintergrund dieser Praxis scheint ein sehr viel stärker pragmatisch als orthodoxal empfindendes religiöses Bedürfnis zu sein. - Ausführlicher zu diesem Thema vgl. W.Gephart / H.Waldenfels (Hg.): Religion und Identität, Frankfurt: Suhrkamp 1999. 80 1-1 Religionssoziologische Eckdaten Verhältnisse nicht zureichend; zumindest müsste die Rede von Pluralität, um aussagefähig zu bleiben, differenziert werden. 2 Differenzierungen in der Pluralismus-These Zunächst ist es hilfreich, zwischen Pluralismus als Antwort auf eine Situation und Pluralität als Diagnose dieser Situation zu unterscheiden.13 Eine differenzierte Diagnose von Pluralität würde zunächst zumindest folgende Ebenen unterscheiden: • Von Multiperspektivität können wir sprechen, insofern Horizonte zur Orientierung und Gestaltung des eigenen Lebens dem einzelnen in vielfältiger, eben nicht mehr eindimensionaler bzw. allgemein verbindlicher Weise angeboten werden und zur Verfügung stehen. • Diversifikation bezeichnet näher die Form, in der sich die vielfältigen Angebote darstellen, nämlich ungeordnet, unübersichtlich und daher vielfach auseinanderlaufend; der einzelne reagiert darauf entsprechend mit Orientierungsproblemen.14 • Die entsprechende Anforderung an den einzelnen, aber auch seine Antwort, ist Mobilität; zu konstatieren sind jedenfalls erhöhte Umtriebigkeit und Flexibilität in vielerlei Hinsicht: geografisch, berufsbezogen, aber auch hinsichtlich zwischenmenschlicher Beziehungen und persönlicher Ansichten; festlegen mag sich heute niemand mehr ohne weiteres.15 • Mit Globalität ist zunächst lediglich die Offenheit für größere Sinnzusammenhänge angesprochen, auf die ein bestimmter Lebenshorizont sich heute beziehen lassen muss. Die Frage ist dann freilich, inwieweit damit ein neuer Einheitsanspruch 12 Das Stichwort „Pluralität“ fehlt in kaum einer religionssoziologischen Veröffentlichung der letzten zehn Jahre, wird aber kaum reflektiert. Auch die jüngste, umfangreich angelegte Bildungsstudie von Karl Ernst Nipkow: Bildung in einer pluralen Welt. 2 Bde. Gütersloh 1998, differenziert zwar das Phänomen des Pluralismus in verdienstvoller Weise und wird so ohne Zweifel ein Standardwerk werden, lässt sich aber kritisch-reflektierend auf den Begriff der Pluralität zur Kennzeichnung der pluralen Verhältnisse eigentlich nicht ein. 13 Ich übernehme diese Unterscheidung in Analogie zu der zwischen „Globalisierung“ und „Globalität“, wie sie eindrucksvoll und überzeugend Ulrich Beck vorgelegt hat. (Ulrich Beck: Was ist Globalisierung? Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S.26ff) 14 Vgl. hierzu die systemtheoretische Beschreibung der "Segmentierung" bei Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Frankfurt 1989. 15 Vgl. dazu vor allem die Überlegungen von Michael Walzer; z.B. in: Die kommunitaristische Kritik am Liberalismus; in: A.Honneth (Hg.): Kommunitarismus. Frankfurt 1993, S. 164 f. 1-1 Religionssoziologische Eckdaten 81 sich geltend macht, dem zunächst auseinanderlaufende Lebenshorizonte schließlich doch unterzuordnen wären.16 • Schließlich indiziert das Modewort der Vernetzung, dass trotz auseinanderlaufender Lebenswelten wir doch bislang nicht gekannte Möglichkeiten des Bezugs auf Anderes, Neues, Unbekanntes ausgebreitet finden. Offen bleiben dabei freilich die Kompetenzen, die Möglichkeiten auch zu nutzen, sowie die Qualität der durch Vernetzung allein gebotenen Kommunikation.17 Im Kontext dieser Ebenen von Pluralität zeichnen sich dann sehr viel genauer bestimmte Antwortversuche als Phänomene von Pluralismus ab, die unmittelbar eine Herausforderung auch für eine heute tragfähige Religionspädagogik bedeuten: • Als erster Reflex auf die Situation von Pluralität ist die sich verstärkende Tendenz nicht nur zu Subjektivität, sondern auch zu Individualisierung und Vereinzelung zu sehen: Der Einzelne will nicht nur stärker selbst gefragt sein, er ist auch mehr und mehr gänzlich auf sich allein gestellt in Fragen von Lebensführung, Lebensgestaltung und Sinnsuche. • Parallel zur Individualisierung ist die Veränderung der Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit zu diagnostizieren: Die Verwirklichung von Leben hic et nunc gewinnt Priorität gegenüber dem Lebensentwurf in geschichtlichen Zusammenhängen und Verantwortungen. Geschichte hat zumindest die Wertigkeit eines Ideenrahmens, in den ich verantwortlich eingebunden bin, verloren. • Immer weniger eine Rolle spielen entsprechend mehr oder weniger allgemeinverbindliche Lebensformen und Sinnhorizonte, sowohl ideologisch als auch vom individuellen Bildungsstand her; das „Ende der großen Entwürfe bzw. Metaerzählungen“ (Lyotard) einschließlich der Religion ist postmodern wiederholt verkündet worden. • Die Frage nach Sinn stellt sich unter den Vorzeichen von Pluralität gleichwohl oder deshalb extensiver; extensiver meint offener, ohne vorgegebene Orientierung, und stärker die Suchbewegung des Einzelnen fordernd. Zu verabschieden ist die Voraussetzung einer quasi anthropologische Sinn-Konstante, auf die Religiosität 16 Zur genaueren Auslotung des Begriffs der Globalität, auch in Unterscheidung von denen des Globalismus und der Globalisierung vgl. die neueren Arbeiten von Ulrich Beck, etwa: Was ist Globalisierung? Frankfurt 1997, aber auch die Schlusspassagen in Peter Sloterdijk: Globen. Frankfurt 1999. 17 Vgl. dazu die Studien von Vilém Flusser, gut einzusehen etwa in dem „Flusser-Reader“: Die Revolution der Bilder. Mannheim: Bollmann 1995, mit programmatischen Aufsätzen wie „Bilderstatus“ (1991) und prägenden Stichworten wie dem der „telematischen Informationsgesellschaft“ (ebd. S.85ff). 82 1-1 Religionssoziologische Eckdaten dann die Antwort böte. Die auch für Religiosität eigentlich interessante Frage ist zunächst einmal: Wer bist du, dass du meinst, ganz du selbst sein zu können ? • Entsprechend kurzsichtig wäre es auch, in der neuerdings als gleichsam „natürlich“ beschriebenen Sehnsucht nach Werten vorschnell ein Indiz für einen vorgegebenen (religiösen) Wertekanon zu sehen. Eine als Sehnsucht sich äußernde Werteorientierung scheint angesichts der skizzierten Pluralität vielmehr grundsätzlich die Nachfrage erforderlich zu machen, warum wir denn überhaupt Werte brauchen. • Auch die anthropologische Offenheit hin auf Transzendenz ist neu zu sehen. Gestalten postmoderner Transzendenz verdeutlichen in ihrer bloßer Funktionalität oder als rein ästhetisierender Lebensgenuss schnell das Ungenügen bloß formaler Vieldeutigkeit, die Orientierung nur noch zufällig zu bieten vermag. Offener denn je sind wir daher konfrontiert mit der Frage, was denn grundsätzlich der Mensch sei, dass er über sich hinausfragt und hinausgreift. • Suchend tritt uns der Mensch heute eher entgegen als Bediener von Suchmaschinen, mehr oder weniger hilflos jedoch, denn vorausgesetzt ist bei aller konkreten Suche ein je schon vorhandenes Objekt der Suche. Die postmodern unbestimmte Form der Suche aber scheint hinter Phänomenen zu stehen wie Wander-, Bastel- (Bricolage-), oder Cafeteria-Religiosität. Natürlich müssen heutige bildungstheoretische Entwürfe solche Bewusstseins- und Daseinsformen ernst nehmen. Das bedeutet aber eben nicht nur, dass Religiosität heute nicht mehr in festen religiösen Systemen vorkomme, sondern unsichtbar, polytheistisch, um affirmativ verwendete Prädikate zu zitieren, oder auch beliebig, relativistisch, austauschbar; vielmehr ist auch hier tiefer zu fragen nach den Gründen solch unsystematischer, sich nicht festlegen wollender Suchbewegungen. 3 Kontextualisierung Aufschlussreicher ist die Beobachtung, dass hinter den genannten Phänomenen sich eine stärkere Lebensweltorientierung und -fixierung auch religiöser Haltungen und Vollzüge zeigt, eine sehr viel eher pragmatisch als orthodoxal ausgerichtete Religiosität. Geeigneter als der Begriff „Pluralität“ scheint mir zur Kennzeichnung postsäkularer Religiosität daher das Paradigma „Kontextualisierung“.18 Die inzwischen 18 Die Wahl dieses Begriffs nährt sich nicht nur aus den eben vollzogenen Differenzierung des Pluralitäts-Paradigmas und den nachfolgend kommentierten Beobachtungen, sondern ist auch in Korrelation zu sehen zu anderen in der Soziologie in den letzten Jahren zum Standard gewordenen heuristischen Begriffen, neben dem der Globalisierung (vgl. insbesondere Beck 1997a) auch den der Zweiten Moderne (vgl. Giddens 1995 und Beck 1997b) sowie schon früher dem der Individu- 1-1 Religionssoziologische Eckdaten 83 zum Allgemeingut gewordenen Rede von der unsichtbaren Religion19 bestätigt eine solche Sicht: Sie macht klarer, warum Religion und Religiosität zunehmend auseinander laufen, vor allem aber warum und inwiefern Religion in heutiger Lebenswelt durchaus eine Rolle spielt. Deutlich wird nämlich, dass Religion sich heute an anderen Orten und vor allem in anderer Weise „ereignet“20: Statt tradierter kirchlicher Riten gilt mehr und mehr die Alltagskultur als Ort des Religiösen, zuweilen sind Alltagskultur und gelebte Religion gar nicht zu trennen21: Selbst die Dechiffrierung von Sportevents als religiöser Gemeinschaftsformen oder das Aufdecken kultischer Rituale im Fernsehkonsum überrascht von daher nicht mehr, denn religiöses Erleben findet weniger an festen, gar sakralen Orten statt, sondern in der Kultivierung von Alltagswelt, von G. Thomas als „sekundäre Ritualisierung“ bezeichnet.22 Religion zeigt sich im Lebensstil23, ereignet sich eher als „religiöses Feld“, in dem wir uns mitten im Alltagsvollzug bewegen.24 Was sich dabei ändert, sind zudem die entsprechenden Bilder von Transzendenz; zur Charakterisierung dessen, „was alisierung (vgl. etwa Beck/Beck-Gernsheim 1994). Für den Zusammenhang dieser allgemeinen soziologischen Deutungen mit dem Thema Religiosität ist an dieser Stelle ausdrücklich meine Einlassung auf die jüngste zum Paradigma erhobene Wiederkehr des Religiösen in der Einleitung (Abschnitt 1) hinzuweisen. In diesem Kontext wird auch die oben bereits angedeutete Kategorie des Postsäkularen kurz erläutert. 19 Thomas Luckmann: Die unsichtbare Religion, Frankfurt 1991 [The Inivisible Religion. New York 1967]. 20 Vgl. Kaufmann (1989a), S.8. 21 Über diesen Zusammenhang informiert ausführlich z.B. der Band Wolf-Eckhard Failing,/ HansGünter Heimbrock: Gelebte Religion wahrnehmen. Lebenswelt - Alltagskultur - Religionspraxis, Stuttgart 1997. - Zur Phänomenologie von Religion in moderner Lebenswelt, auch zu Phänomenen wie Kulturalisierung von Religion, Zivilreligion, Alltagssynkretismus, Ritualisierungen von Alltagskulturen wie Sport etc., bieten umfangreiche Einblicke und Analysen auch die Studien von Karl-Fritz Daiber: Religion in Kirche und Gesellschaft. Theologische und soziologische Studien zur Präsenz von Religion in der gegenwärtigen Kultur, Stuttgart: 1997, sowie Karl-Fritz Daiber: Religion unter den Bedingungen der Moderne. Die Situation in der Bundesrepublik Deutschland, Marburg 1995. 22 Günther Thomas: Medien - Ritual - Religion. Zur religiösen Funktion des Fernsehens, Frankfurt 1999. Vgl. für den Zusammenhang auch die Studien von Gunter Gebauer zur religiösen Bedeutung des Sports, zuletzt etwa: Religiöse Gemeinschaften im Sport, in: Merkur 1999, S.963ff. - Die Suche nach Spuren des Heiligen in der Lebenswelt der Moderne ist so neu im übrigen nicht: Vgl. bereits die umfangreiche Studie von Dietmar Kamper / Christoph Wulf (Hg.) : Das Heilige. Seine Spur in der Moderne, Frankfurt 1987, mit Untersuchungen zu Heiligem etwa in der Psychoanalyse, in der Erotik, in der bildenden Kunst, im Alltag, in der Geschichte, im Geldverkehr, im Sport usw. Die Suche nach religiösen Spuren im Alltag ist spätestens mit William James’ berühmtem Buch „Die Vielfalt religiöser Erfahrung“ von 1901 zum Standard religionssoziologischer Untersuchungen geworden. 23 Vgl. dazu die Studien des Marburger Graduiertenkollegs zur Religion in der Lebenswelt der Moderne, zuletzt veröffentlicht von Kristian Fechtner / Michael Haspel (Hg.): Religion in der Lebenswelt der Moderne. Köln 1998. 24 Peter Sloterdijk: Selbstversuch. Ein Gespräch mit Carlos Oliveira, München 1996, S.96. 84 1-1 Religionssoziologische Eckdaten Menschen heute wirklich glauben“, spricht K.P. Jörns gar von den „neuen Gesichtern Gottes“, einer von Lebenskontexten abhängigen Gestalt auch religiöser Gehalte.25 Wenn aber die konkrete Existenz, der gelebte Vollzug des Alltags nicht nur die Ebenen sind, in denen bzw. auf die hin sich Religion vollzieht - denn das galt zumindest im biblischen Kontext immer schon so26 -, sondern auch mit Religiosität identisch sind, stellt sich die Frage, ob Religion durch Alltagskultur nicht sogar ersetzt wird. Für den Sinngehalt des Begriffs Säkularisation meint das zunächst gar nichts Neues27, und doch verändert sich mit dieser Form von Säkularität Entscheidendes: Dreh- und Angelpunkt für säkularisierte Religiosität ist nicht mehr ein religiöser Bezugsrahmen, sondern das Religiosität ausübende Individuum und seine von ihm selbst geschaffene Lebenswelt. Das hat aber eine doppelte Konsequenz: Einerseits scheint Religion als nur noch religiöses Feld sich so zu verlieren.28 Und damit droht zugleich das als Akteur dieses Prozesses unterstellte Subjekt selbst sich aufzulösen, nur noch im Kontext seiner Lebenswelt fassbar zu sein, also in völlige Abhängigkeit von Kontextualität zu geraten, ja gänzlich in diesen Kontexten sich zu verlieren, vergleichbar dem, was Marx unter den Kategorien der Entäußerung und der Entfremdung beschrieben hat.29 25 Klaus-Peter Jörns: Die neuen Gesichter Gottes. Was die Menschen heute wirklich glauben, München 1999. Jörns stellt (S.27) die These zur Debatte, die konkrete Gestalt der Transzendenzbeziehung beeinflusse die konkrete Gestalt von Lebenssituation, wie auch das „transzendente Gegenüber („Gott“) ein mit der Lebenssituation verbundenes ‘Gesicht’“ habe (S.27). Zur Stützung dieser These konstatiert Jörns einen weitgehenden Abbruch tradierter dogmatischer Glaubensüberzeugungen (vgl. S.210), eine starke Tendenz zu Individualisierung bzw. individualisierter Deutung von Glaubenstraditionen (S.212), womit der Mensch sich zunehmend zum Maß und Gegenüber seiner selbst und seiner Welt stilisiere (vgl. S.220; in diesem Zusammenhang spricht Jörns vom „Heiligen Kosmos“ des Atheismus), konstatiert aber trotz dieser Traditionsbrüche bzw. -veränderungen ein bleibendes Bedürfnis nach Heil und Bewahrung von Leben (S.221). 26 Unbestritten gilt das für den Prototyp des Glaubenden, Abraham, aber natürlich zeichnet dieses Verhältnis von Existenz bzw. Lebensgestaltung und Glauben auch alle anderen biblischen Figuren aus, was sich an den entsprechenden Texten genau nachzeichnen lässt. (Zur Entfaltung dieser Behauptung vgl. die Anmerkungen zum Abschnitt 1 des Kapitels 1-4.) Im nichtbiblischen Religionen ist diese Verbindung fast selbstverständlich in allen Stifterreligionen nachzuweisen, so im Buddhismus. Wenn aber auch in den anderen großen Religionen, wie etwa im Hinduismus die Einbindung des Glaubens in die Existenz fundamental ist, wird diese Behauptung nahezu banal. 27 Bekanntlich ist „Säkularisation“ ursprünglich ein Begriff aus dem kirchlichen Recht und bezeichnet den Ausgriff bzw. Zugriff kirchlicher Befugnisse auf innerweltliche Zusammenhänge. 28 Sloterdijk (1996), S.96. 29 Gemeint ist neben der Kritik ökonomischer Entfremdung die auch heute noch glänzende Kritik an einer Ideologisierung des Bewusstseins, wie sie die nach Marx unvollständige philosophische Kritik der Junghegelianer geleistet habe: In der Fixierung auf die Religionskritik sei die Religion „als letzte Ursache aller … widerwärtigen Verhältnisse angesehen und behandelt worden“. Das daraus folgende veränderte philosophische Bewusstsein laufe aber darauf hinaus, lediglich „das Bestehende anders zu interpretieren“ und somit nicht nur weiterhin „vermittelst einer anderen Interpretation anzuerkennen“, sondern seinerseits sogar erneut zu mystifizieren. Was also eigentlich von Menschen um der Emanzipation von Ideologien gemacht worden sei, verändere sich 1-1 Religionssoziologische Eckdaten 4 85 Unabgeschlossene Säkularisation In diesem Sinne erweist sich der Prozess der Säkularisation als ganz und gar nicht abgeschlossen, weil er nun gegen die eigenen Grundlagen sich wendet: Die vom Einzelnen selbst geschaffenen aber unsichtbaren Quasi-Institutionen religiöser Betätigung machen die Religiosität des Einzelnen aus, ja definieren sie. Damit aber droht zugleich ihr Akteur, die menschliche Vernunft, hinter der Macht der faktisch waltenden Verhältnisse zurückzufallen, der Einzelne scheint sich in religiösen Betätigungen nurmehr selbst verehren zu können, was sich ausnimmt wie eine späte Rache an Feuerbachs Religionskritik. Die zur Zeit gängige Rede von postsäkularen Lebensverhältnissen30 macht von dieser Offenheit, besser Unbestimmtheit her, meine ich, guten Sinn. Es kann nicht Sinn kritischer, auf Autonomie und Eigenverantwortung abzielender Bildung sein, zu solchen Formen scheinhafter Orientierung zu erziehen. Aber auch das Projekt einer Erziehung zu kritischem Umgang mit religiösen Äußerungen bliebe dieser Dialektik von Säkularität und Selbstentfremdung noch ganz verfallen. Anspruchsvolle, auf Orientierung ausgerichtete Bildung müsste und würde demgegenüber einklagen, diese Säkularität wiederum zu profanisieren, d.h. ihr den Schleier eines Heiligen Kosmos zu nehmen, den sie sich hypertroph selbst umgelegt hat; sie müsste säkularitätstranszendierende Horizonte aufweisen, um „gegenüber der Wirklichkeit Offenheit der Wahrnehmung zurückgewinnen“ zu können31. Das aber lässt die Dimension des Religiösen aus kritisch-philosophischer Sicht wiederum interessant erscheinen. In dieser Perspektive stellt sich auch die Frage nach der Berechtigung religiöser Bildung differenzierter: Zur Debatte steht eigentlich nicht mehr, ob religiöse Bildung angesagt ist, sondern wie Religion so vermittelt werden kann, dass das eben 30 31 unter der Hand zu etwas, was den Menschen und sein Bewusstsein mache. Auch in dieser Perspektive, also mit der Pointe eines kritischen Untertons gegen uns übermächtigende Verhältnisse ist der berühmte Satz der sog. 5.Feuerbach-These zu lesen, in der Wirklichkeit sei der Mensch „das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“. Vgl. dazu Karl Marx: Deutsche Ideologie (1845), in: MEW Bd.3, Berlin: Dietz 1963, S.13ff, Zitate S.19f. Ins Gerede gekommen ist solche Rede parallel zu der im Abschnitt 1 andiskutierten vielfach proklamierte Wiederkehr des Religiösen. Genauere Erläuterungen, vor allem auch zu Habermas’ Friedenspreisrede (2001b) siehe dort. Peter L. Berger: Auf den Spuren der Engel. Die moderne Gesellschaft und die Widerentdeckung der Transzendenz. Freiburg: 1991 (Frankfurt 1969), S.157. Berger plädiert in seinem Buch für ein theologisches Programm, das die „Säkularität transzendentalisieren“ würde (Einführung zur TBAusgabe, S.10). Diese Idee variierend und zuspitzend habe ich von der Profanisierung der Säkularität gesprochen. In ähnlicher Sinngebung, nämlich als Programm gegen Verabsolutierung wie auch Nihilisierung der Vernunft in einer zunehmend rationalisierten Welt, sprach bereits 1957 Adorno von Säkularisation (in: Vernunft und Offenbarung, in: Stichworte, Frankfurt 1969, S.23). Auch dieser Zusammenhang von nachaufklärerischer Vernunftkritik und kritisch zu rehabilitierender Metaphysik und Religiosität wird in meiner Einleitung im Abschnitt 1 thematisiert. 86 1-1 Religionssoziologische Eckdaten angedeutete kritische Potential zur Sprache zu kommen vermag. Diese Sicht bricht sich freilich an der Realität mancher bundesdeutscher Bildungskonzeptionen, wenn Religion eher als Kulturgut zum Gegenstand schulischer Bildung gemacht wird. Der Auseinandersetzung damit ist das folgende Kapitel gewidmet. Kapitel 1-2 Welchen Sinn macht die Rede von Religion als „Bildungsgut“? Nicht allein das A B C / Bringt den Menschen in die Höh’; / Nicht allein im Schreiben, Lesen / Übt sich ein vernünftig Wesen; / Nicht allein in Rechnungssachen / Soll der Mensch sich Mühe machen; / Sondern auch der Weisheit Lehren / Muss man mit Vergnügen hören. - Diese Verse aus Wilhelm Buschs „Max und Moritz“ zitiert Heinz Schmidt zu Beginn seiner Ethik-Didaktik als Beleg für die Möglichkeit, „denen, die der Religionsunterricht nicht mehr erreicht, Sittliches denken zu geben“.1 Sittliche Unterweisung also als Ersatz für Religionsunterricht? Ekkehard Martens konzentriert sich in seinen Überlegungen zu einer Ethik-Didaktik demgegenüber ganz auf die orientierende Kraft des Denkens, plädiert für das Philosophieren als vierter Kulturtechnik.2 Damit ist er zumindest näher an Wilhelm Busch, denn dort heißt es weiter: … Dass dies mit Verstand geschah, / War Herr Lehrer Lämpel da … - Richtschnur für das angemessene Thematisieren der Weisheitslehren und auch der Sittlichkeit scheint somit der (im Denken orientierende) Verstand zu sein. Das ist begründeter eine philosophische Position, wenigstens wenn man an Kant denkt, auf dessen kritischen Ansatz sich Martens beruft. Doch kann Philosophie deshalb wirklich als Verstandestechnik aufgefasst werden? Oder gilt nicht umgekehrt, dass auch der Verstand lediglich ein Organ ist zum Hören einer dem Verstand selbstverständlich vorgeordneten Weisheit? Auch für eine solche weder auf Sittlichkeitsunterweisung, noch auf Kulturtechnik reduzierte Lesart philosophischer Bildung könnte Wilhelm Busch gewonnen werden, zumindest aufgrund seiner hintersinnig humorvollen Parteinahme für das Vergnügen am Weisheits-Lernen: Max und Moritz klagen ja, wenngleich unmoralisch und gewalttätig, vor allem gegen die strenge Verstandeszucht ihres Lehrers Lämpel, den sie darob „gar nicht leiden“ mochten, nicht aber gegen ein Hören der Weisheit, zu welchem Vergnügen sie ja gar nicht kommen.. 1 Schmidt (1983), Bd. I, S.9. 2 Vgl. sein an verschiedenen Orten geäußertes Plädoyer für Philosophieren als vierter Kulturtechnik, etwa: Ekkehard Martens: Philosophicum elementare. Zur (Wieder-)Einführung von Philosophie in der Lehrerbildung, in: Akademische Philosophie zwischen Anspruch und Erwartung. Hg.v. K.R.Lohmann u. Th.Schmidt, Frankfurt 1998, S.196-208, zuletzt auch in: Martens 1999, bes. S.184-191. In mündlichen Referaten hat Martens in diesem Zusammenhang wiederholt die Passage von Wilhelm Busch als ermunternden Beleg angeführt. 1-2 Religion als Bildungsgut? 89 Die kleine Busch-Exegese könnte durchaus zu einer didaktischen Kontroverse ausformuliert werden; hier dient sie nur als Einstieg für die Frage nach einer bloß äußerliches Verstandeslernen ergänzenden, vielleicht auch sie überhaupt erst recht dimensionierenden Bildungsgröße. Religion bietet dafür selbst in nur halbwegs säkularisierten Lebensverhältnissen (siehe Kapitel 1-1) keine allgemein anerkannte Voraussetzung mehr. Säkular stellt sich daher am unmittelbarsten die Frage nach Ersatz. Und was läge da näher als die Philosophie in ihrem ethischen Bereich zu bemühen? Unserer Frage nach Religion als Bildungsgut gehen wir unter dieser Vorgabe also aus einer gewendeten Perspektive nach: Kann bzw. inwiefern kann nunmehr philosophische Bildung herhalten als (ersatzweise) Unterweisung in Sittlichkeit?3 Unmittelbar ist darauf zu antworten mit einer Gegenfrage: Handelt sich die Philosophie damit nicht zugleich kompetenzüberschreitende Probleme ein? Die Möglichkeiten und Grenzen einer angemessenen Antwort darauf hat Odo Marquard treffend und selbst-ironisch als „Inkompetenzkompensationskompetenz“ beschrieben, um die zunehmend unübersichtlichen und orientierungsbedürftigen Lebensverhältnisse ebenso ernst zu nehmen wie das kritische, zur Ideologisierung untaugliche Selbstverständnis der Philosophie.4 Vermag die Philosophie gleichwohl Orientierung zu 3 Zur Einordnung dieser Wendung ist natürlich auch darauf zu verweisen, dass dieses Kapitel ursprünglich im Kontext einer ursprünglich nicht religionspädagogischen, sondern philosophiedidaktischen Einlassung auf Religion stand. 4 Vgl. Odo Marquard: Inkompetenzkompensationskompetenz? Über Kompetenz und Inkompetenz der Philosophie; in: ders: Abschied vom Prinzipiellen. Stuttgart 1981, S.23-38. - Was ist gemeint? Im Zuge nachmetaphysischen Denkens haben sich im 19. und 20. Jahrhundert nach und nach die (heute selbständigen) Einzel-Wissenschaften aus der Philosophie verabschiedet. Da müsste es eigentlich einfacher geworden sein, da eingeschränkt fassbarer, einen Gegenstand aus philosophischer Perspektive zu beschreiben. Doch das ist meist nicht der Fall, was den hier zur Debatte stehenden Gegenstand, die Religion, angeht, allemal nicht. Denn mit ihrer Verabschiedung aus der Philosophie haben die Wissenschaften zudem versucht, traditionelle der Philosophie eigentümliche Gegenstände des Denkens als vorwissenschaftlich oder hinterweltlerisch abzutun. Andererseits haben die Wissenschaften die sich selbst aufgeladenen Probleme keineswegs zu größerer Zufriedenheit lösen können als vormals die spekulative Philosophie; zwar leben wir durch sog. wissenschaftliche Entdeckungen in einer Zeit ständig sich steigernder Informationsgehalte, andererseits steigen damit paradoxerweise auch Orientierungs- und Legitimationsprobleme für neu sich bietende Lebensformen. Entsprechend meldet sich ein Bedarf nach Bewältigungs-Theorien. Auch die Philosophie wird angesichts dieser Schwächen neu befragt. Das macht ihr Geschäft auch nicht einfacher, schwieriger vielleicht auch nicht, aber heikler und gefährlicher. Warum? Einerseits kann die Philosophie angesichts der aus ihr ausgezogenen Wissenschaften nicht mehr ohne Probleme mit allgemeingültigen Orientierungssätzen aufwarten, war doch dieser Auszug ein Indiz für das anbrechende nachmetaphysische Zeitalter, - ihr ist also eine gewisse Zurückhaltung bei allgemeinen Sinnfragen auferlegt; auf der anderen Seite aber wächst in einer zunehmend sich diversifizierenden und auseinanderlaufenden, aber auch komplexer und zusammenhängender werdenden Welt, sowie konkurrierender Entlastungstheorien Orientierungsbedarf, den die Wissenschaften aufgrund ihrer zunehmenden Spezialisierung nicht mehr einlösen können. In dieser Situation wird, so meint Odo Marquard, der Philosoph zunehmend als „Stuntman des Experten“ gefragt, „Experten - die ja kostbarer sind als Philosophen - zu doubeln in Situationen, die jenen Riskanz- 90 1-2 Religion als Bildungsgut? bieten? Und was lädt sie sich auf, wenn sie solche Orientierung ersatzweise nun gerade für religiöse Orientierung anbieten soll? - Dazu bieten sich drei Wege an: Als erste Möglichkeit einer Orientierung könnte die Philosophie Religion entschlackt von ihrem transzendenten Anspruch als kulturelles Gut ansehen und das darin bewahrenswürdiges Erbe ausmachen (1). Weiter würde die Lösung reichen, die Werte, die bislang durch Religion verkörpert wurden, nun als ethische (im philosophischen Sinn) zu begründen und herauszustellen (2). Und schließlich bliebe noch, ganz auf das philosophische Proprium zu setzen und Orientierung im Denken als Ersatz für religiöse Orientierung zu bieten (3). Prüfen wir diese Möglichkeiten: 1 Religion als Kulturgut Unter der Perspektive, Religion als Kulturgut zum Gegenstand schulischer Bildung zu machen wurde das Fach Ethik in den 70er-Jahren ausdrücklich für diejenigen Schüler eingeführt, „die nicht am Religionsunterricht teilnehmen“5; seine Orientierung an den „allgemein anerkannten Grundsätzen der Sittlichkeit“ bzw. des „natürlichen Sittengesetzes“6 versuchte, sich auf religiöse Elemente ausdrücklich nicht zu beziehen. Gleichwohl haben in den Bildungsplänen von Anfang an religiöse Gehalte eine Rolle gespielt, jedoch in einer Religion bzw. Religiosität nicht vermittelnden, sondern eher in einer über Religion als Kulturgut informierenden, also religionskundlichen Perspektive. Die Religionswissenschaft wurde damit zunehmend zur entscheidenden wissenschaftlichen Bezugsdisziplin.7 grad erreichen, den interdisziplinäre Kooperationen nun einmal haben“ [Odo Marquard: Der Mensch „diesseits der Utopie“. Bemerkungen über Geschichte und Aktualität der philosophischen Anthropologie, in: ders: Glück im Unglück. Philosophische Überlegungen. München 1995, S. 154.]. 5 So die Verfassungen der Länder Bayern (Art.137.2) und Rheinland-Pfalz (Art.35), die seinerzeit Vorreiter waren in der Einführung von Ethik als Schulfach. 6 Ebd. 7 Vgl. Peter Antes: Ethiklehrerausbildung ohne Religionswissenschaft? Ein Plädoyer, in: EU 1995, H.4, S.43f. - Antes fordert hier „die Religionswissenschaft als [gegenüber der Philosophie] gleichwertige und gleichberechtigte Leit- und Bezugswissenschaft“. Drei Begründungen liefert er dafür: Erstens sei für die heute in interkultureller Wirklichkeit gefragte Auseinandersetzung mit andersartigen Denkansätzen „eine an der abendländischen Philosophie orientierte Ethik allein nicht mehr ausreichend“. - Diesem Argument hat mit Recht Heinz-Albert Veraart (Wie philosophisch darf die Ethik sein ? Eine selbstverständliche Antwort auf eine erstaunliche Frage, in: EU 1996, H.3, S.41f.) eine unphilosophische Verkürzung des Ethikbegriffs durch Antes entgegengehalten: Philosophische Ethik hat ihren Gegenstand nicht in der faktischen Geltung bestimmter Normen, sondern in der Reflexion auf sie bzw. in der Frage ihrer möglichen Begründung. - Vgl. dazu auch unten die Anmerkungen 44 und 45 sowie das Kapitel 4-4, in dem ich selbst versuche, einen philosophisch wie didaktisch tragfähigen Begriff von Ethik zu entwickeln. 1-2 Religion als Bildungsgut? 91 Die Pointe wie Problematik dieser Sicht auf Religiöses ist dann am deutlichsten geworden in der Diskussion um das brandenburgische Fach LER (LebensgestaltungEthik-Religionskunde). Bekanntlich erfolgte hier in der Phase der Einführung eine Veränderung der Nomenklatur von „Religion“ über „Religionen“ zu „Religionskunde“, die die Verschiebung und letztlich auch Engführung der Perspektive auf das Phänomen des Religiösen sicher am evidentesten verdeutlicht. Auf die umfassende Diskussion kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden.8 Unbestritten ist aber, dass das Fach LER unter völlig anderen Bedingungen als der westdeutsche Ethikunterricht eingeführt wurde: Zumindest auf den ersten Blick schienen dies, und darum ist in unserem Zusammenhang darauf kurz einzugehen, vor allem religionskundliche Aufgabenstellungen erforderlich zu machen.9 - Die Problematik dieses Zweitens, so Antes, ermögliche gerade die (zunächst deskriptive) Religionswissenschaft einen „kognitiven Nachvollzug“ religiöser Traditionen „von außen“. Diesem Argument vor allem wird in der Folge durch Etablierung eines philosophischen Begriffs von Religion zu begegnen sein. Siehe dazu die Ausführungen im folgenden Kapitel 1-3. Und drittens erlaube die Religionswissenschaft einen kontextualisierten Zugang zu religiösen Phänomenen und Begriffen. Auch dazu vgl. unten meine Ausführungen in Kapitel 1-3. Offener für ein „Bündnis zwischen Philosophie und Religionswissenschaft“ hat Ulrike Brunotte plädiert (Ethik und Religion in der Schule, in: ZDPE 1995, H.2, S.130-136, hier S.136). Sie sieht den religionswissenschaftlichen Beitrag vor allem in dem „am tatsächlich vorhandenen Interesse der Schüler“ anzuknüpfenden „Erfahrungsmodus“ (ebd. S.132), welchen religionswissenschaftlich zu erschließende Deutungstraditionen eröffnen. Vgl. dazu unten das Kapitel 1-4, insbesondere im Zusammenhang meines Plädoyer für einen propädeutisch verfahrenden Unterricht in Religion, sowie auch die Erläuterungen zur Kategorie der Erfahrung in der Einleitung, Abschnitt 2. 8 Vgl. dazu diverse umfangreiche Dokumentationen, u.a.: Religionsunterricht und LER im Land Brandenburg. Hg. v.d. Evang.Kirche in Berlin-Brandenburg 1995, oder die epd-Dokumentation 19/96 „Pro und contra ‘LER’“. - Zu diesem Thema vgl. auch mein jetzt als Kap. 5-3 in die vorliegende Arbeit aufgenommener Beitrag: H.B. Petermann: LER - eine Herausforderung für den Religionsunterricht der Zukunft, in: IRP-Mitteilungen 2/96, Freiburg 1996, S.22-29. 9 Drei Gründe sehe ich vor allem, die für die Einführung des Faches LER im Unterschied zum Ethikunterricht angeführt werden konnten und angeführt wurden: (1) Es ging zunächst einmal nicht um das Auffangen von „Abmeldern“ aus dem Religionsunterricht, die gleichwohl, in einer neutral Wissen vermittelnden Form, in religiösen Dingen unterrichtet werden sollten; Ausgangspunkt für das Fach LER (wie im übrigen auch für das Fach Ethik in allen anderen ostdeutschen Bundesländern) war vielmehr die demografische Tatsache von ca. 80% nichtreligiösen, d.h. ungetauften und i.d.R. über religiöse Traditionen völlig uninformierten Schülern; ihnen sollten zunächst einmal Grundkenntnisse vermittelt werden. (2) Natürlich hatte solche Vermittlung bekenntnisneutral zu erfolgen; angesichts der Vielfalt gelebter und lebbarer Religionen wie auch nichttreligiöser Weltanschauungen schien die Maxime einer eher informativen Religionen-Kunde einleuchtend. „LER soll keine Religion bekennend vermitteln, sondern Wissen über die verschiedenen Religionen“, so programmatisch die ehemaligen Brandenburgische Bildungsministerin Peter Angelika Peter gegenüber der „Frankfurter Rundschau“, [zitiert in dem Artikel von Christian Füller: „Um Gottes willen, kein Weltanschauungsfach“. Religion als Nebenfach: In Brandenburg verschärft sich der Konflikt zwischen Staat und Kirche, in: FR v. 12.10.1995] (3) Schließlich musste man sich der neuen Situation einer pluralen demokratischen Gesellschaft stellen, zu deren Überleben Toleranz und Fähigkeit zur Auseinandersetzung gehören. In diesem Sinne meinte seinerzeit auch der LER-Kritiker Werner Simon durchaus affirmativ: „Eine plura- 92 1-2 Religion als Bildungsgut? pädagogisch innovativen Ansatzes hat Karl Ernst Nipkow auf den Punkt gebracht: Abgesehen von allen bildungskonzeptionellen und politischen Einwänden reflektierte das LER-Modell sicher zu wenig auf die gerade auch von Religionswissenschaftlern beschriebene strukturelle Aporie des religionskundlichen Zugangs zu Religionen: Sofern es sich bei Religionen um gelebte und lebbare, auch heute noch aktuelle und nicht rein historische Lebensbezüge handelt, kann ein informierender, sachkundlicher Zugang nie am Anfang einer Auseinandersetzung stehen, sondern ist stets von Lebensfragen getragen. Pädagogisch ist ein solcher Zugang daher problematisch, in der Erwachsenenperspektive kann er sinnvoll sein, nicht aber für die Erstbegegnung mit dem Religiösen.10 Dass bei der Bildung in religiösen Dingen die Dimension religiösen Erlebens bzw. von Religion als Beziehungsgeschehen ein unverzichtbares Element ist, diesen Schluss hat Klaus-Peter Jörns auch aus seinen soziologischen Erhebungen ziehen können.11 Gleichwohl ist keineswegs nur in philosophie- bzw. ethikdidaktischen, sondern auch religionspädagogischen Überlegungen die Ansicht nicht unverbreitet, heute sei es lediglich noch möglich, Religion als Bewahren kultureller Traditionen zu vermitteln.12 Ohne Zweifel besteht für eine elementare Wissensvermittlung in Sachen Religion nicht nur in den überwiegend nichtreligiös geprägten ostdeutschen Bundesländern Handlungsbedarf; auch in Westdeutschland ist die Rede vom religiösen Analphabetismus längst common sense.13 Auch den Herausforderungen listische Gesellschaft lebt von der Vielfalt begründeter, nicht beliebiger Überzeugungen. Sie fordert insofern eine ‘kenntnisreiche’ Toleranz.“ (Simon 1995). 10 Vgl. insbesondere zuletzt Nipkow (1998), Bd.2, S.144ff, 179f., 450ff. - Einen Weg, diesen Einwänden zu begegnen, weist Ulrike Brunotte mit ihrem auf Erfahrungslernen aufbauenden religionsdidaktischen Plädoyer (Brunotte 1995, S.132). 11 Jörns 1999, S.229. 12 Zu verweisen ist hier insbesondere auf die Überlegungen von Gerd Otto, zusammengefasst etwa in: Gerd Otto: Allgemeiner Religionsunterricht - Religionsunterricht für alle. Sieben Thesen mit Erläuterungen, in: Lott, Jürgen (Hg.), Religion - warum und wozu in der Schule?, Weinheim: Dt.StudienVerlag 1992, S.359-374. - Hintergrund für solche Konzeptionen bietet einerseits die Diagnose, Gesellschaft und (christliche) Kirche bildeten heute keine Einheit mehr, andererseits die Herausforderung, gegen die Mängel eines rein problemorientierten Religionsunterrichts, wie er in den 70er-Jahren gegen eine anachronististisch gewordene und nicht mehr akzeptanzfähige katechetische Glaubensunterweisung entwickelt wurde, gleichwohl an objektivierbaren stofflichen Bildungselementen festzuhalten. Für einen Rückzug der Kirchen aus dem schulischen Religionsunterricht und die Einbindung von „einschlägige(m)“ kirchlichen Gedankengut als „wesentliche(n) Stücken unserer moralischethischen Tradition“ in einen für alle verbindlichen „Ethik- oder Moralunterricht“ (sic!) plädierte 1988 aus Josef Brechtken in den „Katechetischen Blättern“ und zettelte damit eine heftige Diskussion unter Religionspädagogen an (Brechtken 1988). 13 Vgl. etwa auch Annette Schavan: Wozu brauchen wir noch einen Religionsunterricht ?, in: Stimmen der Zeit 1997, H.1, S.3-10. - Schon früh auf die zunehmende religiöse Sprachlosigkeit haben von Seiten der Religionspädagogik hingewiesen Norbert Scholl (zusammengefasst in: RU 2000. Welche Zukunft hat der Religionsunterricht? Zürich: Benziger 1993) und Günter Lange; Lange 1-2 Religion als Bildungsgut? 93 multikultureller und auch multireligiöser gesellschaftlicher Verhältnisse insbesondere in westdeutschen Großstädten haben sich religionspädagogische Überlegungen in den letzten Jahren verstärkt zu stellen versucht. Dabei scheint man augenblicklich noch eher darauf zu setzen, vor allem für die vielen islamischen Kinder und Jugendlichen (an einigen Schulen inzwischen mehr als 70% der Schüler) einen eigenen Religionsunterricht einzurichten, und nicht einen allgemeinen Religions- und Orientierungsunterricht für alle.14 Als zentrales Gegenargument gegen einen allgemeinen Religionsunterricht wird von kirchlicher Seite eben die fehlende Ebene persönlicher Erfahrungsbezogenheit eingeklagt. So formuliert etwa die Denkschrift der Evangelischen Kirche es sogar als Grundsatz für den Religionsunterricht, jene von Nipkow oder Jörns angemahnte „selbständige erfahrungsbezogene Aneignung und Auseinandersetzung zu fördern“.15 Der Religionsunterricht will demnach „ein Beitrag zur persönlichen Orientierung und Bildung sein“ und elementarisiert Fragen wie Lebenszuversicht, Identitätsentwicklung aufwerfen, freilich mit Religion als „Erfahrungen ganz eigener Art“, als „eine unverwechselbare Dimension des Lebens“.16 Die katholische Kirche arbeitet den hier zugrundeliegenden Bildungsbegriff in ihrer programmatischen Schrift zum Religionsunterricht noch deutlicher heraus, wenn das Thema „Erziehung als Bildung“ ausdrücklich im Horizont jugendlicher Erfahrungswelt und insbesondere des jugendlichen Selbstwerdungsprozesses erläutert wird:17 Die „konkrete Existenz“ der Jugendlichen wie der Lehrenden biete den Boden zur Ausbildung von Zielen wie „aus der Perspektive anderer sehen zu lernen“, um so „Perspektivenübernahme einzuüben“, oder „Selbstständigkeit“ zu entwickeln, was auch „Ermutigung zu kritischer Selbstdistanz“ mit einschließe.18 konstatierte bereits 1988 auch für den tradierten konfessionellen Religionsunterricht ein Verhältnis von 9:1 von kirchlich nicht mehr sozialisierten zu kirchlich gebundenen Schülern (Religionsunterricht auf dem Prüfstand, in: KatBl 1988, S.490); ebenso vgl. die kurze Notiz bei Scholl (1989). 14 Gegen die Einführung von Islamunterricht spricht m.E. nicht bzw. weniger die Schwierigkeit, geeignete Ansprechpartner und Träger zu finden. Vielmehr würde dadurch einer weiteren Aufspaltung in Konfessionalismen Vorschub geleistet mit der (fast notwendigen) Folge zunehmender Ausgrenzung von Religionsunterricht aus dem allgemeinen schulischen Bildungsangebot. Eine lobenswerte Ausnahme stellt demgegenüber der Hamburger Versuch eines Religionsunterrichts für alle dar, zumal dessen Konzeption auffälligerweise nicht bei bloßer Kenntnisvermittlung stehen bleibt, sondern versucht, die Dimension des Erfahrungs-Lernens auch in einem interreligiösen Kontext ernst zu nehmen. Vgl. dazu F.Doedens / W.Weiße: Religionsunterricht für alle. Hamburger Perspektiven zur Religionsdidaktik, Münster: Waxmann 1997. – Weitere Auseinandersetzungen dazu s.u. im abschließenden Kapitel 5-4. 15 Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität. Hg.v.d. Evang. Kirche i. D. Gütersloh: 1994, S 27. 16 Ebd., S.26,28,30. 17 Die deutschen Bischöfe: Die bildende Kraft des Religionsunterrichts (1996), S.26ff. 18 Ebd., S.61ff. 94 1-2 Religion als Bildungsgut? Eigentümlicherweise wird kirchlicherseits (und aufgrund der sog. religionsunterrichtlichen Trias von der katholischen Kirche noch stärker19) gleichwohl am Prinzip des konfessionellen Religionsunterrichts festgehalten, zugleich an der Pflege der konfessionellen Beheimatung20, so dass weiterdenkenden Versuchen, die den propädeutischen Charakter des Religionsunterrichts stärken wollen, um der angesichts konfessioneller Marginalisierungen notwendigen Ebene des Erfahrungslernens stärkeres Gewicht zu verschaffen21, vorschnell und paradoxerweise mit dem gleichen Argument wie gegenüber einem allgemeinen Religionsunterricht begegnet wird: „Ein solcher Religionsunterricht müsste gerade die konkret gelebten, anschaulichen und lebensnahen Elemente vernachlässigen, sich auf eine wenig fassbare, allgemeine Religiosität beschränken“.22 - Die Frage ist aber, ob ein puristisches Festhalten am konfessionellen Religionsunterricht nicht selbst dem als Gegenargument aufgebauten Abgleiten „in eine abstrakte Religionskunde“23 anheim fällt, da dabei abstrakt eine Verwurzelung in religiöser Erfahrung vorausgesetzt wird, die demgegenüber durch einen erfahrungsorientierten Unterricht angesichts weithin entkonfessionalisierter Sozialisation zuerst einmal aufbereitet werden müsste.24 19 Die Trias meint die Bindung des Religionsunterrichts an das Bekenntnis von Lehrer, Schülern und Lehrinhalten. Sie wird katholischerseits als Konstituens des Religionsunterrichts festgehalten (vgl. Die deutschen Bischöfe (1996), S.77), evangelischerseits zumindest, was die Ebenen Lehrer und Lehrinhalte angeht. Versuche, das Konfessionalitätsprinzip nicht als formale Voraussetzung, sondern eher als inhaltliche Aufgabe im Sinne einer Konfessionabilität des Religionsunterrichts aufzufassen, also als Orientierung auf eine konfessionelle Entscheidung hin, haben sich bislang nicht durchsetzen können. Vgl. dazu mein eigener Vorschlag: H.B.Petermann: Religion im Religionsunterricht ? Thesen zu einem Religionsunterricht der Zukunft, in: Mitt.d.Verb.Kath.RL, Freiburg 1996, H.2, S.14ff., sowie das Kapitel 5-4. 20 Zur Kritik vgl. auch Petermann (1997b) sowie Kapitel 2-1, Abschnitt 4. 21 Vgl. dazu die Vorschläge Petermann 1996a sowie zuletzt Hans Julius Schneider: Das neue Fach "Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde": Sinnvolle Propädeutik oder fragwürdiger Ersatz für den Religionsunterricht ?, in: Dt.Ztsch.f.Philos., Berlin 1998, S. 305ff. 22 Die deutschen Bischöfe (1996), S.77f. 23 Ebd. 24 Zur Entfaltung dieser Position vgl. unten die Kapitel 1-4 sowie 5-4. 1-2 Religion als Bildungsgut? 2 95 Werteorientierung und Ethik Wie aber kann Religion nicht nur als allgemeines und damit tendenziell beliebiges, zumindest kontingentes Kulturgut, sondern auch als unser Leben elementar berührende Erfahrung vermittelt werden, wenn konfessionell-religiöse Bindung den dafür notwendigen Erfahrungshintergrund faktisch nicht mehr bietet? Auf dem Hintergrund dieser Diagnose ist es beliebt geworden, von Werteorientierung zu sprechen und sie als zentrale Bildungsaufgabe einzuklagen. Das war die Pointe auch der Bildungsrede des früheren Bundespräsidenten Roman Herzog mit seiner ersten Forderung „Ich wünsche mir ein Bildungssystem, das wertorientiert ist“.25 Der Versuch des Rückgriffs auf Werteorientierung in Zeiten größerer Orientierungsschwäche hat Vorbilder, man vergleiche die Grundwertedebatte der 80er-Jahre oder den Kongress „Mut zur Erziehung“ von 1978.26 Nicht immer wird in diesen Appellen deutlich, inwiefern es dabei um einen Ersatz gegenüber verlorengegangener oder nicht mehr verallgemeinerungsfähiger religiöser Erziehung geht. Hartmut von Hentig scheint mit eben dieser Begründung Werteerziehung zu fordern (wenn auch in allgemeinerer Akzentuierung als Herzog): „Als Ursprung von Werten“ sieht v. Hentig ausdrücklich das Thema Religion „und Religionsunterricht als Instrument einer ‘Werteerziehung’“.27 Doch ist auch für ihn „in der multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft“ ein allgemeiner Wertekonsenses nicht mehr selbstverständlich und „mit konfessionsbewussten Religionen [auch] nicht zu haben“. Darum plädiert v. Hentig für einen allgemein verpflichtenden Unterricht in Philosophieren, in dem Wertvorstellungen sich bilden und geübt werden können oder zumindest als „Grundbedingung geklärt und bewusst gemacht“ werden.28 Eine solche Begründung von Werten ist philosophisch problematisch. Zwar versuchte bereits die sog. materiale Wertethik vom Beginn des 20. Jh.29 philosophisch 25 Roman Herzog: Sprengt die Fesseln. (Rede zur Zukunft unseres Bildungssystems), in: Die Zeit 1997, H.46, S.49f. - Herzog fordert darin nicht nur allgemein eine wertorientierte Erziehung, sondern auch einen Wertekatalog einschließlich der Vermittlung von konkreten (Sekundär-) Tugenden wie „Verläßlichkeit, Pünktlichkeit und Disziplin, vor allem aber Respekt vor dem Nächsten und die Fähigkeit zur menschlichen Zuwendung“, um eine Erziehung zu Selbständigkeit und Kreativität nicht in orientierungslose Irre laufen zu lassen, sondern ihr Ziele vorzugeben. 26 Zur Kritik vgl. u.a. Ruth Dölle-Oelmüller: Philosophisches Orientierungswissen in Erziehung und Bildung, in: Philosophische Orientierung. FS z. 65. Geb.v. W.Oelmüller. Hg.v. F.Hermanni u. V.Steenblock, München: Fink 1995, S.163-186. 27 Hartmut von Hentig: Ach die Werte. München: Hanser 1998, S.14. 28 Ebd., S.134f. 29 Vgl. insbes. Max Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. 1913; sowie Nicolai Hartmann: Ethik. 1925. 96 1-2 Religion als Bildungsgut? einen Rückgriff auf konkrete Werte auch im Hinblick auf inhaltliche Orientierung. Und auch Otfried Höffe glaubt in seinem frühen Programmaufsatz zum Ethikunterricht, die „Problematik einer sittlichen Verbindlichkeit in pluralistischer Gesellschaft“ durch Konzentration auf einige „elementare Verbindlichkeiten“ wie Tötungsverbot, Toleranz und Verständigungsbereitschaft, also konkrete Werte lösen zu können.30 Demgegenüber zeigen jedoch Winfried Franzen31 und Georg Lohmann32 aufgrund des heutigen Diskussionsstandes, insbesondere in der politischen Philosophie33, erhebliche Skepsis gegenüber einem werteerziehenden Unterricht. Lohmann fordert anstelle der problematischen und stets interpretationsbedürftigen Vermittlung eines konkreten Wertekanons die „Stärkung der sittlichen Urteilskraft“, mithin auch der „moralischen Autonomie und Urteilsbildung“, „die Fähigkeit jedes einzelnen, Werte überprüfen und Situationen angemessen einschätzen und überlegt zwischen ihnen wählen zu können.“34 - Kenner und erfahrene Vertreter des Ethikunterrichts haben diese Einsicht längst übernommen und wissen, wie etwa Konrad Baldrian: „Religion und Ethik sind weit mehr als ‘Wertefächer’“.35 Den entscheidenden Hintergrund für die Kritik eines werteorientierenden Unterrichts liefert ein reflektierter philosophischer Begriff von Ethik.36 Gegen die Alltagssprache und den etymologischen Wortsinn ist es in der Philosophie üblich geworden, Ethik von Moral zu unterscheiden: „Nach einem sich einbürgernden Sprachgebrauch bezeichnen wir als ‘Moral’ den [erg.: für den Einzelnen oder auch 30 Otfried Höffe: Ethikunterricht in pluralistischer Gesellschaft (1974), überarbeitet in: Ethik und Politik, Frankfurt: Suhrkamp 1979, hier S.470ff. - Auch die Konstanzer Philosophen Hubert Schleichert, Gottfried Seebaß und Peter Stemmer sprechen in ihrer bekannten Einlassung zum Fach LER von „grundlegenden Werten“, „von denen jedes Zusammenleben in der Gesellschaft abhängt“ und plädieren dafür, dass sie auch in ihrer inhaltlichen Bestimmung „den Bürgern eines demokratischen Staats vermittelt werden“ müssten, nicht nur hinsichtlich ihrer eigenverantwortlich zu treffenden Beurteilung. [Hubert Schleichert / Gottfried Seebaß / Peter Stemmer: Respekt für Menschen braucht Distanz zur Sache, in: FAZ v.14.01.1997]. 31 Winfried Franzen: Wertevermittlung und Philosophie, in: Philosophie und Religion. Zukunft einer Fächergruppe. Hg. H.Hastedt. Rost.Phil. Manuskripte H.5, Rostock: 1998, S.17-30. 32 Georg Lohmann: Probleme der "Werteerziehung" im Ethikunterricht, in: Dt.Zt.Philos., Berlin 1998, S.291-303. 33 Hintergrund dieser Skepsis scheint mir die in der politischen Philosophie zunehmend verbreitete Tendenz zu deliberativen Entscheidungsbegründungen zu sein. Vgl. dazu die jüngeren Arbeiten von Jürgen Habermas. – Zu den Konsequenzen für eine Moralerziehung vgl. auch meine eigenen Einlassungen in Kap. 4-4. 34 Ebd., S.300f. 35 Konrad Baldrian: Zum immer noch umstrittenen Verhältnis zwischen Religions- und Ethik/Philosophieunterricht, in: www.fv-ethik.de 1999, S.1. 36 Vgl. dazu auch meine Ausführungen unten in Kap. 4-4, die nicht nur den Unterschied zwischen Moral und Ethik klären, sondern auch das Problem einer unreflektierten Übernahme sog. Werte reflektieren sowie aus diesen Überlegungen didaktische Konsequenzen ziehen. 1-2 Religion als Bildungsgut? 97 bestimmte Kulturen geltenden] Inbegriff moralischer Normen, Werturteile, Institutionen, während wir den Ausdruck ‘Ethik’ für die philosophische Untersuchung des Problembereichs der Moral reservieren“, so Günter Patzig.37 Ihre Begründung gewinnt diese Unterscheidung in der Ablösung der ethischen Grundeinsicht von einer metaphysischen Begründung. Der Titel „Ethik ohne Metaphysik“ (Patzig) leistet allerdings zugleich einem ganz bestimmten (Miss-)Verständnis ethischer Autonomie Vorschub: Was von Kant zunächst zur Begründung von Freiheit als Konstituens allen Handelns behauptet wurde, dient nun als Zurückweisung jeglicher religiöser Grundlegung menschlichen Handelns. Philosophische Ethik wird so, was von dieser Argumentation her keinesfalls notwendig ist, in die Position einer gegenüber und von religiöser Ethik emanzipierten Begründung von Moral gerückt.38 Entsprechend ist es vielfach üblich geworden, die Orientierung an der Vernunft als Ziel des Ethikunterrichts auszurufen und der Orientierung an der Offenbarung als Ziel des Religionsunterrichts gegenüberzustellen.39 Die Bestimmung von moralischer Autonomie als „letztes regulatives Ziel des Ethikunterrichts“40 wird unter dieser Perspektive leicht zu einem Argument für Distanz gegen die Vermittlung konkreter persönlicher Handlungsbezüge. Entsprechend wollen Autoren wie Heinz-Albert Veraart den Ethikunterricht „auf die kognitiven Momente des sittlichen Handelns konzentrieren“.41 Erst neuerdings klagen demgegenüber andere Autoren zunehmend auch den erfahrungsorientierten und kommunikativ ausgerichteten Prozess des Zustandekommens von Wissen als Basis des Ethikunterrichts ein42 oder auch präsentative statt bloß diskursive Formen des Philosophierens.43 Darin mag sich 37 Günther Patzig, Ethik ohne Metaphysik. Göttingen 1971, S.3. 38 Eine solche Gegenüberstellung bringt sich sogar in die Gefahr, philosophische Ethik zu verwechseln mit der Begründung einer ganz bestimmten konkreten Moral, was andererseits der als religiös apostrophierten Ethik unterstellt wird. 39 Vgl. sogar die EKD-Denkschrift zum Religionsunterricht „Identität und Verständigung“ (Ev.Kirche 1994), S.79. 40 So Heinz-Albert Veraart: Wie philosophisch darf die Ethik sein ? Eine selbstverständliche Antwort auf eine erstaunliche Frage, in: EU 1996, H.3, S.42, Sp.3. 41 Ebd. - Veraart sieht das philosophische Spezifikum des Ethikunterrichts, dem die ethischen, dann wohl auch die religiösen Themen einzuordnen sind, in erster Linie in einer „geltungs- begründungs-und argumentationsorientierte(r) systematische(r)“ Fragestellung. 42 So etwa Richard Breun in: Überlegungen zu einem Curriculum für den Ethikunterricht, in: ZDPE 1994, H.4, S.269-277, sowie in: Kanonbildung im Ethikunterricht. Zur Frage des ethischen Wissens in der Primarstufe und Sekundarstufe I, in: ZDPE 1997, H.2, S.100-109. 43 Vgl. dazu die grundlegende Arbeit der Cassirer-Schülerin Susanne Langer: Philosophie auf neuem Wege. Frankfurt 1984, sowie die diesen Ansatz weiterführenden Beiträge von Susanne Nordhofen, etwa: Didaktik der symbolischen Formen. Über den Versuch, das Philosophieren mit Kindern philosophisch zu begründen, in: ZDPE 2/1998, S.127ff. – Auf Möglichkeiten der Umsetzung dieses Ansatzes für den Unterricht komme ich selbst ausführlicher zu sprechen in den Kapiteln 4-1 98 1-2 Religion als Bildungsgut? andeuten, dass Ethik auch als philosophische Disziplin zu kurz greift, wenn sie sich beschränkt auf Begründungs- und Argumentationstheorien und nicht den konkreten Lebensbezug des Handelns in den Blick nimmt. Schon für Aristoteles ist Ethik jedoch keine rein wissenschaftliche Disziplin, sondern darauf ausgerichtet, im konkreten Leben auch „gut zu werden“, also entsprechend der rechten ethischen Einsicht zu leben.44 Als philosophischer Disziplin geht es der Ethik gleichwohl nicht um direkte Anweisungen zum guten Leben45, sondern um die grundlegende Einsicht, dass überhaupt unser Leben führbar und durch uns selbst zu gestalten ist und nicht schlicht verläuft. Wenn sie aber Strukturen der Lebensführung zur Einsicht bringt, hilft sie durchaus auch, das Leben gut zu führen. Insofern bietet philosophische Ethik Orientierung.46 Doch ist es gerade deshalb fraglich, dass sie dies ersatzweise für religiöse Orientierung tut und tun kann.47 Eher scheint ihre Orientierungsleistung darin zu bestehen, diese grundlegende Orientierung zur Einsicht zu bringen und so der je eigenen Verantwortung den Weg zu bereiten.48 zur Arbeit mit Bilderbüchern, aber auch in 4-2 zur Erschließung biblischer Botschaften durch Bilder. 44 Aristoteles, Nikomachische Ethik 1103b. Darum strebt für Aristoteles grundsätzlich jede Handlung wie auch jede Einsicht nach dem, was „gut“ ist, so der berühmte Anfangssatz der Nikomachischen Ethik 1091a. 45 Die Differenz von je konkreter guter Lebensführung und der Reflexion auf das, was gutes Leben sei und was es heißt, es gut zu führen, wird tendenziell eingeschliffen von diversen Versuchen sog. angewandter Philosophie oder von Philosophie als Lebenskunst. Die Aufrechterhaltung dieser Differenz ist freilich keine philosophische Kopfgeburt, sondern ergibt sich notwendig aus der menschlichen Möglichkeit zur Reflexion. Mit der Einbindung der Philosophie als Schulweisheit in die Philosophie als Weltweisheit hebt beispielsweise Kant diese Differenz ebenso wenig auf wie Aristoteles mit dem eben zitierten Bezug der Ethik auf das Gut-Leben. Ursula Wolf hat einleuchtend darauf hingewiesen, dass die Philosophie wesentlich in und von dieser Spannung lebt, die existentiell elementare Frage nach dem guten Leben als das sie begründende Motiv zu verstehen und zu ihrem zentralen Gegenstand zu machen, in dieser Reflexion aber zugleich mit der Unlösbarkeit dieser Frage konfrontiert zu werden, so dass immerhin die Explikation unseres existentiellen Selbstverständnisses, die Sinnfrage, notwendige Aufgabe der Philosophie bleibt. [Ursula Wolf: Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, Reinbek: Rowohlt 1999]. 46 So auch Gernot Böhme: Ethik im Kontext. Frankfurt 1997, S.7. Mit seiner Formel, die Ethik habe zum Gegenstand moralische Fragen, und diese stellten sich, wenn es ernst werde (S.111,155,236), vertritt Böhme zwar explizit auch die Ansicht von Philosophie als Lebensform und Weltweisheit gegen ihre verwissenschaftlichte Form (S.7). Aber auch er hintergeht damit m.E. nicht die eben in Anm. 45 beschriebene Differenz, insofern er zwar konstatiert, dass „der Entwurf einer moralischen Lebensführung [nur] Sache des je einzelnen“ sein könne (S.237), die Bestimmung von Kompetenzen einer moralischen Lebensführung aber gleichwohl als originäre Aufgabe von Philosophie anerkennt, die als Leben zu führen „nicht jedermanns Sache“ sei (S.7). 47 Auch Ursula Wolf (1999) sieht trotz einer hinsichtlich des praktischen Lebens eher agnostischen Haltung die Auseinandersetzung mit der ihr vorgelagerten existentiellen Sinnfrage, wie sie die Religionen stellen, für die Philosophie als notwendig an, will sie nicht spannungshaltig und unabgeschlossen bleiben. (Vgl. S.186). 48 Dass sich in dieser Aufgabe der philosophisch ausgerichtete Ethik- und der traditionelle Religionsunterricht treffen, hat m.E. sehr klar Heinz-Albert Veraart beschrieben, wenn er es als Aufgabe 1-2 Religion als Bildungsgut? 3 99 Orientierung im Denken? Warum aber wird hier ein so deutlicher Unterschied gemacht zwischen dem einen Ziel, Orientierung zu bieten, und dem anderen Ziel, Orientierung zur Einsicht zu bringen? Ich will damit entgegen dem vielleicht ersten Eindruck die zuweilen unterstellte Identifikation des ersten Ziels mit religiöser und des zweiten mit philosophischer Orientierung nicht bestätigen, sondern aufsprengen. Gegenüber der starren Trennung zwischen religiöser und philosophischer Orientierung vertrete ich die These, dass zum einen als Schulfächer Philosophie wie Religion nicht mehr leisten können und dürfen, als Orientierung zur Einsicht zu bringen, dass aber zum andern diese Orientierung ihren Sinn verliert, wenn sie nicht auch die je persönlich beanspruchende Orientierung zur Erfahrung bringt, also hinausgreift über Informationen zu Begründungs- und Argumentationswegen. Nun wird Orientierung, und zwar Orientierung an der Vernunft, weithin als die Aufgabe des Ethik- und Philosophieunterrichts schlechthin angesehen. Um die seit Entstehung des Ethikunterrichts entstandenen konzeptionellen Varianten zu vereinigen, plädiert seit 1990 Ekkehard Martens wiederholt für die Aufnahme von Philosophie „als unverzichtbare(r) vierte(r) Kulturtechnik“ in den Kanon schulischer Bildung.49 Er beruft sich dabei auf Kants Essay „Was heißt: sich im Denken orientieren?“50 Die Frage Kants hat Martens in einen Imperativ verwandelt und daraus einen eigenen philosophiedidaktischen Ansatz entwickelt.51 Seitdem gilt die Orientierungsfunktion weithin als originäre Leistung der Philosophie, gerade im Bereich ihrer schulischen Wirkung. Zuweilen wird dieser Ausdruck jedoch nicht weiter ausgewiesen und tendiert dazu, für sich selbst zu stehen, als böte die Einladung zu Orientierung schon selbst Orientierung.52 Dabei reicht es nicht aus, Orientierung als bloßes „Angebot“ zu verstehen, beider Fächer beschreibt, „mit Orientierungen kritisch vertraut zu machen, die sich … auf das Leben im Ganzen und damit auf Leben ermöglichende und existenztragende Sinnorientierungen beziehen.“ (Heinz-Albert Veraart: Die Fächergruppe Religionsunterricht - Ethik - Philosophie. Trennung oder Einheit? in: Ehman u.a.: Religionsunterricht der Zukunft. Aspekte eines notwendigen Wandels. Freiburg 1998, S.115f.). Vgl. dazu auch meine Bemerkungen unten in den Kapiteln 1-4 und vor allem 5-4. 49 Vgl. Martens (1996) und (1998). 50 Immanuel Kant: Was heißt: Sich im Denken orientieren?, in: Werke Bd.V, 265-283; im folgenden zitiert nach der originalen Paginierung in der Berl. Monatszt. Okt.1786, S.304-330. 51 Martens (1990) und (1999). 52 Diesen Eindruck könnte man gewinnen, wenn man etwa den Satz liest: „Philosophie in der Schule kann und sollte Orientierungshilfe nur im Sinne eines Angebots sein“. So zu lesen bei Gisela 100 1-2 Religion als Bildungsgut? dem gegenüber die je persönliche Entscheidung völlig dem Einzelnen überlassen bleiben müsse. Als wahre Aufklärung ist Philosophie stets Herausforderung zum Denken und auch zum Entscheiden, darf sich also letzter Überzeugungsgrundsätze gerade nicht enthalten.53 An dieser Stelle, auch aus Gründen des Bezugs zum Thema „Religion“, ist ein ausführlicherer Verweis auf den vielzitierten Essay Kants „Was heißt: Sich im Denken orientieren?“ angebracht. In den genannten und weiteren philosophiedidaktischen Einlassungen wird diese Schrift gern zitiert, freilich oft nur der Titel und ggf. die Schlussanmerkung, insbesondere die Aufforderung Kants, man solle „bei allem dem, was man annehmen soll, sich selbst fragen“, sich also „seiner eigenen Vernunft bedienen“ (330). Damit verbindet sich die Option zu freiem Philosophieren gegen bloße Kenntnisakkumulation oder auch praxisferne begriffliche Reflexion; das aber führt leicht zum Missverständnis eines völlig ungebundenen, gänzlich auf sich selbst fixierten schlichten Nachdenkens54, besser „Herumraisonnierens“. Ein tieferer Blick in Kants Text vermag ein solches Missverständnis auszuräumen und bietet zudem ein gutes Fundament, sich in die philosophische Auseinandersetzung mit der Religion mit kritischem Blick einzulassen: In der Tat votiert Kant in seiner kleinen Schrift entschieden für das „Selberdenken“ als „obersten Probierstein der Wahrheit“, stellt dies aber bereits im Folgesatz klar als „die Maxime, jederzeit selbst zu denken“ (330), mithin in allem Denken nie die eigene Vernunft außen vor zu lassen. Das aber meint keineswegs, alles Gedachte und zu Denkende lediglich aus sich selbst zu schöpfen; denn Orientierung gewinnt das Denken für Kant nicht lediglich in sich selbst, sondern vielmehr in der ihrer selbst bewussten Vernunft. Die Orientierung an „Gemeinsinn, … gesunde(r) Vernunft, … schlichte(m) Menschenverstand“ kritisiert Kant als bloß „vorgebliche(n) geheime(n) Wahrheitsinn“, „überschwengliche Anschauung“ (306). Die Orientierung an der Vernunft dagegen weiß zugleich um die Raupach-Strey: Ethik-Unterricht auf philosophischer Basis. Zum Berliner Schulversuch Ethik / Philosophie, in: Dt.Zt.Philos., Berlin 1998, S.654f. 53 In missverständlicher Weise wird diese Abgrenzung vollzogen bei Raupach-Strey (1998), S.655. Auch der von R.S. behauptete Gegensatz von philosophischer Rationalität zu einem Überzeugungssystem ist auf dieser Grundlage nicht zu halten. - Zur Gegenargumentation vgl. meine Skizzierung philosophischer Ethik im vorausgegangenen Abschnitt 2 dieses Kapitels. 54 Martens hat in seinem programmatischen Bezug auf Kant zumindest auf den Anlass des Kantschen Aufsatzes Bezug genommen; er wendet diesen Bezug aber in ein vom Text nicht abgedecktes Plädoyer für ein ohne Anleitung durch den Lehrer tätiges „Selbstdenken“ aus je eigener moralischer Erfahrung [Martens 1999, S.55], sogar dafür, eine Gesamtperspektive für unser Denken „durch [Hervorh. i. Orig.!] Selbstdenken zu gewinnen und sich insgesamt auf das eigene, freie Denken … zu verlassen“ (S.58). Für problematisch halte ich dabei das „insgesamt“ wie auch das „durch“, mit dem das Selbstdenken gegenüber der Kantschen Intention auch als Substanz aller Denkbemühungen hochgespielt wird. Kant war demgegenüber bei aller aufklärerischen Emphase stets daran interessiert, im Selbstdenken wesentlich auch das Bewusstsein von der Begrenztheit der Vernunft zu verwurzeln. 1-2 Religion als Bildungsgut? 101 „Unzulänglichkeit der objektiven Prinzipien der Vernunft“ (310), also die „Grenzen aller Erfahrung“ und die Gefahr ihrer in der Kritik der reinen Vernunft ausführlich als Dialektik beschriebenen unzulänglichen Erweiterung. Im Wissen um diese Unzulänglichkeit aber kann und soll man sich „im Fürwahrhalten nach einem subjektiven Prinzip derselben [sc. der Vernunft] bestimmen“. Entscheidend zum Verständnis der Orientierungsleistung - und damit sind wir bei religionsphilosophischen Bezügen angelangt - ist der Zusammenhang dieser These: Orientierung im Denken ist offenbar in besonderer Weise gefragt beim „spekulativen Gebrauche der Vernunft“ (305), womit der Vernunftgebrauch in bezug auf Übersinnliches gemeint ist, vor allem die Begriffe vom höchsten Gut, von Gott, von Freiheit, von Glückseligkeit (316). Orientierung ist hier angesagt, eben weil es keine klare Erkenntnis dieser Gegenstände des Denkens geben kann, obgleich, und das ist entscheidend, der Vernunft das Bedürfnis, auch hier zu Wissen, zumindest aber zu Annahmen zu kommen, nicht verwehrt werden darf, also „sich im Denken, im unermesslichen und für uns mit dicker Nacht erfülleten Raume des Übersinnlichen, lediglich durch ihr eigenes Bedürfnis zu orientieren“ (311). Interessanterweise wehrt Kant sich im folgenden ausdrücklich gegen jegliches bloß vorgebliche Bedürfnis des Denkens, was keineswegs immer ein Bedürfnis der Vernunft sei (311ff). Ein Bedürfnis freilich „auf die Voraussetzung des Daseins desselben [eines uneingeschränkten Wesens als Grund für das konkret erfahrene beschränkte des eigenen Ich], ohne welche sie [die Vernunft] sich von der Zufälligkeit der Existenz der Dinge in der Welt, am wenigstens aber von der Zweckmäßigkeit und Ordnung … gar keinen befriedigenden Grund angeben kann“ (313f.), ein solches Bedürfnis der Vernunft wird von Kant nicht nur ausdrücklich akzeptiert, sondern sogar für erforderlich gehalten, soll es nicht zur Zerstörung der Freiheit im Denken durch sich selbst kommen (328). Die Orientierung ist also keineswegs eine Orientierung schlicht an sich selbst, sondern eine an der Vernunft, und zwar an einer kritischen, ihrer eigenen Grenzen wie auch Möglichkeiten bewussten Vernunft. Eine solche Orientierung an der Vernunft nennt Kant „Vernunftglaube“, ein notwendiger „Wegweiser oder Kompaß, wodurch der spekulative Denker sich auf seinen Vernunftstreifereien im Felde übersinnlichen Gegenstände orientieren“ kann (320). Ohne Kant zu weit in unsere religionsphilosophische These zu pressen, kann man zumindest dies mit Fug und Recht behaupten, dass Kant hier mit den Fragen und Themen der Religion eine Dimension thematisiert, die die Vernunft offen zu halten erlaubt für die Reflexion auch ihrer eigenen Grenzen. An ihr, der Religion, hätte insofern das Denken einen wesentlichen Maßstab zur Orientierung. 102 1-2 Religion als Bildungsgut? Willi Oelmüller hat in seinen zahlreichen Veröffentlichungen zum Thema „philosophische Orientierung“ immer wieder darauf hingewiesen, dass Orientierungswissen sich nicht formalisieren lässt, nicht beliebig verfügbar ist, und dass auch die entsprechenden Orientierungsfragen nicht frei verfügbar sind, sondern dass sie sich uns stellen, wenn Gewohntes fragwürdig wird; und sie stellen sich in einer Weise, dass sie uns „belästigen“, also sie selbst es sind, die sich uns stellen, dass letztlich nicht wir selbst es sind, die wir sie uns machen. Oelmüller nennt sie deshalb „letzte Fragen“55. Ich würde sie lieber elementare Fragen nennen, weil sie zugleich grundlegend für alle anderen Fragen sind.56 Noch deutlicher wird damit, dass es sich um unserem Denken bereits vorausliegende Fragen handelt. Die Philosophie erstellt sie nicht selbst, sondern ebnet Wege, dass wir sie formulieren und aussprechen können. Insofern leistet Philosophie Orientierung, doch nur, weil sie ihrerseits Orientierung wohl eher an dem findet, was zu suchen sie sei ihren Entstehungstagen unterwegs ist.57 55 So etwa in: Willi Oelmüller: Philosophische Aufklärung. Ein Orientierungsversuch, München: Fink 1994, S.32f. 56 Vgl. dazu weitere Erläuterungen im Abschnitt 2 des Kapitels 3 dieser Arbeit. 57 Ohne im einzelnen die Philosophie Heideggers mitgehen zu wollen, ist ihm an dieser Stelle m.E. durchweg Recht zu geben, wenn er die Philosophie grundlegend als eine Bewegung, als ein Streben beschreibt auf etwas zu, was nicht sie selbst ist, mit dem aber sie und damit wir im Einklang stehen wollen, das, was die Tradition das Sein oder „das Eine, Einzige, alles Einigende“ nennt. Vgl. Martin Heidegger: Was ist das - die Philosophie? Pfullingen: Neske 1956, S.12f. Kapitel 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung 1 Schwierigkeiten in der Bezeichnung „Religion“ Religion begegnet heute, so scheint es nach den Ausführungen in Kapitel 1-1, als ein nur noch kontextuell zu fassendes Phänomen, ein Phänomen im Kontext von alltäglicher Lebenswelt oder von Kultur, vorgängig gegenüber dem, was heute eher als Sinnfrage oder Werteorientierung thematisiert wird. Doch was ist das, was in den bisherigen und in den folgenden Überlegungen jeweils als „Religion“ gemeint ist, wird dabei nicht stets stillschweigend eine Bedeutung von „Religion“ vorausgesetzt? Was also überhaupt ist Religion? Der Versuch, bestimmen zu wollen, was Religion überhaupt, wesentlich sei, scheint also aufgrund der bisherigen Überlegungen zwar problematisch, er ist aber nicht unsinnig. In keiner philosophischen Auseinandersetzung kann die seit Sokrates elementare philosophische Frage, „ti estin“, was ist das, mit dem wir es zu tun haben, ausgeklammert werden, vor allem nicht mit der Behauptung der faktischen Unmöglichkeit einer Antwort; gerade dann bleibt sie im Gegenteil ein notwendiger Stachel der Auseinandersetzung.1 Bedenkt man weiterhin die Probleme, die sich eine unreflektierte Verwendung der Bezeichnung „Religion“ einhandelt, ist die Grundsatzfrage „ti estin“ nicht mehr verdächtig. Zwar erscheinen Definitionen unangemessen oder einseitig oder abstrakt, doch das hängt mit mindestens einer der folgenden vier Grundschwierigkeiten zusammen, die einer vereinheitlichenden Rede von „Religion“ entgegenstehen; sie aber zu bedenken, ist eine erste philosophische Aufgabe: 1 Bewusst nehmen diese Formulierungen Bezug auf das von Platon in seinen Dialogen dokumentierte Vorgehen des Sokrates, die Versuche einer Bestimmung eines Phänomens oder Begriffs durch Beispiele zu destruieren und stattdessen auf die Frage nach dem „überhaupt“ zu drängen, auch um den Preis einer vordergründig noch größeren Verwirrung, aber mit dem Gewinn, wenigstens den Sinn einer Frage besser verstanden zu haben. (Vgl. dazu exemplarisch Platon: Menon, 80a.b, und 84b). Diese im wörtlich Sinne sprach-analytische Fragestellung durchzieht die Geschichte zumindest abendländischer Philosophie und ist (wenigstens in diesem grundsätzlichen Verständnis) keine Neuentdeckung moderner sprachanalytischer Philosophie, so dass Wittgensteins Auskunft für alle Philosophie gelten kann: „Die Philosophie soll die Gedanken, die sonst, gleichsam, trübe und verschwommen sind, klar machen und scharf abgrenzen.“ (Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt: Suhrkamp 1960, Nr.4.112). 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung 105 1. Die Vielfalt der Religionen ist nicht nur unübersichtlich, sondern auch so disparat, dass ein einheitlicher Oberbegriff für alle Religionen kaum möglich ist.2 Insbesondere scheint es schwer, eine sinnstiftende Mitte auszumachen zwischen Naturreligionen einerseits, Offenbarungsreligionen andererseits, Religionen mit personalem Transzendenzbezug einerseits, Religionen andererseits, die (nach einem verbreiteten Urteil) Personalität des Heiligen, aber auch Transzendenzbezug ausschalten, schließlich die Unterscheidung zwischen tradierten Religionen und sog. Ersatzreligionen oder als Religion sich (bloß) qualifizierenden Sinnsuchbewegungen, zwischen allgemeinen Religionen und nur für wenige bestimmten Sekten; diesen Gegenüberstellungen ist freilich schon zu entnehmen, dass es auf den je zugrundegelegten, aber nicht weiter explizierten Religionsbegriff ankommt, der das Urteil einer Unterscheidung bzw. von Gemeinsamkeit ermöglicht. 2. Auch die Vielfalt der Möglichkeiten und Weisen religiöser Äußerung lässt sich offensichtlich nicht mit einem einheitlichen Begriff von Religion oder Religiosität erfassen, geschweige denn qualifizieren. Die Unterscheidung in persönliche Gotteserkenntnis einerseits, allgemeinen Kult andererseits3, oder der früher beliebte Versuch der etymologischen Aufschlüsselung des Begriffs „Religion“4, auch die historische These von der Entwicklung weg von öffentlich und ritualisiert praktizierter Religion hin zu persönlicher Religiosität5, oder die neuerliche 2 Vgl. diesbezügliche Auskünfte in den einschlägigen Lexikon-Artikeln zum Begriff „Religion“. 3 So galt lange Zeit die scholastische Definition von Religion als „modus cognoscendi et colendi Deum“ als brauchbare und ausreichende Antwort auf die Frage nach dem, was Religion sei. Über die dahinter stehende Vielfalt religiöser Formen in Antike und Mittelalter, die in den Übersetzungen verschiedener Begriffe in das lateinische „religio“ Eingang gefunden haben (von latreia, caeremonia, obsequium, threskeia, eusebia, pietas bis zu theou therapeia usf.) geben neuere Lexika kaum mehr Auskunft. Vgl. dazu aber noch das Vorgänger-Lexikon zum LThK, Wetzer/Welte: Kirchenlexikon oder Encyklopädie der katholischen Theologie und ihrer Hülfswissenschaften, etwa in 2.Aufl.Freiburg 1897 (Bd.10, Sp.1002ff). - In theologischen Lexika der Gegenwart findet sich diese Materialfülle nicht mehr; vgl. jedoch die umfangreichen Artikel zu „Religion“ von U.Dierse, C.H.Ratschow, S.Lorenz u.a. im Historischen Wörterbuch der Philosophie, Bd.8, Basel 1992, Sp.632-713. 4 Beliebt ist mit Verweis auf Cicero die Begründung in „relegere“ („immer wieder (zusammen) lesen“, von Thomas variiert zu „sammeln/sorgfältig bedenken“) einerseits, mit Verweis auf Laktanz in „religare“ („zurückbinden, fest anbinden an“) andererseits, wohingegen der Versuch von Augustinus, R. aus „reeligere“ („wieder, neu erwählen“) abzuleiten, als etymologisch unangemessen angesehen wurde, ebenso wie die zuweilen belegte Ableitung aus „relinquere“ (das Irdische „zurücklassen/aufgeben“). - Für genauere Quellennachweise vgl. Wetzer/Welte (1897), Sp.1002f. – Solche etymologischen Erklärungsversuche machen natürlich nur dann Sinn, wenn die dabei herausgearbeitete Bedeutung auch ihrerseits erläutert und mit Sinn gefüllt werden kann. 5 Offenkundig stößt die Frage „nach dem wahren Wesen der R. unabhängig von den einzelnen R.en“ seit dem 18.Jh. auf erhöhtes Interesse. Damit einher geht die Betonung einer der wahren R. eher entsprechenden inneren R. im Unterschied zu der geschichtlicher Kontingenz und der Gefahr des Formellen ausgesetzten äußeren, bloß kultisch sichtbaren R.. Diese Lesart findet ihre Bestäti- 106 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung Unterscheidung von Dimensionen religiöser Betätigung6 helfen nicht weiter, wenn es um die Frage geht, was all diese Formen zusammenhält, was das ihnen gemeinsame Religiöse sei. 3. Eine Vielfalt gibt es auch hinsichtlich möglicher wissenschaftlicher Zugänge zum Phänomen „Religion“. Hier ist es das Problem, implizit mit einem Begriff von „Religion“ zu arbeiten, der nicht von vorneherein andere ausschließt und so bestimmte Phänomene von Religion oder Religiosität gar nicht in den Blick bekommt.7 4. Schließlich müssen wir uns die interpretatorische Grundschwierigkeit vor Augen halten, mit einer Definition von Religion je nur a posteriori etwas sagen zu können über das beschriebene Phänomen und somit seinen apriorisch behaupteten Wahrheitsanspruch tendenziell nicht ernst zu nehmen.8 gung im Versuch der Elaboration einer allgemein gültigen Vernunft-R. im 18.Jht; vgl. Hist.WB d.Philos.Bd.8 (1992), Sp.653ff. 6 Von nicht nur religionssoziologischem Interesse sind die bekannten von Charles Glock aufgestellten, immer wieder, zuletzt von F. Benthaus-Apel weiterentwickelten 5 Dimensionen der Religiosität: a) ideologisch (R. als Glaube), b) ritualistisch (R-Praxis), c) Erfahrung (religiöses Empfinden), d) intellektuell (rlg. Wissen), e) Akzeptanz rlg. Rituale (Teilnahme an rlg. Vollzügen); vgl. Charles Y. Glock: Über die Dimensionen der Religiosität [1962], in: J.Matthes (Hg.): Kirche und Gesellschaft. Einführung in die Religionssoziologie II, Hamburg 1969; sowie Friederike BenthausApel: Religion und Lebensstil. Zur Analyse pluraler Religionsformen aus soziologischer Sicht, in: Fechtner/Haspel 1998, S.102-122. 7 So glaubt etwa Norbert Schiffers wissenschaftstheoretisch 8 Methoden eines möglichen Zugangs zu Religion herausarbeiten zu können, (1) abstraktionsmethodisch als Frage nach dem Wesen von R., (2) additiv als Summe der positiven Aussagen aller R,’en, (3) substrahierend als Frage nach dem Kern von R. unabhängig von empirischen Erscheinungsweisen, (4) identitätsmethodisch als Suche nach dem in allen R.en identischen Religiösen, (5) isolatorische als Frage nach rlg. Vorgängen und rlg. Erleben, (6) evolutiv-genetisch als Frage nach der (historischen) Entwicklung der R.en, (7) interpratationsmethodisch als (philosophische) Frage nach dem Sich-Einlassen auf die Dimension der Transzendenz, (8) funktional als Frage nach den konkreten Aufgaben von R. für Mensch und Gesellschaft [in: Norbert Schiffers: (Art.) Religion, in: Herders Theolog. Taschenlex., hg.v.K.Rahner, Bd.6, Freiburg 1973, S.204f]. Man sieht leicht, dass hier je nach Frage als Gegenstand der Frage etwas je unterschiedliches vorausgesetzt wird. Einen grundsätzlich guten Überblick über heute relevante religionsphilosophische Fragestellungen liefert nach wie vor: Halder/Kienzler/Möller (Hg.): Religionsphilosophie heute. Chancen und Bedeutung in Philosophie und Theologie, Düsseldorf: Patmos 1988. Als in der heutigen Forschung relevante Richtungen kommen darin Vertreter der analytischen, der soziologisch implizierten, der psychoanalytisch fragenden, der transzendental-hermeneutischen, der phänomenologischen, der ontologisch-metaphysischen bzw. personal-antimetaphysischen und der postmodern-dekonstruktivistischen Religionsphilosophie zur Sprache. 8 So lautet z.B. der Einwand von H.R.Schlette: (Art.) Religion, in: LThK 2.Aufl., Bd.8, Freiburg 1963, Sp.1164. 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung 2 107 Wie fragt die Philosophie nach Religion? Die Frage „Was ist das, die Religion?“ scheint somit schlicht nicht zu beantworten. Doch hat das „ti estin“ der philosophischen Tradition seit jeher zwei Ebenen: Einerseits wird nach dem Gegenstand gefragt, dem wir begegnen, andererseits aber immer zugleich auch nach der Art diesem Gegenstand zu begegnen. Eine Auseinandersetzung mit Religion, die Schwierigkeiten des Zugangs zum Phänomen „Religion“ thematisiert, ist mithin schon der Versuch einer philosophischen Antwort.9 Eine kleine wissenschaftstheoretische Vorüberlegung mag das erläutern: Es ist nicht nur Faktum, dass es verschiedene Wissenschaften gibt, die sich sachkundig mit Religion beschäftigen10, sondern auch, dass diese Wissenschaften in je unterschiedlicher Weise nach Religion fragen. Zumindest für den im vorliegenden Kapitel vorausgesetzten Zugang ist daher zu klären, wie eigentlich die Philosophie nach Religion fragt. Zunächst ist es sinnvoll, grob zu unterscheiden zwischen den eher empirisch ausgerichteten verschiedenen Religionswissenschaften zum einen, der begrifflich-strukturell fragenden Religionsphilosophie zum zweiten und der Religion selbstbezüglich und vor allem einverständlich auslegenden Theologie zum dritten. Das Schema der beiden folgenden Seiten kann diese Unterscheidung ein wenig genauer erläutern. 9 Eine ausgezeichnete Orientierung zu dieser Art Fragestellung liefert der Beitrag von Richard Schaeffler: Orientierungsaufgaben Religionsphilosophie, in: Peter Koslowski (Hg.): Orientierung durch Philosophie, Tübingen: Mohr 1991, S.196-224. Schaeffler macht überzeugend deutlich, dass entgegen dem Verdacht remetaphysizierender Wesensfragen einerseits und trotz der problematischen Vielfalt von Religion „die alte Frage ‘Was ist Religion?’ nicht übergangen werden kann“ (S.209). Schaefflers Hinweis, dass die religionsphilosophische Frage nach der Eigenart des Religiösen heute nicht mehr als „Hinweis auf den Gegenstand aller religiösen Akte“ beantwortet werden kann, sondern „durch Analyse der Akt-Struktur“ (ebd.), macht sich auch der vorliegende Beitrag zueigen. 10 Das wird deutlich nicht zuletzt durch die Intention des Bandes: Hochschullehre und Religion. Perspektiven verschiedener Fachdisziplinen. Hg. v. D.Fauth u. U.Bubenheimer, Würzburg 2000, in dem auch die vorliegenden Überlegungen als philosophischer Beitrag zuerst erschienen sind. 108 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung SICHTWEISEN Disziplin / Wissenschaft AUF DAS PHÄNOMEN „RELIGION“ Teildisziplinen [ in allgemeinstem Verständnis ] Sichtweise möglichst umfassende und differenzierte, allgemein und vernünftig nachvollziehbare Darstellung des Religiösen (i.d.R. von außen vollzogene) Darstellung expliziter bzw. allgemein erfahrbarer religiöser Phänomene, Verhaltensweisen, Riten, Glaubensvorstellungen, auch jeweiliger historischer [in empirischem Verständnis] Entwicklungen Religions-Kunde / ReligionsPhänomenologie / ReligionsWissenschaft Religions-Geschichte ReligionsWissenschaft ReligionsPhilosophie Darstellung der historischen Entwicklung der Religionen im Zusammenhang der Menschheitsgeschichte Religions-Psychologie Darstellung und Deutung von Formen der Religiosität als psychische Gestalten/Dimensionen von Menschsein Religions-Soziologie Darstellung und Deutung von gesellschaftlichen Ausprägungen von Religiosität als sozialen Formen / Dimensionen von Menschsein Religions-Philosophie Hinterfragen, Erklären und Deuten der Strukturen (Erfahrungsebenen, sprachliche Formen, Handlungsebenen) von Religiosität als Dimensionen von Menschsein / als menschliche Äußerungsformen - weltanschaulich / hermeneutisch Reflexion auf Religiosität als Dimension von Menschsein / als menschliche Äußerungsform - ideengeschichtlich / phänomenologisch [ im philos. Sinn] vernünftiges Hinterfragen, Erklären, Deuten der Strukturen von Religiosität als Formen menschlichen Verhältnisses zu sich selbst, zu Welt, zu Sinn - analytisch Analyse / Begreifen der (sprachlichen) Muster von Religiosität: Was wollen sie in welcher Form zum Ausdruck bringen? 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung Disziplin / Wissenschaft Teildisziplinen Exegese Auslegung der Heiligen Schriften Dogmatik Formulierung der zentralen Glaubensauffassungen Ethik Impulse / Anweisungen zur Lebensführung Praktische Theologie Deutung/Einübung von Glaubensäußerungen (Riten u.a.) Vollzugsform [ als praktisch vollzogene Religion ] fides qua creditur [Glaube, mit dem / durch den man glaubt] Konfession fides quae creditur [Glaube, den man glaubt] Religion Sichtweise grundsätzliche Offenheit menschlicher Existenz für Religion Religiosität Glaube Sichtweise Zur-Sprache-Bringen der Grundlagen, Erfahrungsebenen, Lebensdeutungen und Handlungsimpulse einer Religion aus der Sicht des Glaubens (von innen) Theologie Religions-Vollzug 109 persönliches Festhalten und Vollzug zentraler religiöser Lebensdeutungen und Lebensanweisungen je subjektiver, auf Deutung und Vollzug des Lebens bezogener Akt des Glaubens / Organ des Glaubens - Vollzug des Glaubens durch Festhalten, Bekenntnis, Lebensführung, Feier, Gemeinschaftsbezug - ausdrückliches Bekenntnis zu bestimmten Glaubensaussagen - Bekenntnis der Zugehörigkeit zu einer bestimmten GlaubensRichtung System / Summe zentraler Glaubens-Aussagen, die zu glauben sind / geglaubt werden objektives (historisch gewordenes) System von Glaubens-Vollzügen / -Äußerungen 110 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung Aus dieser Übersicht ergibt sich: Um einen auch didaktisch aufzubereitenden Zugang zum Phänomen „Religion“ zu erlangen, ist die religionsphilosophische Perspektive unverzichtbar11: Was Religion ist, kann nicht deutlich werden, kann vor allem nicht zur Auseinandersetzung gelangen, wenn ich mich nicht auf die Erörterung der Strukturen von Religiosität einzulassen bereit bin. Zugespitzter formuliert: Es muss in der Auseinandersetzung mit Religion auch prinzipiell zur Sprache gebracht werden, warum und in welcher Weise ein sich als religiös verstehender Akt oder ein als religiös eingeordnetes Phänomen als religiös zu deuten ist und als religiös sich verstehend auch betrachtet werden will und kann. Die Theologie kann und vermag sich auf solche grundsätzlichen Fragen nicht oder nur bedingt einlassen, weil es ihr zwar um Auseinandersetzung gehen kann und sollte, aber stets im Sinne der Ausleuchtung des bereits Geglaubten, also im nicht mehr zu hinterfragenden Einverständnis des Religiösen, nicht aus der Position der grundsätzlichen Infragestellung der Religiosität der zur Debatte stehenden Akte und Phänomene. Warum? Theologie ist bei aller Wissenschaftlichkeit immer auch den Glauben erschließende Antwort auf das im Glauben ergangene Wort Gottes. Im engeren Selbstverständnis von Theologie meint bereits das Wort „Theologie“ stets die doppelte Dimension: Einmal das im menschlichen Logos formulierte Wort Gottes, und dann die entsprechende Auslegung des göttlichen Wortes. Die eine Ebene ist an die andere streng gebunden und wird ohne die jeweils andere nicht verständlich. Insofern verliert, wissenschaftstheoretisch gesehen, theologische Rede umgekehrt ihren Sinn als theologische, wenn sie sich beispielsweise nur noch historisch-kritisch oder empirisch-darstellend auf ihren Gegenstand bezieht.12 Die empirische Sicht auf Religion hingegen vermag zwar, weil sie zunächst auf Deutung verzichtet, unter Umständen Phänomene gegenüber einer bereits deutenden Sicht vielfältiger und insofern aufschlussreicher zu entdecken, wird sie aber, solange sie dabei bleibt, sie als äußerlich sichtbare Phänomene einzuordnen, nicht als das, 11 Auf die Erläuterung des zweiten Teils des Schema, die unterschiedlichen Vollzüge von Religion betreffend, komme ich unten im Abschnitt 5 des Kapitels kurz und ausführlicher dann im Kapitel 5-4 zu sprechen. 12 Das ist bereits in der sog. Leben-Jesu-Forschung des 19. Jahrhunderts schmerzlich zur Erfahrung geworden, glänzend dargestellt von Albert Schweitzer in seiner Geschichte der Leben-JesuForschung (1906). Im Streben nach größerer Wissenschaftlichkeit, die als Historizität oder linguistische Genauigkeit enggeführt nur vermeintlich größere Verlässlichkeit verbürgt, scheinen diese Geschichte wie auch den erläuterten Sinn von Theologie manche zeitgenössische Theologen vergessen zu haben, insbesondere im exegetischen Raum. Andererseits darf natürlich auch die Bedeutung von Theologie als vernünftiger Auslegung des zuvor gehörten Wortes nicht beiseite geschoben werden. Dann würde Theologie in der Tat ihren wissenschaftlichen Anspruch verlieren und zu einem rein esoterischen Geschäft werden. Insbesondere die Reflexion auf Sprache gehört daher elementar zum Theologisieren. Dazu vgl. genauer den Teil II meiner Arbeit. 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung 111 was sie zu sein beanspruchen, zur Sprache bringen können, bleibt insofern stets Hilfsdisziplin.13 Die empirische Religionswissenschaft sollte daher, auch wenn sie zuweilen den Titel „Religionsphänomenologie“ trägt, nicht von vorneherein mit einer philosophisch zu verstehenden Phänomenologie identifiziert werden, wie vor allem von Edmund Husserl sie entwickelt hat; diese hat es entgegen dem alltagssprachlichen Gebrauch von „Phänomen“ eben nicht bloß mit äußeren Erscheinungen, Phänomenen, zu tun hat, sondern ihr Gegenstand ist (im Gegensatz zu einem eng verstandenen cartesianischen Rationalismus) die Korrelation zwischen dem cogito und dem in seine Welt eingebundenen cogitatum, bzw. zwischen Bewusstseinsakt, noesis, und intentionalen Gegenständen dieses Aktes, noemata. Aufgrund dieser Unterscheidung sind in meinem Schema auch empirische Religionsphänomenologie und phänomenologisch ausgerichtete Religionsphilosophie unterschieden. Das heißt natürlich nicht, dass sich nicht auch die empirische Religionsphänomenologie, ihre empirische Grundlage überschreitend bzw. vertiefend, in philosophischer Weise äußern kann.14 Damit bleibt die Philosophie als diejenige Ebene übrig, deren originäre Aufgabe eben jenes gesuchte reflektierte Zur-Sprache-Bringen des als Religion sich Zeigenden und Äußernden in der je eigenen „Sprach“-Form ist. Die oben genannten Schwierigkeiten einer einheitlichen Definition von Religion sollten daher nicht zu dem Schluss führen, eine Auseinandersetzung mit dem, was „Religion“ eigentlich sei, sei absurd, sondern gerade provozieren zur Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Apostrophierungen von Akten und Formen als religiös, inwiefern sie mithin als religiös anzusehen sind. 3 Möglichkeit einer Philosophie der Religion Mit dieser Überlegung ist die Möglichkeit und auch Notwendigkeit einer Philosophie der Religion erläutert, noch nicht aber die einer Philosophie der Religion. Damit sehen wir uns einer anderen, nämlich innerphilosophischen Schwierigkeit gegenüber, ob es nämlich aus philosophischem Selbstverständnis heraus überhaupt möglich und sinnvoll ist, sich mit dem Phänomen Religion auseinander zu setzen. Den Hintergrund dieser Schwierigkeit bildet der bislang implizit eher gegen den religionswissenschaftlichen Zugang vorzubringende Einwand, dass es sich bei dem Bereich 13 So auch völlig zu Recht ausgerechnet von philosophiedidaktischer Seite der Einwand von Veraart (1996) gegen Antes (1995). 14 Dass dies auch im Sinne einer Weiterentwicklung der religionswissenschaftlichen Perspektive nicht nur sinnvoll, sondern auch möglich ist, darauf hat wiederholt Ulrike Brunotte hingewiesen, etwa: In LER hat auch ER seinen Platz, in: Die Zeit 1999, H.3, S.33. 112 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung des Religiösen um einen spezifischen, von anderen Formen menschlichen Selbstund Weltverhältnisses wesentlich unterschiedenen Bereich handle, der deswegen als das, was er ist, auch in seiner besonderen Struktur zu erfassen sei, also auch, dass das Religiöse nicht reduzierbar sei auf eine erkenntnistheoretische oder eine ethische oder eine politische oder eine ästhetische Form der menschlichen Begegnung mit Wirklichkeit. Dieses Argument, das eben noch für die Notwendigkeit einer philosophischen Perspektive herhalten konnte, wendet sich nun gegen die Möglichkeit einer philosophisch sinnvollen Auseinandersetzung mit Religion. Genauer geht es um die Frage, mit welchem Verständnis von Religionsphilosophie der vorliegende Beitrag arbeitet. - Auf drei Ebenen sind, wenn ich recht sehe, Einwände gegen eine Philosophie der Religion denkbar: (1) Der erste äußert sich als systematischer Verdacht, ist aber eher historisch begründet, wenn er in jeder als Religionsphilosophie sich verstehenden Denkbewegung einen Rückfall in eine überwunden geglaubte metaphysische Denk- und Sprechweise ausmacht. - Dem ist in zweifacher Form zu begegnen: Zum einen ist historisch gesehen die Disziplin der Religionsphilosophie bekanntlich erst nach dem Zerbrechen metaphysischer Selbstverständlichkeiten entstanden. Wie Jörg Splett bemerkt, wird erst damit eine prinzipielle Reflexion auf Religion als Religionsphilosophie möglich wie auch nötig.15 Religionsphilosophie ist insofern auch nicht eine Nachfolgedisziplin der theologia naturalis16, bzw. einer allgemeinen philosophischen Begründung von Religion im Geiste und aus Perspektive der Theologie, sondern eine im nachmetaphysischen, ja metaphysikkritischen Sinne grundlegende Infragestellung und Auseinandersetzung mit dem Religiösen. Darum ist Religionsphilosophie, und das ist die eher terminologische Entgegnung, auch nicht zu verwechseln mit der vor allem in der katholischen Theologie bis heute verbreiteten Disziplin der Fundamen15 Vgl. Jörg Splett: Religionsphilosophie? Vorentwurf zu einem Lexikonartikel - samt Glossen, in: L.Hauser, E.Nordhofen (Hg.): Im Netz der Begriffe. Religionsphilosophische Analysen, Altenberge: Oros 1994, S.215. 16 Das gilt m.E. auch für Hegels Einordnung von Religionsphilosophie. Hegel behauptet zwar (missverständlich) in seiner Einleitung zur Religionsphilosophie [Einleitung nach dem Manuskript, in: G.W.F.Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 1: Einleitung. Der Begriff der Religion. Hg.v.W.Jaeschke. Hamburg: Meiner 1983, S.3], die Religionsphilosophie habe „im allgemeinen, ganzen denselben Zweck als die vormalige metaphysische Wissenschaft hatte, die man theologia naturalis nannte“; doch identifiziert er damit m.E. keinesfalls Religionsphilosophie und theologia naturalis; der Zweck, so Hegel, ist zwar bei beiden der gleiche, nämlich die Frage, „was die bloße Vernunft von Gott wissen könne“ (ebd.), doch damit haben, würde ich ergänzen, beide nicht die gleiche Absicht: Während die theologia naturalis in durchaus apologetischer Absicht Religion aus der bloßen Vernunft auch zu begründen beabsichtigt hat, verzichtet die Religionsphilosophie, der gegenüber die theologia naturalis eben „vormalige“ metaphysische Wissenschaft war, auf diese Perspektive, ohne damit die Fragestellung preiszugeben; im Gegenteil: die Frage, was die bloße Vernunft wissen überhaupt könne, kann erst jetzt eigentlich so prinzipiell gestellt, d.h. auch infrage gestellt werden. 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung 113 taltheologie, hat also nicht wie diese eine wesentlich religionsbegründende, sondern lediglich -erschließende Aufgabenstellung.17 (2) Eine zweite Ebene von Einwänden gegen die Möglichkeit einer Philosophie von Religion gründet sich auf Wittgensteins frühe Einordnung von religiösen Sätzen als unsinnig.18 Demnach ist die Philosophie, der es allein um „das Klarwerden von Sätzen“ gehen kann19, in der Religion mit einem Bereich konfrontiert, in dem etwas gesagt würde, was sich (logisch) nicht sagen lässt.20 Die Konsequenz eines solchen philosophischen Selbstverständnisses ist ambivalent, und in dieser Ambivalenz steckt zugleich die Entgegnung gegen diesen Einwand: Einerseits kann ein solches Selbstverständnis eine logisch-positivistische Selbstbeschränkung nach sich ziehen, die latent in Widerspruch gerät mit dem philosophischen Anspruch, alles Denkmögliche zum Gegenstand der Kritik machen zu können: Auch die als unsinnig apostrophierte Sprache der Religion ist Sprache, und schon daher ist es eher fraglich, ob in Bezug auf das Religiöse jenseits wissenschaftlicher Fragen keine Frage mehr bleibt.21 Andererseits wird - das hat gerade Wittgenstein in seiner persönlichen Hochachtung gegenüber Religion stets gesehen und auch betont - die Philosophie in der Aussparung möglicher Rede über Religion mit der Grenze ihrer selbst konfrontiert.22 Von daher kann sie sich nicht in einen platten Agnostizismus flüchten, gar nichts mehr zu Religiösem sagen zu wollen. Ein fundierterer Agnostizismus im Sinne negativer Religionsphilosophie bliebe eine mögliche Alternative, doch würde er ja die Möglichkeit einer Reflexion auf Religiöses bereits wieder bejahen, ohne sich freilich auf (philosophische) Möglichkeiten ihrer Entfaltung einzulassen. (3) Die dritte Ebene möglicher Einwände knüpft an die o.g. vierte Grundschwierigkeit einer verständigenden Rede über Religion an: Sie arbeitet mit dem eher 17 Dabei ist es natürlich nicht ausgeschlossen, dass spezifisch religionsphilosophische, und das heißt im wörtlichen Sinne auch religionskritische Perspektiven in die Fundamentaltheologie aufgenommen werden können, so dass auch die theologische Disziplin der Fundamentaltheologie sich heute faktisch vielfach als Erschließung von Religiosität, weniger als (traditionelle) apologetische Begründung darstellt. 18 Einen ausführlichen Kommentar der Unterscheidung von sinnvollen, sinnlosen und unsinnigen Sätzen bei Wittgenstein sowie zur folgenden Einordnung religiöser Aussagen als sinnlose im Logischen Empirismus gibt Hermann Schrödter: Analytische Religionsphilosophie. Hauptstandpunkte und Grundprobleme, Freiburg/München: Alber 1979, S.65ff und 87ff. 19 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt: Suhrkamp 1960, Nr.4.112. 20 Das würde die durch die Philosophie selbstgesetzte Grenze sprengen, „nichts zu sagen, als was sich sagen lässt“. (Ebd., Nr.6.53). 21 Vgl. ebd., Nr. 6.52; so jedenfalls äußerst sich Wittgenstein in seiner frühen Phase. 22 Vgl. dazu nur die vielzitierte Nr. 6.52 des Tractatus: „Wir fühlen, daß selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind…“ 114 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung innerreligiösen Einwand, die dem Religiösen eigentümliche Wahrheit sei eben nicht die Wahrheit philosophischen Denkens, das der Religion gegenüber immer äußerlich bleiben müsse.23 Das mag insofern richtig sein, als der religiöse Akt selbst nicht von vornherein ein Akt philosophischen Denkens ist, auch eher seltener sich als Akt des Denkens äußert, auf keinen Fall aber schlicht in ihm aufgehen kann.24 Doch kann daraus nicht geschlossen werden, als das ganz Andere gegenüber dem philosophischen Denken sei die Religion ein diesem Denken wesentlich entzogener Bereich.25 Im Gegenteil ist dabei an die schlichte Tatsache zu erinnern, wie sie etwa Bernhard Welte feststellt, „dass die Religion - wie sehr sie auch aus eigenem Ursprung leben mag und vielleicht ein Geschenk Gottes ist - sich doch vollzieht als ein menschliches Geschehen und eine Form des menschlichen Lebens und Daseins. Und also geschieht sie im Horizont des Menschen.“26 Entsprechend verlangt sie ganz naturgemäß auch 23 So der gängige Einwand gegen einen (religiös letztlich irrelevanten) Gott der Philosophen. - Auf Pascal (und sein berühmtes Mémorial) kann sich dieser Einwand m.E. nur bedingt berufen, denn Pascal wendet sich zunächst keineswegs pauschal gegen philosophische Gotteserkenntnis überhaupt und fordert demgegenüber auch keineswegs einen auf jede gelehrige Erkenntnis verzichtenden, unhinterfragt (ge)horchenden Glauben an die Offenbarung. Vielmehr sucht er - bewusst doppelt gesetzt - „Gewißheit; Gewißheit“, und sie ist es, so meint Pascal, die nicht durch gelehrige Philosophie, sondern allein im sich offenbarenden Gott erreichbar ist. Durchaus offen bleibt damit der Status der erkennenden Vernunft in Bezug auf die Einsicht in diese Gewissheit, auch wenn Pascal selber seine Logik "par le coeur" polemisch gegen die Erkenntnis "par le raison" des Descartes meinte setzen zu müssen. Der sogenannte Gott der Philosophen jedoch muss keineswegs verstanden werden als bloß diskursiv reduzierbares und insofern quasi mathematisch "beweisbares" Produkt unserer Verstandeskonstruktionen; mit Berufung auf gute Tradition, nicht zuletzt biblische Tradition, lässt sich die Rede vom Gott der Philosophen vielmehr verstehen als geistige Rechenschaft über jene Bedingung, unter der Gott sich von uns in all unserer Beschränktheit überhaupt erfahren lässt; die Rede vom Gott der Philosophen kann mithin sogar jene eher theologische Ebene markieren, empfangenen Glauben auch zu erschließen, weiterzugeben und verantwortlich zu gestalten, die Ebene der vernünftigen oder im wörtlichen Sinne intellektuellen Erfahrung Gottes, auf der nämlich die (unmittelbare) Glaubens-Erfahrung zugleich zum Bewusstsein gebracht und insofern eingesehen und überhaupt erst begriffen und weitergegeben werden kann. Ausführlicher wird dieser Gedanken entfaltet unten im Kapitel 2-1. - Die von hier her mögliche Verbindung von Philosophie und Theologie kann an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden, scheint mir aber nicht zuletzt auch in hochschuldidaktischer Sicht wichtig, zur Möglichkeit nicht nur abgestimmter, sondern auch kooperativer Interdisziplinarität. 24 Insofern, aber auch nur insofern, um die Eigenheit des religiösen Aktes gegenüber dem Akt des Philosophierens zu betonen, (was im übrigen auch Hegel tut), ist in der Tat Hegels Gleichsetzung von Religion und Philosophie zu widersprechen. 25 Insofern ist auch der Verweis auf Aristoteles, Philosophie sei wesentlich Denken des Denkens, genau zu lesen. Keineswegs kann daraus geschlossen werden, Gegenstand der Philosophie sei allein das Denken und insofern sei die Religion, die sich zunächst einmal nicht als Denken äußert, kein möglicher philosophischer Gegenstand. Wohl aber bezieht sich die Philosophie auf ihre Gegenstände so, dass sie zu Gegenständen des Denkens gemacht werden. Daraus ergibt sich, dass eine Philosophie der Religion zwar eine mögliche (und vielleicht auch notwendige) Auseinandersetzung mit Religion ist, aber keineswegs die einzig angemessene oder gar mögliche. 26 Bernhard Welte: Religionsphilosophie, 5. überarb. u. erw. Aufl. hg. B.Casper u. K.Kienzler, Frankfurt 1997, S.56 (§2.2). 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung 115 stets nach vernünftiger Auslegung, zumindest aber ins Leben eingreifender Äußerung und kann deshalb nie allein im Binnenraum religiöser Erfahrung verharren.27 4 Ein philosophischer Begriff von „Religion“ Wenn demnach Religionsphilosophie möglich und sinnvoll, ja unter der Annahme, dass es sich beim Bereich des Religiösen um ein originäres, nicht in anderen Bereichen menschlichen Lebensvollzugs aufgehendes Geschehen handelt, auch notwendig ist28, dann ist es nun doch sinnvoll, einige Elemente für einen Begriff von Religion zu benennen. Damit kann und soll nicht aus philosophischer Sicht das Wesen von Religion bestimmt werden, wohl aber sind Kriterien zu nennen, unter denen Religion sinnvoll zum Gegenstand philosophischer Auseinandersetzung gemacht werden kann. Zudem soll darüber auch jenes Proprium des Religiösen im Rahmen menschlicher Lebensvollzüge herausgestellt werden. Unter allen „Definitionen“ von Religion scheint mir für dieses Unternehmen am hilfreichsten der Versuch von Gustav Mensching zu sein, weil er selbst seine Definition eher als Summe formaler Strukturelemente auffasst.29 27 Vgl. auch dazu mehr vor allem im Teil II meiner Arbeit. Für die Möglichkeit der auch didaktischen Umsetzung dieses Gedankens liefert das Kapitel 4-2 einen Beleg. 28 Mit dieser Behauptung ist noch nicht differenziert zwischen verschiedenen Ansätzen von Religionsphilosophie. In meinem Schema oben habe ich dafür drei Wege genannt, die sich selbstverständlich gegenseitig ergänzen können: (1) Die eher ideengeschichtliche Richtung erfasst nicht nur religiöse Phänomene, Verhaltensweisen, Riten, Glaubensvorstellungen, Schulen, sondern deutet sie auch als Formen menschlichen Verhältnisses zu sich selbst, zu Welt, zu Sinn. - (2) Die weltanschaulich-hermeneutisch sich verstehende Religionsphilosophie reflektiert auf die Strukturen von Religiosität, sieht und deutet sie jedoch als eine ganz eigentümliche, von anderen unterschiedene Dimension von Menschsein. - (3) Die analytische Religionsphilosophie schließlich konzentriert sich auf die Analyse und das Begreifen der sprachlichen Muster von Religiosität und fragt, was diese in welcher Form zum Ausdruck bringen wollen. Der Verweis auf Schaeffler (199 hat deutlich gemacht, dass der Versuch etwa von Jörg Splett, die analytische Religionsphilosophie mit der Behauptung zu unterminieren, sie verzichte auf die zentrale Frage nach „der Wahrheit ihres Bekenntnisses“ [Splett 1994, S.218] nicht zu halten ist. Zu einer genaueren Übersicht und Erläuterung tragfähiger Ansätze von Religionsphilosophie heute vgl. Halder (1988). 29 Wie durch die folgenden Ausführungen ersichtlich, handelt es sich bei den meisten anderen Definitionsversuchen entweder nur um Teile von Menschings differenzierten Vorschlag oder vor allem um diese Definition nicht weiter als strukturierend erläuternde Versuche. So leiden vor allem eher analytische Versuche eines Religionsbegriffs an der (bewussten) Aussparung des Begegnung mit Heiligem bzw. auf die Reduktion dieser Begegnung auf den bloßen Akt der Begegnung ohne Reflexion auf ihren Gegenstand. Unter dieser Einschränkung können systemtheoretische Definitionen dann durchaus ihren Nutzen haben, so vor allem Luhmanns Beschreibung der Funktion von Religion (wohlgemerkt nicht mehr!), „die unbestimmbare … Welt 116 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung Mensching bestimmt Religion „als erlebnishafte Begegnung mit heiliger Wirklichkeit und als antwortendes Handeln des vom Heiligen existentiell bestimmten Menschen“.30 Die genaueren Auslotung der hier genannten Strukturelemente ermöglicht eben jene gesuchte Kriteriologie zur Unterscheidung bestimmter Lebensvollzüge als religiös, aber auch zur Abgrenzung eigentlich nicht religiös zu nennender Lebensvollzüge. Damit sollen (im Hinblick auf das hier zur Debatte stehende Didaktik-Thema) zugleich Strukturelemente genannt werden, auf deren Artikulation eine Didaktik der Religion nicht verzichten darf.31 (4.1) Das erste Element bei Mensching ist „Begegnung“. Damit wird, was auch immer Religion ist, von vornherein in den Horizont menschlicher Erfahrung gerückt. Religion geschieht, so Welte32, „im Horizont des Menschen“. Dabei geht es aber, [an anderer Stelle, S.38, heißt es „Transzendenz“ oder „das Unfaßliche“] in eine bestimmbare zu transformieren“ [Niklas Luhmann: Funktion der Religion, Frankfurt: Suhrkamp 1977, S.26]. Hermann Schrödters Bestimmung von Religion als „Gesamtheit der Erscheinungen (Objektivationen), in denen Menschen das Bewusstsein der radikalen Endlichkeit ihrer Existenz und deren reale Überwindung (Religiosität) ausdrücklich machen“ [Schrödter 1979, S.298] spart in dem Ausdruck „Erscheinungen“ ebenfalls die Begegnung mit Heilige eher aus, assoziiert mit dem erläuternden Stichwort „Objektivationen“ eher die unten näher erläuterte Ebene von sichtbaren religiösen Formen, Riten usw.; dann aber würde Religion auf ein rein menschliches Verhältnis reduziert, ohne die Bedingung der Möglichkeit für „Bewusstsein der Endlichkeit“ und vor allem „deren reale Überwindung“ (die in der Definition offenkundig als Akt des Menschen, nicht als (möglicherweise per Geschenk an den Menschen möglichen) Gegenstand menschlichen Bewusstseins gefasst wird), zu nennen. Der eher theologische Vorbegriff von Religion, mit dem Bernhard Welte arbeitet, unterläuft hingegen die Differenzierung bei Mensching: „Unter Religion wird seit alters her die Beziehung des Menschen zu Gott oder auch zum Bereich des Göttlichen verstanden.“ (Welte 1997, S.63). Dass viele nichtphilosophische Versuche eines Begriffs von Religion, das hier vorgestellte Niveau unterbieten oder allenfalls Teilaspekte von Religion zur Sprache bringen, mag der von Ulrike Brunotte (wohl missverständlich formulierte) Versuch dokumentieren, mit Verweis auf Klaus Heinrich „Religionen…als Formen der Selbstvergewisserung…zu begreifen“ [Brunotte 1999]. Gewiss sind Religionen auch Formen menschlicher Selbstvergewisserung, werden aber durch eine solche pauschalisierende Beschreibung in ihrer Eigenart gerade nicht erfasst. 30 G. Mensching: Religion. Erscheinungs- und Ideenwelt; in: RGG 31961, Bd.5, Sp.961ff. Mensching versucht mit seiner Definition von Religion bewusst lediglich formale Strukturelemente zu benennen, die in der mannigfaltigen inhaltlichen Bestimmung dann die Erscheinungsweise bestimmter Religionen bilden. In der genaueren Erläuterung der von ihm genannten Grundelemente nennt Mensching dann freilich eher einzelne Phänomene, statt die Elemente als formale Strukturen weiter zu erläutern und so zu einer unterscheidungsfähigen Kriteriologie auszuformulieren. 31 In Orientierung an diesen Strukturelementen sind die meisten der in Teil IV der Arbeit dokumentierten Unterrichtsmodelle konzipiert, aber auch mein Vorschlag zu einem organisatorischen Konzept eines Unterrichts in Religion im Kapitel 5-4. 32 Welte (1997), S.56. 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung 117 Welte ergänzend, nicht nur um Fragen des Ursprungs der Religion, sondern auch um je mögliche religiöse Gegenstände. Selbst die Rede von Transzendentem und göttlich Numinosem ist stets menschliche Rede, muss also immer auch in diesem Horizont verstanden werden, was nicht heißt, das mit dieser Rede Bezeichnete sei nichts anderes als bloß von Menschen Produziertes.33 Erkenntnistheoretisch gesehen ist Gegenstand der Religion nie das Religiöse an sich, etwa Gott oder Heiliges an sich, sondern nur das, was religiöse Gehalte für uns sind. Schon von daher muss stets auch eine reflexive Rede über Religiöses möglich sein, ja das religiöse Erlebnis drängt sogar danach, zur Sprache gebracht zu werden, selbst wenn seine Botschaft sprachlich nie vollständig zu fassen ist. Auch religiöse Rede, mithin auch in sog. heiligen Schriften fixierte religiöse Rede steht unter dieser Voraussetzung.34 Abgrenzend fallen damit selbsternannte rein und ausschließlich esoterische Modi religiöser Begegnung zumindest tendenziell aus dem Horizont des Religiösen heraus.35 (4.2) Freilich begegnet dem Menschen in dieser religiösen Begegnung, und damit erst sind wir bei dem zentralen Kriterium, der differentia specifica des Religiösen, immer „heilige Wirklichkeit“, man sollte ergänzen auch Wirklichkeit als heilige. Das Prädikat „heilig“ meint dabei ein Doppeltes: Einerseits geht es in Religion um Begegnung mit einer dem Menschen zugleich wesentlich entzogenen Wirklichkeit, vielleicht sollte man auf einer einfacheren Stufe zunächst von einer unseren Erfahrungshorizont transzendierenden Wirklichkeit sprechen, dann erst von einer ihm gegenüber auch transzendenten. Natürlich ist diese Ausdrucksweise dem Einwand ausgesetzt, wie denn etwas zur Wirklichkeit werden 33 Diese Redeweise setzt freilich einen Sinn von Sprache voraus, der Sprachliches nicht auf eine durch Reflexion immer einholbare Selbstäußerung des Menschen reduziert, sondern zumindest die durch die Sprecher selbst nie einholbare „sprachliche Weltkonstitution“ anerkennt [so Hans-Georg Gadamer: Die Universalität des hermeneutischen Problems, in: GW Bd.2, Tübingen ²1990, S.228]. Martin Heidegger ist dabei noch weiter gegangen und hat Sprache als je schon Vorgefundenes angesehen. – In diesem Zusammenhang ist von Interesse auch der Blick auf den religionskritischen Vorwurf nach dem Feuerbachschen Muster, Gott sei nichts anderes als die Projektion menschlicher Wünsche. Über das Wesen der Religion ist damit, entgegen Feuerbachs Meinung, noch nicht viel ausgesagt, solange die Frage nicht gestellt wird, woher und warum der Mensch dergestalt projeziere. Strukturell betreffen solche Äußerungen zu Religion daher lediglich bestimmte Umgangsweisen mit dem Religiösen, nicht das Religiöse in seinem (möglicherweise durch Sprache nicht fassbaren) extensionalen Gehalt. (Zur Kategorie des Extensionalen vgl. genauer meine Ausführungen in Kapitel 1-2.) 34 Zur Entfaltung dieses Gedankens vgl. unten den Teil II der Arbeit und auch das Kapitel 4-2. 35 Damit wird nicht unterstellt, dass esoterische Erlebnisse keine religiöse Struktur hätten; aber zur Erschließung dessen, was Religion ist, vermögen sie nichts beizutragen. Vgl. in diesem Zusammenhang bereits die innerreligiöse Kritik an esoterischen Erlebnissen, etwa in der paulinischen Kritik am geisterfüllten Zungenreden in 1Kor 14. 118 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung soll, was darin sich als benennbare Wirklichkeit zugleich entzieht, wo doch nur (so das erste Element) das je im menschlichen Horizont Benennbare begegnen kann. Möglicherweise ist aber diese Paradoxie genau die Eigenart religiöser Wirklichkeitserfahrung. Gegen die Blochsche Forderung nach einem Transzendieren ohne Transzendenz36 geht es um die in Lebenshorizonte transzendierenden Erfahrungen aufbrechende Frage, woher diese Kraft des Transzendierens kommt und wohin hier zu überschreiten wäre. Diese Frage ist von vornherein nur ungenügend beantwortet, wenn das Woher und das Wohin des Transzendierens mit der Erfahrung des Transzendierens, gleichgesetzt wird. Die Rede von Transzendenz als Bezeichnung eben dieses Woher und Wohin markiert aber lediglich das Problem, das sich hier auftut, bezeichnet noch nicht eine faktisch auszumachende Bedeutung. Einen entsprechenden Schluss legt auch die logische Überlegung von der Möglichkeit einer privativ negierenden Redeweise nahe; demnach macht es durchaus einen Sinn, den Verweis auf einen sprachlich nicht mehr benennbaren je größeren Horizont per privativer Negation auszudrücken. Dass eben hierin ein spezifisches Kennzeichen religiöser Sprache liegt, haben wiederholt einige Autoren zum Ausdruck gebracht.37 In religiöser Begegnung, und eben dies unterscheidet sie von anderen Erfahrungsebenen, begegnet also etwas die eigene Erfahrung wesentlich Übersteigendes, theologisch würde man hier von „Anspruch“ oder „Anruf“ reden. Die Identifikation säkularer Sinnsuchbewegungen oder gar bereits benennbarer Sinnerfüllungen mit Religion scheidet durch dieses zentrale Kriterium für Religion von vornherein aus. Selbst die Rede von Religion als einer Weltanschauung oder als eine Form von Sinnsuche ist daher als unangemessen oder zumindest einseitig zurückzuweisen (was nicht heißt, dass Sinnsuche und auch Weltanschauung nicht auch wesentliche Elemente von Religion sind).38 36 Diese These formuliert Ernst Bloch als „entscheidend“ für seine Sicht auf Religion, wie er sie in „Atheismus im Christentum“ (1968) entfaltet hat. Seine Lesart von „Exodus“, ein Begriff, der auch im Untertitel des Buchs auftaucht, verdeutlicht das hier gemeinte besser: Die Bewegung des Herausgehens aus einem Zustand in einen befreiteren, das Überschreiten von Lebenshorizonten, wie es zweifelsohne in der Exoduserfahrung deutlich geworden ist, meint Bloch von der Religion beerben zu müssen, ohne die darin mitgedachte Rückbindung an eine befreiende Instanz. Es kommt ihm auf den Akt des Überschreitens an. Die Erfahrung des Überschreitens aber reduziert er auf einen Akt des Überschreitens. Damit wir der Gegenstand der Erfahrung und auch die Frage nach einer Bedingung der Möglichkeit solcher Erfahrung ausgeklammert. Transzendenz hat wie auch Religion in Blochs Überschreitungs-Philosophie keinen Platz. 37 Im Anschluss an Hermann Schrödters religionsphilosophische Überlegungen hat vor allem Eckard Nordhofen diesen Gedanken eindrucksvoll wie verständlich herausgearbeitet: Eckhard Nordhofen: Glaube, in: Ethik. Ein Grundkurs, hg.v. H.Hastedt/E.Martens, Reinbek 1994, S.278f., zuletzt auch: Die Zukunft des Monotheismus, in: Merkur 53.(1999), S.828ff. 38 Auch an diesem Punkt irrt m.E. Gisela Raupach-Strey, wenn sie die Feststellung, Philosophie sei keine Weltanschauug, als Argument verwendet für eine Trennung von Philosophie- und Religionsunterricht, welchem damit unterstellt wird, er sei Weltanschauungsunterricht: R.S.: Das Verhältnis des Ethik/Philosophie-Unterrichts zu den religiösen und nicht-religiösen Weltanschau- 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung 119 Das zweite im Prädikat „heilig“ indizierte Element bringt diese Konfrontation mit wesentlich anderer Wirklichkeit in religiöser Begegnung nun in einen Zusammenhang mit dem ihr Begegnenden. Für ihn nämlich begegnet darin Heil. Auch dieses Wort ist erklärungsbedürftig. Es verweist zunächst auf die Idee einer alle anderen Wahrheiten umfassenden absoluten Wahrheit. In diesem Sinne ist Hegels nur vorderhand altertümliche Beschreibung von Religion ganz ernst zu nehmen, Religion nämlich als „die Region, in der alle Rätsel der Welt, alle Widersprüche des Gedankens, alle Schmerzen des Gefühls gelöst sind - eine Region der ewigen Wahrheit und Ruhe, der absoluten Wahrheit selbst.“39 Die Wahrheit der Religion übersteigt in der Tat die Wahrheit im Sinne von Übereinstimmung möglicher Wahrnehmungen, also von Objektivität, auch die Wahrheit im Sinne unmittelbarer Einstimmigkeit, als Schönheit also, ebenso die logische Wahrheit der Richtigkeit (orthotes), aber auch die Wahrheit der Übereinstimmung mit dem eigenen Handeln, also die Wahrheit als das Gute. Absolut und alles übersteigend ist diese Wahrheit jedoch eher eine Idee, nicht auf der gleichen Ebene wie die anderen, genauer zu bezeichnenden Wahrheiten. Es bleibt dafür nur eine Idee von Wahrheit, die nämlich hinter allem als Ganzes sich verbirgt, die aletheia der Griechen.40 Zugleich, und das ist die weitere Ebene, wird mit dem Begriff Heil eine soteriologische Dimension angezeigt. Theologisch gesprochen zeigt sich in der religiösen Erfahrung von Heil die Dimension der Erlösung gegenüber der als endlich erfahrenen menschlichen Wirklichkeit. Diese zweite Ebene von Transzendenz macht die zuweilen geführte Rede von Religionen ohne Transzendenzbezug zu einem hölzernen Eisen.41 Zu einer Verdeutlichung oder Erweiterung des Religionsbegriffs jedenfalls trägt sie nichts bei.42 ungen, in: Philosophie und Religion. Zukunft einer Fächergruppe. Rost.Philos.Manuskr.H.5, hg.v.H.Hastedt, Rostock 1998, S.59. Zur didaktischen Konsequenz einer solchen Fächertrennung vgl. unten Kap. 1-4. 39 Hegel (1983), S.3. 40 Sie aufgelöst zu haben gegen die bloße Adäquationswahrheit, die letztlich nicht mehr als Richtigkeit oder Übereinstimmung ist, hat bekanntlich Heidegger der abendländischen Metaphysiktradition vorgeworfen. Wenn er, Heidegger, demgegenüber auf eine Wahrheit im Sinne von aletheia rekurrieren will, gewinnt dieser Gedanke zumindest kryptotheologische Züge. 41 Wenn diese Rede auf östliche Religionen, insbesondere den Buddhismus, vor allem in Form des Zen, oder auch auf den Konfuzianismus angewandt wird, wird die Rede von Transzendenz wohl eher mit der aus westlicher Sicht konnotierten Form personaler Transzendenz unzulässigerweise identifiziert. Dem Buddhismus insofern einen grundsätzlichen Transzendenzbezug, und sei es nur im Sinne einer endliche Erfahrungen kategorial übersteigender „Negativ“-Erfahrungen, abzustreiten, halte ich dagegen für absurd. Andererseits wäre etwa ein Konfuzianismus, der tatsächlich lediglich als ethisch-politisches Ordnungssystem sich verstünde oder verstanden würde, und die Orientierung an sog. himmlischen Mächten außer acht lassen würde, keine Religion mehr, sondern eben nur noch Weltanschauung. 42 Die Rede von „Ersatzreligionen“ oder „quasireligiösen“ Phänomenen halte ich daher entgegen verbreiteter soziologischer Einwände für durchaus klärend, da sie mit Grund zur Bezeichnung eben solcher Phänomene dienen, die zwar bestimmte Parallelen mit religiösem Erleben aufweisen, 120 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung Bei der Erläuterung des anderen in diesem Zusammenhang genannten Begriffs, also dem der Wirklichkeit, stellen sich die gleichen Probleme: Einerseits wird mit dem Ausdruck „heilige Wirklichkeit“ behauptet, dass es tatsächlich um eine andere Wirklichkeit gehe als die täglich erfahrbare, andererseits meint dieser Ausdruck ebenso, dass in der Erfahrung heiliger Wirklichkeit unsere alltägliche Wirklichkeit anders, nämlich im Horizont von Heil erfahren wird. Beide Bedeutungen sind nicht zu verwechseln, aber auch nicht voneinander zu trennen. Zu trennen sind sie nicht, weil es unter Berücksichtigung des zuerst genannten Elements bei Religion nicht um eine Anderwelt, eine jenseits des Erfahrbaren liegende Welt gehen kann, umgekehrt aber die täglich erfahrene Wirklichkeit im Lichte des Religiösen auch wirklich als andere erfahrbar wird. Zu verwechseln sind beide Wirklichkeit entsprechend auch nicht, weil zumindest für die täglich erfahrbare die veränderte Wirklichkeit eine absolute Grenze darstellt, an der gebrochen sie als endliche erscheint. Die Lehre von den letzten Dingen, die Eschatologie, gehört insofern zu den wesentlichen Elementen von Religion.43 (4.3) Als drittes Element bringt Mensching den Ausdruck „erlebnishaft“. Mensching selbst betont, dass damit keineswegs nur die Ebene des Gefühls gemeint ist, sondern: „Er-lebnis ist eigentlich ein Ergreifen eines Objektes mit dem ganzen Leben, so daß das Ergriffene das eigene Leben erfüllt und existentiell bestimmt.“44 In anderen Worten: Das Leben wird in einer vorher nicht erfahrenen Tiefendimension erfahren. Alle in der Literatur beschriebenen religiösen Erlebnisse äußern sich in eben dieser Weise. Religiosität ist insofern immer mehr als eine Bestätigung des ohnehin gelebten und erfahrenen Daseins, nämlich zum einen die Erfahrung dieses Daseins in seiner Endlichkeit und Kontingentialität45, dann aber auch in seiner auf denen aber Transzendenzbezug fehlt, und die daher auch nicht als Gestalten von Religiosität anzusehen sind. - Auch die Rede von Selbsterlösungsreligionen ist irreführend: Gewiss gibt es Religionen, die den subjektiven Vollzug des Religiösen stärker betonen als andere. Daraus aber den Schluss zu ziehen, Erlösung käme lediglich durch Selbstvollzug zustande, ist nicht zwingend und zumindest erläuterungsbedürftig hinsichtlich des Sinns von „selbst“. 43 Das auszuführen, würde den Rahmen der Arbeit sprengen. Jedenfalls verwiesen sei daher auf das Kapitel 4-5, in dem hinsichtlich der Frage nach Gerechtigkeit am deutlichsten das Problem der Endlichkeit von Geschichte und einer alle Geschichte heilenden Gerechtigkeit weiter verhandelt wird. 44 Mensching (1961), Sp.963. 45 Die Versuche, Religion als Bewältigung von Kontingenz zu begreifen, etwa bei Hermann Lübbe und in anderer Weise auch bei Niklas Luhmann, teilweise auch bei Hermann Schrödter, sind von daher durchaus angemessen, aber nicht hinreichend. Zur Bestimmung eines Aktes als religiös gehört m.E. wesentlich auch die Benennung des Horizonts, aus dem heraus Kontingenz und auch Endlichkeit, bzw. ihre Überwindung als solche erfahren werden. 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung 121 Transzendenz hin offenen Anlage.46 In diesem Zusammenhang sprechen religionsphilosophisch beeinflusste Theologen vom Menschen „als Geheimnis“.47 (4.4) Das vierte Element ergibt sich aus dem dritten. Mensching nennt es „existentielles Bestimmtsein“. Damit ist mehr gemeint als die erlebnishafte Begegnung. Das existentielle Bestimmtsein ist eine aus der Begegnung erwachsende Folge, ja eine das Leben bestimmende Antwort auf diese Begegnung. Gewiss gibt es religiöse Erfahrungen oder Begegnungen, die nicht zu einer existentiellen Bestimmung führen. Dann aber, so ließe sich terminologisch differenzieren, hat ein Mensch zwar eine religiöse Erfahrung gemacht, hat vielleicht auch sich als religiös, also Religiosität erfahren, hat aber noch keine Religion. Mit Heidegger bezeichnet Existenz im Unterschied zum schlichten Dasein, das sich diesem Dasein Stellen, das aus der Erfahrung des Seins gewonnene Heraustreten ins Dasein. Die religiöse Begegnung muss also, das meint „existentielles Bestimmtsein“, zur Auseinandersetzung mit dem Dasein führen. Für den sich als religiös empfindenden bzw. wissenden Menschen ist dies seine persönliche Religiosität bzw. sein Glaube.48 (4.5) Schließlich ist als fünftes Element „antwortendes Handeln“ genannt. Es ergibt sich fast notwendig aus dem vierten und meint gleichwohl mehr: Sich dem Dasein zu stellen, führt zur Auseinandersetzung mit dem Dasein; Handeln versucht demgegenüber, das Dasein auch umzugestalten. Einerseits gehört zu Religion solche das Leben gestaltende Praxis, andererseits gewinnt diese Praxis ihre Kraft aus der 46 Transzendenz ist darum mehr als die Bewältigung von Endlichkeit. Immerhin kann man mit gutem Sinn von Wegen nichtreligiöser Bewältigung von Endlichkeit sprechen. Auch hierin findet sich ein Argument dafür, Transzendenzbezug als notwendige Dimension von Religiosität anzusehen. 47 Dieser Terminus durchzieht etwa die Theologie von Karl Rahner, deutlich auch in seiner „Grundlegung einer Religionsphilosophie“: Hörer des Wortes, München 1941. Eine ausführliche Deutung der Rahnerschen Anthropologie unternimmt unter diesem Titel Klaus P.Fischer: Der Mensch als Geheimnis. Freiburg 1974. - Rahner ist ebenso bei Heidegger in die Schule gegangen wie der buddhistische Religionsphilosoph Keiji Nishitani, der in seinem grundlegenden Werk „Was ist Religion?“ (Frankfurt ²1986, jap.1980) als religiöse Urerfahrung beschreibt, „dass das Ich die Seinsweise eines in sich selbst verschlossenen Selbst zeigt“ (S.57) und im weiteren, in auffallender Parallele etwa zu den Denkfiguren spätmittelalterlicher Mystiker, sprich Religionsphilosophen, wie Meister Eckhart die Erleuchtung im Buddhismus als „religiöse Existenz“ bezeichnet (S.66). 48 In diesem Zusammenhang wäre eine tiefere Auseinandersetzung mit der Bedeutung von „Glaube“ und „Religiosität“ notwendig. Die unten im Abschnitt 5 dieses Kapitels vorgestellten Koordinaten von Religion liefern dazu nur grundlegend strukturierende Hinweise. Wichtig wäre darüber hinaus insbesondere die Erläuterung davon, was Schleiermacher im „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ herauszustellen versuchte, oder auch von Kierkegaards Unterscheidung von „Religieusitet A“ und „B“ sowie die darauf aufbauende Kritik der dialektischen Theologie gegen die Subsumierung des christlichen Glaubens unter den Begriff von Religion. Religionsdidaktisch von hohem Interesse ist die Frage, inwiefern sich diese Dimension von Religiosität überhaupt mit Mitteln der Vernunft erschließen lässt. Vgl. dazu auch oben die Anm. 23 zu Pascal sowie das Kapitel 2-1. 122 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung durch das religiöse Erlebnis sich ergebenden existentiellen Bestimmtheit. Zum einen: Religion, die das Leben flieht, untergräbt sich selbst. Das erste Element, die Begegnung, erfährt durch den handelnden Lebensvollzug erst seine volle Bestätigung: Religion ist nichts gegenüber dem Leben völlig anderes, abgehobenes, sondern wesentlich in das Leben eingreifend und es mitgestaltend. Andererseits ist dieses Handeln kein Selbstläufer, sondern geschieht im Horizont der religiösen Begegnung; von da her gewinnt es seine Begründung, daraufhin aber ist es letztlich auch ausgerichtet, so dass religiöses Handeln stets auch als Gottesdienst zu verstehen ist. Alle religiöse Ethik - ein für den kommenden Didaktikteil wichtiger Hinweis - ist nur von daher verständlich.49 5 Ebenen des Religiösen Von diesem durch Strukturmerkmale gekennzeichneten Religionsbegriff ausgehend, scheint es mir sinnvoll, auch Ebenen zu unterscheiden, in denen Religion begegnet. Sie einander zuzuordnen und ihre Bezüge strukturell zu benennen, ist ebenfalls eine Aufgabe der Religionsphilosophie. Das sei nachfolgend zumindest kurz angedeutet. Unter Aufnahme der oben abgebildeten Schematisierung von religiösen Vollzügen begegnet Religion auf vier Ebenen: (1) als Möglichkeit religiösen Erlebens, die dem Menschen Religiosität als eine originäre Dimension seines Daseins eröffnet, (2) als Gegenstand der Religiosität, den der religiöse Mensch als als Heilige (oder auch als Transzendenz) erfährt, als Ursprung und Ziel allen Lebensvollzugs, 49 Der Begriff des Handelns muss hier eher weit aufgefasst werden. Im Bereich des Religiösen kann er durchaus auch Formen der Meditation und des Gebets, ja sogar von asketischer oder mönchischer Weltabwendung beinhalten, sofern damit gerade ein bestimmter Weltbezug herausgestellt wird. Mit dieser Erläuterung religiöser Ethik soll andererseits keineswegs der Meinung das Wort geredet werden, bei religiöser Ethik handle es sich um eine Sonderethik. Verbreitet ist bis in richterliche Entscheidungen hinein die irreführende Ansicht, aus Religiosität heraus verantworteten Lebensgestaltungen entzögen sich der Beurteilung durch die reine Vernunft. Fatal wird diese Ansicht, wenn sie als Argument herhalten muss für eine strikte Trennung von Religions- und Ethikunterricht, als ob dieser völlig an die Begründung im Glauben gebunden, jener aber im Gegensatz dazu vor der Vernunft zu rechtfertigen sei. Diese fehlerhafte Ansicht scheint mir vorzuliegen in dem vielbeachteten Beitrag von Schleichert / Seebaß / Stemmer 1997; ebenso bei Veraart 1998. Hier wird die Differenz zwischen einer Moral grundlegenden Begründung in bzw. aus etwas und einer Moral einsichtig machenden Begründung vor etwas eingeschliffen zu werden: Diese Differenz bedenkend ist es durchaus möglich, ja nach geltender zumindest jüdischer und christlicher Theologie auch notwendig, moralische Einsichten und Entscheidungen einerseits im Glauben zu gründen, zugleich aber auch je vor der kritischen Vernunft zu prüfen und zu rechtfertigen. 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung 123 (3) als lebenserschließende und -bestimmende Antwort des Menschen auf die religiöse Erfahrung, sein Glaube oder seine (subjektive) Religion, (4) als objektiv sich zeigende, institutionalisierte Gestalt von Glaubensbezügen, als sichtbare (objektive) Religion, zu der sich eine Mehrzahl von Menschen bekennen kann. Die Erschließung von Religion auf strukturellem Wege kann versuchen, die Bezüge zwischen diesen Ebenen zu erläutern, die so gleichsam als Koordinaten des Religiösen erscheinen. Damit würden zugleich Bausteine einer Didaktik der Religion aus philosophischer Sicht genannt: Aufgabe etwa wäre es, einzelne Phänomene in diese Koordinaten einzubauen und zu prüfen, inwiefern beispielsweise50 Götter oder Gottesnamen Benennungen des Heiligen durch die (objektive) Religion sind, heilige Texte durch (objektive) Religion fixierte Verdichtungen von Glauben anzusehen sind, als sprachliche in Frömmigkeit oder Frömmigkeitsformen (wie Gebet) sich die zur Erfahrung gebrachte Religiosität Ausdruck verschafft, die fides qua creditur, also der glaubende Glaube, die subjektive Realisierung einer religiösen Erfahrung darstellt, dieser subjektive Glaube eher als tätige Antwort des Glaubenden auf die religiöse Erfahrung zu verstehen ist oder als durch die religiöse Erfahrung unmittelbar mitgegebenes „Geschenk“, hingegen die fides quae creditur, also der geglaubte Glaube, die Akzeptation eines bestimmtem Menschenbildes, bestimmter moralischer Normen, bestimmter Jenseitsvorstellungen usw. ist, moralische Normen aus religiösen Erfahrungen abgeleitet werden, an der Erfüllung moralischer Gebote Religiosität gemessen werden kann, Riten die Deutung von Wirklichkeit in der Dimension von Religiosität sind, Konfessionen im Unterschied zum Glauben auch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten (objektiven) Religion(sgemeinschaft) anzeigen, alle Menschen zwar (im Sinne der Ebene 1) religiös sind, aber keineswegs auch gläubig bzw. Religion haben (im Sinne der Ebene 3), 50 Weitere Differenzierungen, insbesondere hinsichtlich der Frage, in welcher Hinsicht Religion Thema einer schulischen religiösen Bildung sein kann und sollte, nehme ich vor im Kapitel 5-4. 124 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung viele Menschen zwar (im Sinne von Ebene 3) Religion haben, aber deshalb noch nicht einer Religion (im Sinne von Ebene 4) angehören müssen, (objektive) Religionen den Nährboden zur Entwicklung von Religiosität hin zu Glauben bilden, oder vielmehr Glauben rein aus (subjektiven) religiösen Erfahrungen erwächst. Zur einer noch differenzierteren Auseinandersetzung mag das auf der Folgeseite kopierte Schema hilfreich sein. Die Kennzeichnungen verstehen sich dabei lediglich als (freilich begründete) Vorschläge, nicht als Definitionen. Die farbliche Gestaltung macht die problemorientierte Erschließung von Religion deutlich; dabei meinen in Bezug auf Religion die schwarzen Kästen die grundlegenden Ebenen (s.o. S. 122f.), das blau Umkreiste sichtbare gelebte Formen, das rot Umkreiste psychische und affektive Ebenen und Formen, das braun Umkreiste sprachliche Ausdrucks- und Darstellungs-Formen, die blau geschlängelten Pfeile Versuche der Definition bzw. begrifflichen Bestimmung, die grünen Pfeile Strukturmerkmale. Zu weiteren Auseinandersetzungen führt das Schema, wenn man versucht, die Strukturmerkmale und Definitionen als problemerschließende und kritische Fragen zu formulieren, auch unter Aufbietung möglicher Alternativen. 1-3 Religion in philosophischer Auseinandersetzung 125 Kapitel 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen Für das abschließende Kapitel der Grundlegung begnüge ich mich mit einer religionsdidaktischen These, die durch wiederum eher thetisch vorgetragene Differenzierungen ihrer Elemente erläutert wird. Durch z.T. ausführliche Anmerkungen und Fußnoten werde ich allerdings auch Hinweise zu möglichen Wegen einer Konkretion geben sowie dazu, in welchen der nachfolgenden Kapitel einzelne dieser Elemente exemplarisch entfaltet werden, bis hin zu Unterrichtsmodellen.1 Für eine systematisch ausgeführte, gar umfassende Didaktik müssten gewiss zusätzliche Überlegungen angestellt werden2; insofern verstehen sich die nachfolgenden Erläute1 In dieser Hinsicht ist das vorliegende Kapitel im Vergleich zur Vorlage (Abschnitt 3 meiner Abhandlung Petermann 2000c) vollständig neu zusammengestellt worden. (Vgl. die redaktionelle Anmerkung 1 zum einführenden Abschnitt des Teil I dieser Arbeit) 2 Bewusst spare ich in diesem Zusammenhang weitergehende allgemeine philosophiedidaktische Erläuterungen aus, vor allem solche zur methodischen Erschließung einzelner Themen-, Frageund Problemstellungen. Möglichkeiten einer differenzierten philosophischen Gesprächsführung werden immerhin angesprochen im Kapitel 3, anhand konkreter Unterrichtsprotokolle sogar diskutiert. Andere Methoden, wie Wege einer hermeneutischen Textarbeit, aber auch sog. präsentative Formen des Philosophierens finden exemplarisch im Teil IV in den 5 vorgestellten Unterrichtsmodellen Verwendung, ohne dass sie dabei im Detail erläutert werden können. Für weitere Konkretionen, etwa das Arbeiten mit Dilemma-Geschichten, mit rekonstruktiven wie kreativen Schreibübungen, Phantasie-Reisen, präsentativen und erfahrungsorientiert arbeitenden Themenerschließungen verweise ich auf drei philosophiedidaktische Aufsätze: Petermann (1999) zu einer rekonstruktiven, dilemmatisch-diskutierenden und kreativen Erschließung eines Satzes von Montaigne; Petermann (2000), ausgehend von Hume, zu einer präsentativen, biografischerfahrungsdimensionierten und das eigene Denken anregenden Auseinandersetzung mit dem Sinn von Philosophieren; Petermann (2001) zur spielerischen Erschließung unterschiedlicher Formen von Philosophie durch eine Kindergeschichte. Zum Hintergrund didaktischer Überlegungen für den Philosophie- und Ethik-Unterricht ist zu sagen: Allgemeine Didaktiken des Philosophie- und Ethik-Unterrichts liegen im Unterschied zum Religionsunterricht, wie bereits oben in der Einführung zum Teil I angedeutet, für den deutschsprachigen Raum bislang kaum vor; die von Schmidt (1983) ist gerade in ihren methodischen Teilen, vor allem hinsichtlich ihres konzeptionellen Anspruchs veraltet; Rehfus (1980) ist im Grund nur für die gymnasiale Oberstufe geeignet; Martens (1999) orientiert eher über unterschiedliche Ansätze des Philosophierens mit Kindern, liefert nur indirekt grundsätzliche Ansätze einer Didaktik; und sowohl Tichy (1998) wie auch jetzt Steenblock (2001) liefern eher Vorüberlegungen zu einer Didaktik als eine detailliert ausgeführte Didaktik. - Immerhin gibt es neuerdings in den Nummern 2/2000 sowie 2/2001 der ZDPE und dem bislang in zwei Bänden erschienenen „Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik“, allesamt von Johannes Rohbeck (Dresden) herausgegeben, einige über sporadische Beiträge hinausgehende Sammlungen zu diesem Thema. 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen 127 rungen lediglich als kritischer Rahmen für die hier aus philosophischer Sicht zur Debatte stehende Didaktik zum Thema „Religion“. Doch ohne diese Rahmenbedingungen kann meines Erachtens ein tragfähiger Unterricht zu Themen der Religion in heutigen Lebenskontexten nicht gelingen. Meine These zu einer Didaktik des Religiösen lautet: Soll Religion bildungskonzeptionell konsistent3, der Sache der Religion gegenüber angemessen4, heutiger Erfahrungswelt gewachsen5 und an den Anforderungen schulischer Bildung orientiert6 zum allgemeinen Bildungsgut werden, ist sie zumindest auf vier Ebenen zu thematisieren: (1) als religiöse Propädeutik im Sinne einer Sensibilisierung und Erfahrungskunde hinsichtlich dessen, was einen religiösen Menschen auszeichnet; (2) als religiöse Sprachlehre im Sinne einer Hermeneutik bzw. Kunst des Deutens und Dechiffrierens des eigentümlich Religiösen; (3) als Religionskunde im Sinne des Kennenlernens und Beurteilens tradierter religiöser Lebensanschauungen, Vollzüge, Symbole; (4) als religiöse Orientierung im Sinne der Befähigung zu je eigener religiöser Lebensentscheidung. Die folgenden Bemerkungen sind auch inhaltlich stark aus der Sicht philosophischer Fragestellung formuliert.7 Dass die Philosophie aber selbst die Ausbildung von Philosophie/Ethik-Lehrer/innen weder grundlegend, noch vor allem im Bereich „Religion“ alleine bewältigen kann und will, sollte klar sein; insbesondere theologische sowie religionswissenschaftliche Fragestellungen sind notwendige Ergänzungen 3 Vgl. Kapitel 1-2. 4 Vgl. Kapitel 1-3. 5 Vgl. Kapitel 1-1. 6 Vgl. dazu meine Bemerkungen zur Eigenart eines schulisch verankerten Religionsunterrichts im Vergleich zu anderen Formen der Glaubensvermittlung, insbesondere die Gemeindekatechese im Abschnitt 4.2 des Kapitels 2-1 sowie in den Erläuterungen zur Konfessionalität im Kapitel 5-4. 7 Das ist begründet zum einen durch den ursprünglichen Kontext dieses Kapitels im Rahmen einer philosophiedidaktischen Einlassung auf das Thema Religion, zum andern aber in meiner in der vorliegenden Arbeit auch systematisch vertretenen These eines philosophisch fundierten Unterrichts in Religion; vgl. dazu insbesondere die Ausführungen in Kapitel 2-1. Durch die philosophische Akzentuierung entsteht notwendig ein Schwergewicht in den Ausführungen zum Punkt (1), der religiösen Propädeutik, die sich teilweise jedoch auch als Erläuterungen zu den anderen Punkten lesen lassen. 128 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen für eine in Regie der Philosophie geleistete Ausbildung von Ethik/PhilosophieLehrer/innen.8 Für die Ausbildung von Religions-Lehrer/innen ist traditionell ohnehin die Theologie/Religionspädagogik zuständig. Gleichwohl beanspruchen die nachfolgenden philosophisch gefärbten Bemerkungen ihre Anerkennung auch in diesem Rahmen als notwendige Elemente einer bildungskonzeptionell tragfähigen Didaktik der Religion. Als Ansprechpartner einer solchen Didaktik ergeben sich damit: in erster Linie die Lehramts-Studierenden für das Fach Philosophie/Ethik, in deren Aufgabenbereich der Unterricht zu religiösen Themen innerhalb ihres Fachs gehört, um sie dafür grundlegend zu qualifizieren, Theologie-Studierende, für die der schulische Religions-Unterricht in der Regel zumindest zeitweise zu ihrem späteren Aufgabenbereich gehören wird, um ihnen philosophische Perspektiven auf diesen Bereich offen zu legen, alle Lehramtsstudierende, um ihnen in der je nach Fach unterschiedlichen Begegnung mit religiösen Fragestellungen Ebenen der Auseinandersetzung zu eröffnen. Wie nun vermag eine philosophisch begründete Didaktik konkrete Beiträge in Richtung der vier skizzierten Ebenen leisten? ad (1) religiöse Propädeutik (1.1) Am Beginn, aber auch als Prinzip jeder Auseinandersetzung mit Religion muss die Frage stehen: Was ist ein religiöser Mensch? Unter Voraussetzung der oben erläuterten Merkmale erschließt sich diese Frage auf der propädeutischen Ebene jedoch nicht abstrakt-begrifflich, sondern am ehesten mittels konkreter biografischer Zeugnisse. Unter dem Stichwort „biografisches Lernen“ wird dabei gezielt die erlebnishafte Identifikation mit dem Lerngegenstand, in diesem Falle also einer religiös handelnden Person, durch die Lernenden angestrebt, um das religiöse Erlebnis, von dem die Rede ist, auch wirklich lebendig werden zu lassen. Aus philosophischer Sicht wäre kritisch allenfalls zu betonen, dass es dabei nicht um beliebige Kontextualisierung oder zufällige Veranschaulichungen gehen kann, sondern um die Intensivierung der Möglichkeit, das Religiöse wirklich als Religiöses begegnen zu 8 Zur Problematik der Trägerschaft der Ausbildung von Ethik-Lehrkräften vgl. meine Bemerkungen im einleitenden Abschnitt zu Teil I sowie im Kapitel 1-2. 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen 129 lassen, wozu sich am ehesten die (daraufhin fragende) Begegnung mit einer religiösen Erfahrung eignet. Der Religionsunterricht bietet dazu eine Vielzahl von Möglichkeiten, (die freilich in Auswahl mehrheitlich auch im Ethikunterricht zur Sprache kommen können), an vorderster Stelle natürlich durch Einlassung auf biblische Personen. Die Lehr- bzw. Bildungspläne sehen solche Themen ausdrücklich vor, nicht immer freilich mit Hinweisen auch zu einem entsprechend (in meinen Augen notwendigen) erfahrungsorientierten Zugang. Eigentümlicherweise gelingt das auch trotz seines explizit erfahrungsorientierten Anspruchs Halbfas in seinen Religionsbüchern nur bedingt: So werden Personen wie Abraham, König David oder auch die alttestamentlichen Propheten wie auch einige weitere biblische Themen eher informativ oder historisch aufbereitet, die angemahnte identifikatorisch-erfahrungsdimensionierte 9 Ebene wird allenfalls indirekt angesprochen. Angemessener ist bei Halbfas umgesetzt das alle Bände der Sekundarstufe I durchlaufende Themenfeld „Menschen der Kirche“, in dem altersspezifisch begründet wie auch biografisch interessierend Figuren wie Martin von Tours, Franz von Assisi oder Oscar Romero als Vorbilder vorgestellt werden. Für entsprechende Unterrichtsmodelle liefere ich in der vorliegenden Arbeit mit dem Kapitel 4-3 in bezug auf die Jünger Jesu, hier Simon Petrus, selbst ein Beispiel: Über ein Bild wird zu Beginn, die Erfahrung in ganz unmittelbarem Verständnis ansprechend, in das Thema „Religiöse Existenz“ eingeführt, als Schlüssel und Sensibilisierung zur erfahrungsdimensionierten Erschließung der Perikope Lk 5, 1ff, womit erst dann auch bibelkritische Perspektiven durch einen synoptischen Vergleich eröffnet werden, welcher somit von vorneherein im Horizont der hier zur Debatte stehenden Sensibilisierung für das Religiöse getan wird, und nicht aus einem religiositätsirrelevantem historischen oder literarischen Interesse. Einen weiteren Versuch habe ich zumindest ansatzweise auch für den Ethik-Unterricht vor10 gelegt. Mit nur wenigen Sätzen wird im Ethikbuch „Ich bin gefragt 9/19“ zur Thematik „Religion – Suche nach Mehr“ exemplarisch die Gestalt des Abraham skizziert: Auch die Religionen kennen die Sehnsucht nach dem „Mehr“, die über den Alltag hinaus will. So erzählen Juden, Christen und Muslime von ihrem gemeinsamen Ursprung, ABRAHAM: Als Nomade zog er mit seiner Familie und seinen Viehherden durch die Steppen Mesopotamiens, bis er in seinem tiefsten Innern den Ruf vernahm: Geh fort! Auf dem Weg durch die Wüste war er ohne Vater (der war gestorben), ohne Heimat (die hatte er verlassen) und ohne Aussicht auf Zukunft (er war kinderlos). Ganz auf sich allein gestellt, setzte er sich mit der Frage auseinander: Wer bin ich; und wohin soll ich gehen mit meinem Leben? Doch gerade in dieser extremen Lage wusste sich Abraham ganz und gar getragen. Diese ursprüngliche Erfahrung, die fortan sein Leben prägte und durch die er sich auch ganz auf sich selbst verlassen konnte, nannte er „Gott“ und gab 11 sie seinen Nachkommen weiter. 9 Vgl. dazu meine Kritik im Abschnitt 5 des Kapitels 5-1. 10 Dieser Text findet sich auf Seite 143 des Bandes „Ich bin gefragt. Ethik [bzw.LER] 9/10. Berlin: Volk und Wissen 2000“ (Petermann 2000b). 11 Dieser von mir verfasste Text ist so entstanden aus der Idee, erfahrungsorientiert wie biografisch verortet in die Frage einzuführen, wer ein religiöser Mensch ist. Nach dem ursprünglichen Plan bildete dieser Text nur den ersten Teil weiterer Ausführungen zu Mose, Jesus und Mohammad als 130 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen Nicht uninteressant sind die meinerseits für den entsprechenden Lehrerband vorgeschlagenen 12 didaktisch-methodischen Anregungen : » Der Schulbuch-Text S. 142 liefert lediglich einen zusammenfassenden Einstiegsimpuls zur Auseinandersetzung mit der Frage, wonach eigentlich ein religiöser Mensch fragt. Über eine Verständigung des SB-Textes hinaus bietet allein die Erschließung des entsprechenden biblischen Quellentextes Gen 11,17-12,9 eine vertiefende Antwort. eigentlichen „Stiftern“ der drei abrahamitischen Religionen. Unter dem Titel „Braucht Religion Religionen?“ wollte ich zudem an diesen drei Personen elementare Eigenarten des Judentums, des Christentums und des Islams festmachen. Der Text zu Abraham sollte einleitend die diese drei Religionen verbindende Klammer herstellen. An der Diktion der zugegebenermaßen recht frei sowie aufgrund des Gehalts symbolisch-hintergründig (vgl. dazu unten Anm. 14), aber doch sachangemessen formulierten Texte ist, denke ich, deutlich die erfahrungsdimensionierte Zielsetzung herauszulesen: Mose: aus dem Wasser gezogen In die Wüste verschlagen hatte es auch Mose: als Kind aus dem tödlichen Wasser gerettet und als Mann zum ägyptischen Verwalter aufgestiegen hatte er, vom Gerechtigkeitssinn übermannt, einen Sklavenpeiniger erschlagen. Nun in der vor Hitze flirrenden Wüstenluft brennt sich ihm der Auftrag in die Seele, die Gepeinigten und Gedemütigten zu retten: In einem „brennenden“, aber nicht verbrennenden Dornbusch hört er den Anruf „Mose“ und versteht: Wie er selbst „aus Wasser gezogen“ wurde, soll auch er sein Volk vor Untergang retten. Unausprechbare und doch benennbare Hilfe erfährt er durch den, der immer für die da ist, die auf ihn vertrauen: JHWH. Dieser Gott wird ihm und seinem Volk Lebensorientierung, die 10 Gebote in die Hand geben: Denke an JHWH, der dich aus der Sklaverei gerettet hat, dann wirst du leben. Jesus: Gott hilft Wie alle frommen Juden fastete auch Jesus 40 Tage in der Wüste. Vom Geist Gottes gestärkt kann er in der Synagoge das Wort des Propheten Jesaja deuten: „Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht …“ Jesus weiß: Damit ist jeder gemeint, auch er selbst, und er setzt um, was er vernommen hat: Einen Menschen z.B., der unfähig geworden war, sich, seine Mitmenschen und die Welt im rechten Licht zu sehen, führt er aus seiner Umgebung weg, er bringt ihn zum Weinen, das löst den „Dreck“ aus seinen Augen; da kann der Mann sagen „Ich sehe Menschen“. Aber nicht genug, Jesus legt ihm die Hände auf die Augen, und plötzlich „sah der Mann alles ganz deutlich“ … Wer Jesus als „Christus“ (=Gesalbter Gottes) glaubt, glaubt, dass diese Liebe zueinander real werden kann. Muhammad, der Lobwürdige In der Wüste erlebt auch der Kaufmann Muhammad seine Erwählung zum Propheten Gottes. Erschüttert über die soziale Rücksichtslosigkeit und religiöse Gleichgültigkeit seiner Zeitgenossen zieht sich Muhammad in die Einsamkeit der arabischen Berge zurück und erfährt Stärkung und Orientierung durch den Engel Gabriel [die Stärke, Kraft Gottes]: „Lies, bei deinem Herrn, der den Gebrauch der Feder lehrte und den Menschen lehrt, was dieser nicht gewusst hat.“ Muhammad macht sich diese Botschaft zu eigen, schreibt die Worte, die er vernommen hat, auf als etwas, was immer wieder gelesen werden soll (=Koran), und wird zum Gesandten Gottes, der als gütiger Schöpfer den Menschen zu sich selbst bringt - der Islam, die Hingabe an Gott zur Erlangung von Lebensorientierung und Frieden ist gegründet. 12 Die nachfolgend in „» … «“ - Klammern gesetzten von mir verfassten Passagen finden sich demnächst (2002) in redigierter Form in: Lehrerband Ich bin gefragt Ethik 9/10. Berlin: Volk und Wissen, vorauss. S.145f.u. S.150. – Dieses Modell beruht im übrigen auf eigenen Erfahrungen im Religionsunterricht der Klasse 11, den ich in vielen Durchgängen nach diesem Grundmuster erprobt habe. Zum konzeptionellen Zusammenhang eines solchen Unterrichts vgl. das Kapitel 4-2. 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen 131 13 Dazu bietet sich am besten die sperrige, aber eindringliche Übersetzung von Buber an: Und dies sind die Zeugungen Tarachs: Tarach zeugte Abram, Nachor und Haran. Und Haran zeugte Lot. Haran starb unterm Angesicht seines Vaters im Lande seiner Geburt, in dem chaldäischen Ur. Abram nahm und Nachor sich Weiber. Der Name von Abrams Weib war Ssarai, der Name von Nachors Weib war Milka: eine Tochter Harans, des Vaters von Milka und Vaters von Jiska. Ssarai aber war eine Wurzelverstockte: sie hatte kein Kind. Tarach nahm Abram seinen Sohn und Lot Sohn Harans seinen Sohnessohn, und Ssarai, seine Schwiegerin, Abrams seines Sohnes Weib, sie zogen mitsammen aus dem chaldäischen Ur, ins Land Kanaan zu gehen. Doch als sie bis Charan kamen, siedelten sie sich dort an. Und der Tage Tarachs waren zweihundert Jahre und fünf Jahre, da starb Tarach in Charan. ER sprach zu Abram: Geh vor dich hin aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft, aus dem Haus deines Vaters in das Land, das ich dich sehen lassen werde. Ich will dich zu einem großen Stamme machen und will dich segnen und will deinen Namen großwachsen lassen. Werde ein Segen. … Abram ging, wie ER zu ihm geredet hatte …Sie kamen in das Land Kanaan … ER ließ von Abram sich sehen und sprach: Deinem Samen gebe ich dieses Land. … Dort baute er IHM eine Schlachtstatt und rief den NAMEN aus. Die Entzifferung der hier vollzogenen „Verdichtungen“ kann z.B. nach folgender Methode geschehen: a) Erfahrungen A’s zusammenstellen, die einen Einschnitt in seinem Leben bedeuten; b) die Tragweite dieser Erfahrungen ermessen (mit der Frage: Was bedeutete das für A. – vor allem in damaliger Zeit?); c) eine Lebenskurve A’s zeichnen; d) als Vertiefung einen Vergleich anstellen und entfalten „A. verliert – A. gewinnt“ [Sachinformation, zugleich als Hintergrund für den letzten Satz S.142 „Diese ursprüngliche Erfahrung, die fortan sein Leben prägte und durch die er sich auch ganz auf sich selbst verlassen konnte, nannte er „Gott“ und gab sie seinen Nachkommen weiter.: Gen 12,1: A. verliert (1) Land (=äußere Lebensgrundlage, Heimat), (2) Verwandtschaft (= inneres Lebensfundament, soziales Eingebundensein), (3) Vaterhaus (=abgestammte Identität, Geschichte, Name) --- Gen 12,2: A. gewinnt (stattdessen): (1) Land Gottes (= nicht (allein) geografisch festzumachen, sondern Lebenslandschaft, Kultur, die Lebensgrundlage bietet), (2) großes Volk (= neue Sozialität, die mit allen Menschen verbindet allein durch das Menschsein; vgl. Gen 12,3: „alle“), (3) großen Namen (vgl. Gen 17, 4f.!; d.i. nicht mehr nur gläubig seinem Gott „unterworfen“ (=Abram), sondern selbst-bewusst, autonom für die eigenverantwortliche Lebensgestaltung freigesetzt (= Abraham: das „abba“ in diesem neuen Namen realisiert den Bezug auf jenen uns allen Leben spendenden „abba“-Gott in der Begegnung mit jedem anderen Menschen, in dessen Antlitz sich das „abba“ wiederspiegelt, das ihn darum mit unverwechselbarer Würde ausstattet). Der biblische Gottesglaube, wie er in dieser Urerfahrung A’s paradigmatisch Gestalt festgehalten ist, realisiert sich in eben diesen hiermit komprimiert zusammengetragenen Dimensionen.] e) als weitere Vertiefung: Die weiteren Lebenswege A’s erkunden und ihre überlieferten Verdichtungen entziffern, so Gen 18,1ff (Verheißung des Jizchak), Gen 18,16ff (Feilschen mit Gott), Gen 22 (Bindung Jizchaks); 13 Buber / Rosenzweig (1932). 132 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen [Für die Erschließung dieser schwierigen Texte ist es absolut notwendig, nicht an der vorurteilsbeladenen Oberfläche zu bleiben, sondern in die Innendimension der Texte einzutauchen, um ihren symbolischen Gehalt in Erfahrung zu bringen. Dann ergeben sich für diese drei Sagen-Elemente als Schlüssel z.B. folgende Leitfragen: Wer wie A. an Gott glaubt, a) wie wird dieser Mensch eigene Kinder beurteilen, woher kommen sie, wessen „Eigentum“ sind sie? („Jizchak“ heißt: Gott ist es, der den Menschen zulacht => Kinder haben einen Eigenwert, lassen sich endgültig nie „planen“, bleiben Geschenk); b) wie wird dieser Mensch mit seinem Glauben angesichts von Unrecht und Leid umgehen? (A. fügt sich nicht einfach, sondern sein Glaube führt zur dialogischen Auseinandersetzung, zum Kampf ums Leben); c) wie wird dieser Mensch sich zu anderen, insbesondere seinen Kindern verhalten? (soll A. J. wirklich „binden“ oder nicht letztlich doch freisetzen, weil er nicht ihm „gehört“, sondern Gott, d.i. sich 14 selbst? Wie schwer ist es für Eltern, ihre Kinder freizugeben?) « In philosophiedidaktischer Ebene habe ich dazu einen Versuch vorgelegt und erläutert am Beispiel von David Hume: Mein Aufsatz „Sei ein Philosoph, doch bleibe, bei all deiner Philosophie, stets 15 Mensch.“ nimmt im Titel einen programmatischen Satz von Hume auf und versucht, diesen Satz in seinem Sinn über die Deutung eines zeitgenössischen Portaits vom jüngeren Hume und biografische wie autobiografische Notizen zu seiner Person und sein Verhältnis zur Philosophie erfahrungsdimensioniert zu erschließen. (1.2) Religiöse Erlebnisse haben mit Sinnsuche zu tun, reichen aber tiefer, in dem Sinne, dass Sinnsuche selbst in ihrem Sinn erläutert wird. Insofern ist es wenig hilfreich, sich bloß darüber in Kenntnis zu setzen, wie nach einer bestimmten religiösen Vorstellung Sinnsuche sich phänomenal fassbar darstellt. Religiös erschließend ist erst die Frage, was es ist, dass wir je nach Sinn suchen.16 14 Die hier zugrundeliegende Methode der Auslegung biblischer Texte ist nicht ganz selbstverständlich. Sie übernimmt einiges von dem, was als sog. tiefenpsychologische Exegese bekannt geworden ist, die besser unter dem Stichwort „existenzerhellende Bibelauslegung“ zu fassen wäre. Vgl. dazu insbes. Maria Kassel: Biblische Urbilder. Tiefenpsychologische Auslegung nach C.G.Jung. Freiburg: Herder 1992 [mit ausführlichen Deutungen zu Abraham und Jakob], sowie Eugen Drewermann: Tiefenpsychologie und Exegese. 2 Bde, Olten: Walter 1985. Es sollte aber auch erwähnt werden, dass es dabei nicht um modische Psychologisierungen geht, sondern, dass eine solche Form existentiell erschließender Bibeldeutung eine lange Tradition aufzuweisen hat, etwa in der anagogischen Deutung durch die Kirchenväter oder in der allegorischen durch die großen Prediger des Mittelalters. - Zu grundsätzlichen Ebenen und Voraussetzungen der Deutung religiöser Sprache vgl. Hans-Bernhard Petermann: Religiöse Sprache verstehen – eine religionsphilosophische Hermeneutik, in: Martens/Thomas (Hg.): Praxishandbuch Philosophie, Bd.4: Religionsphilosophie, München: bsv 2002, [in veränderter Form als Kapitel 2-2 in der vorliegenden Arbeit]. 15 Petermann (2000a). 16 In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, was hinsichtlich des Elements „heilige Wirklichkeit“ im Rahmen meines Versuchs zu einem Begriff von Religion oben (Kapitel 1-3) angedeutet wurde: Ich empfehle von daher, deutlich zu unterscheiden, wann und warum wir von Weltanschauungen, Sinnsuchbewegungen und religiösen Erfahrungen sprechen. Sinnsuchbewegungen bezeichnen sicher die grundlegendste Ebene, die Voraussetzung für die anderen ist, insofern damit wir als Menschen zunächst einmal ernst genommen werden als Wesen, die nach sich selbst fragen 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen 133 In dieser Perspektive einer Sinn-Orientierung einen religiös propädeutischen Unterricht zu konzipieren, der für das Fach Ethik/Philosophie in gleicher Weise geeignet ist wie für das Fach Religion, ist kompliziert, da sensibel mit dem Problem umzugehen ist, junge Menschen einerseits mit der Frage des Religiösen zu konfrontieren, andererseits jedoch so etwas wie Religionsvermitt17 lung, aber auch bloß äußerlich bleibende Religionskunde zu vermeiden. 18 In meiner Beteilung an dem Unterrichtswerk „Ich bin gefragt“ hatte ich diese reizvolle Aufgabe gemeinsam mit zwei Kollegen. Für die Anlage des Kapitels, das jetzt den Titel trägt „Spurensuche – dem Leben Sinn geben“ (S. 132ff), entwickelte ich folgende Grundidee, die in redigierter Form 19 in den Lehrerband Eingang finden wird: Zielsetzungen: 1.) Die auch im Fach Ethik/Philosophie zu thematisierende religionskundliche Dimension (in einem weiten Sinne des Wortes „Religionskunde“ als Auseinandersetzung mit dem Bereich des Religiösen) geht im vorliegenden Band 9/10 über ein Kennenlernen der Grundlagen und des ethischen Anspruchs der Religionen hinaus und versucht, eher grundsätzlich die religiöse Dimension menschlichen Lebens zur Sprache zu bringen. Zielsetzung ist insofern weniger die Begegnung mit konkreten Erscheinungsformen der Religionen, vielmehr ein Zugang zu Religiosität, der durch die Religionen in unterschiedlicher Weise eröffnet wird, aber nicht nur durch sie. 2.) Dafür ist es zweitens notwendig, die Frage nach Religiosität in die Frage grundlegender Orientierung menschlichen Lebens einzubinden. Dabei geht es wiederum weniger um Erschließung alltäglicher menschlicher Befindlichkeiten, sondern um die Frage nach ihrer Tiefendimension und der Letztorientierung menschlichen Lebens. Darum steht im Zentrum des Kapitels die Frage nach Sinn. Zielsetzung ist von daher eine Sensibilität für die über unsere aktuelle Befindlichkeit hinausgreifende und für sie Orientierung bietende Dimension. Hinsichtlich des gesamten Buchtitels „Ich bin gefragt“ bedeutet das eine Öffnung für eine uns tragende Dimension, aus der heraus ich gefragt bin, also mich im Anspruch des Gefragtseins zu verstehen. 3.) Drittens geschieht beides, die Frage nach Sinn wie die nach Religiosität in Perspektive heutiger und jugendlicher Lebenswelt. Nach Sinn wie nach Religion kann ich nur fragen, wenn und nach Orientierungen für sich und ihr Leben in der Welt, in der sie leben. Weltanschauungen stellen demgegenüber schon Antworten bereit für einen der Welt, in der wir leben, unterstellten Gesamtsinn; sie können uns zugleich Orientierung für unser Leben bieten und gehen dann über in Lebensanschauungen, die uns zu Leben helfen; der dabei unterstellte Gesamtsinn meint dabei nicht notwendig, dass alles letztlich Sinn mache; vielmehr können damit auch Tendenzen bezeichnet sein, die allgemein zur Sinnfrage führen, möglicherweise auch die Auffassung, ein Sinn sei letztlich nicht vorhanden (in der Bedeutung, dass alles letztlich keinen Sinn mache). Religiosität schließlich bezeichnet 17 Zu den Fragen der Konfessionalität einerseits, der Bekenntnisneutralität andererseits vgl. unten die konzeptionellen Kapitel 5-3 und 5-4. 18 Ich bin gefragt. Ethik [bzw.LER] 9/10. Berlin: Volk und Wissen 2000 (Petermann 2000b). 19 Lehrerband Ich bin gefragt Ethik 9/10. Berlin: Volk und Wissen 2002, vorauss. S. 134ff. – Die o.a. Erläuterungen stellen einen von mir ausführlicher kommentierten Vorschlag dar, der aufgrund der Gesamtperspektive des Unterrichtswerks wie auch der Länge in redaktionell veränderter Form erscheinen wird. – Ich veröffentliche meinen Vorschlag an dieser Stelle, um damit ein Beispiel für meine These eines religiös sensibilisierenden Unterrichts in Religion zu liefern, von der dieser Vorschlag getragen ist. 134 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen stets auch ich selbst gefragt bin; so kommt die eher subjektive Seite des gesamten Ethik-Werks zur Sprache. Unter diesen Perspektiven lernen die Schüler/innen im vorliegenden Kapitel - ihr eigenes Leben unter der Perspektive der Suche nach Sinn und Religiosität zu verstehen, - warum die Religionen der Welt in dieser Frage nach Sinn begründet sind, - wie die Frage nach Sinn und Religiosität (in verschiedener Weise) zur Sprache und zur Reflexion zu bringen ist, - warum die Suche nach Sinn scheitern kann oder an Grenzen gerät. Dieser Lernprozess wird unter dem erfahrungsorientiert formulierten Titel „Spurensuche“ zum Thema gemacht. Diese Zielsetzungen beruhen auf folgenden didaktischen Grundüberlegungen: Spuren sind zu suchen, gar zu finden nur durch Nachspüren. Bloße Informationen reichen nicht, man muss sie auch nachempfinden, um ihre Verläufe, gar ihre Orientierungsleistung verstehen und deuten zu können. Mehr vielleicht als in den anderen Kapiteln des Buches ist hier darum die Bereitschaft verlangt, sich auf Phänomene oder Verhältnisse auch einzulassen (weswegen man sie sich nicht sofort zu eigen machen muss.) Das sei ausdrücklich auch für das Phänomen des Religiösen betont, das hier im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht. Bereits das Schülerbuch 5/6 stellte klar: Weltanschauliche Neutralität darf nicht mit Gleichgültigkeit verwechselt werden. Gerade im Bereich des Religiösen aber versteht vom Thema nichts, wer es bloß neutral zur Kenntnis nimmt. Auch das Fach Philosophie/Ethik hat die Aufgabe, mit dem Religiösen als wesentlicher Dimension von Menschsein vertraut zu machen, Formen zur Verfügung zu stellen, Religiosität verstehen und reflektieren zu können, und Räume zu öffnen für je persönliche verantwortete Sinn-Entscheidungen. Insofern stellt sich der Philosophie- und EthikUnterricht in Deutschland gemeinsam mit dem Religionsunterricht vor aller konfessioneller Differenzierung der Aufgabe grundsätzlicher religiöser Bildung, auf die nach Art.4 u.7 GG alle 20 Menschen ein Recht haben. Diese didaktische Grundüberlegung hat unterrichtsmethodische Konsequenzen: Kein Text oder Bild ist schlicht als Information zu verstehen, sondern bedarf eines „Eintauchens“ in die Eigenart seiner Erfahrung und Sprache. Das auf 34 Seiten komprimiert gebotene Material stellt daher Impulse vor, Herausforderungen zu vertiefenden, weiterführenden und vor allem auch am Eigenen sich brechenden Erfahrungen. Nicht alles kann dabei als kognitives Ergebnis festgehalten werden, der Unterricht sollte Raum bieten für persönliche Berührungen durch das Material, ergänzt durch den Reichtum religiöser Texte aus den angesprochenen Traditionen, durch künstlerische Manifestationen oder durch filmische Dokumente, die religiösen Vollzügen oder Sinnsuchbewegungen nachspüren. Verschriftlichungen müssen dabei einen anderen Charakter haben als Ergebnisse festzuhalten; im Sinne eines Lerntagebuchs können auch Formen des Berührtseins, der Herausforderung, der Irritation festgehalten werden, die sich im „Lern“-Prozess ergeben haben. Zu bewerten ist dabei weniger nach dem Muster „richtig/falsch“, wichtig ist vielmehr, die Äußerung der Auseinandersetzung möglichst vielfältig zu fördern, um kritikfähig, das heißt sehend, urteilend, entscheidend gegenüber den vor allem religiös tradierten Sinnsuchbewegungen zu werden. 20 Zur weiteren Begründung dieser These vgl. meine Einlassungen auf das LER-Konzept im Kapitel 5-3 sowie grundlegend das Kapitel 1-2. 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen 135 Von diesen Grundüberlegungen her ist es sicher interessant, sich auch den Aufbau, die innere 21 Komposition des Kapitels anzuschauen : • Die Auftaktdoppelseite eröffnet über eine Collage eher affektiv mit wenigen visuellen Mitteln (Treppen, Stufen, „Sinn“-Faden/Knäuel, Auf und Ab, Raum-Grenzen) elementare Dimensionen von Sinnsuche. • Das einführende Unterkapitel „Mensch fragen nach Sinn“ (S.134-137) liefert lebensnah und an jugendlicher Lebenswelt orientiert Anstöße, wie, bei welchen Gelegenheiten und warum Menschen die Sinnfrage stellen. Entscheidend ist dabei die Verortung der Sinnfrage im Alltäglichen, das in zufälligen „Rissen“ zur Frage wird • „Sich selbst zur Frage werden“ (SB, S.138-141) entfaltet darüber hinaus wesentliche Richtungen und Kategorien der Sinnfrage; es geht um Erfahrungen von Grenze (hier zum Thema Liebe), von Abgründigkeit, von Existenz, Möglichkeiten und Grenzen der sprachlichen Reflexion und von Freiheit, und zwar über literarische wie philosophische Texte. • 10 Seiten (SB, S.142-151) sind der Sinnsuche „in Judentum, Christentum und Islam“ gewidmet. Diese drei Religionen sind bei uns mehr als alle anderen geschichtsmächtig geworden (Lehrer-Band 5/6, S.91). In vier Schritten werden die Schüler/innen geleitet, in ihnen Sinn-Spuren zu finden: - Zunächst wird als Leitmotiv für alle Religionen die menschliche Suche nach Mehr, nach Mitte und nach Orientierung herausgearbeitet (SB, S.142-143), zu Beginn über einen 22 Kinderbuch-Text (Sendak), dann über die Gestalt des Abraham , schließlich über das Sinn-Symbol des Labyrinths. Insofern die Frage sich hier konzentriert darauf richtet, was eigentlich einen religiösen Menschen ausmacht, findet man hier das Sinnzentrum des gesamten Kapitels. - Mit persönlichen Zeugnissen zweier Glaubensgestalten (Dietrich Bonhoeffer aus christlicher, der Sufi Ruma aus islamischer Perspektive) wird sodann die erste elementare Frage der abrahamitischen Religionen aufgeworfen: „Wer bin ich eigentlich?“ (SB, S. 144-145). - Der dritten elementaren religiösen Frage: „Worauf dürfen wir hoffen?“ sind die Folgeseiten gewidmet (SB, S. 146-147), exemplarisch über eine erfahrungsorientierte Aufarbeitung der christlichern Ostergeschichte aus heutiger Sicht . - Schließlich werden auf 4 Seiten wichtige Dimensionen der zweiten elementaren Frage der drei Religionen entfaltet: „Was sollen wir tun?“ (SB, S.148-151). Exemplarisch kommt dabei die Ethik des Juden Schalom Ben-Chorin zur Sprache, die politische Entscheidung des Christen Dietrich Bonhoeffer und eine Menschenrechtserklärung aus islamischer Sicht. Am Ende wird die Vision eines alle Menschen verbindenden Weltethos ins Spiel gebracht. • Die „Antworten ostasiatischer Religionen“ (SB, S.152-157) greifen die metaphysische wie weltanschauliche Sinn- und Orientierungssuche in Hinduismus, Buddhismus, Taoismus und 21 Auch hier greife ich auf meinen Vorschlag für den Lehrerband zurück, ergänzt durch kleinere Kommentare zur Veranschaulichung der hier nicht vorliegenden Texte und Bilder. – Zur Genese dieses Kapitels ist zu sagen, dass es von mir gemeinsam mit Maria Greifenberg und Matthias Hahn verfasst wurde; die vor allem bildnerische Ausgestaltung und Layoutierung lag in Händen der Verlagsredaktion. Jeder von uns war für klar umrissene Unterkapitel verantwortlich. Da die Gesamtanlage auf ein von mir eingebrachtes Strukturgitter zurückging, hatte ich auch die Aufgabe einer redaktionellen Gesamtübersicht. 22 Zur Ausführung vgl. oben die Anmerkungen zum biografischen Lernen. 136 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen Konfuzianismus auf. Die Einführung in diese Sinnsuch-Bewegung wird hier verbunden mit dem Ziel, auch einige Grundaussagen dieser Religionen kennen zu lernen. • Mit der ausdrücklich nichtreligiösen Sinnsuche des Humanismus können sich die Schüler/innen auf der folgenden Doppelseite auseinandersetzen (SB, S.158-159). • Das Unterkapitel „Spurensuche – im Sande verlaufen“ (SB, S.160-161) artikuliert dagegen Skepsis, Grenzen, Ohnmacht und auch Scheitern in der Suche nach Sinn. • Die Besinnung auf das kulturelle Erbe unserer Vorfahren (SB, S. 162-163) verdeutlicht einerseits, dass Menschen immer schon nach Sinn gesucht haben, andererseits, dass die Auseinandersetzung mit Geschichte eine ganz eigene identitätsstiftende Dimension von Sinn-Suche und –Findung darstellt. • Auf der Ideendoppelseite (SB, S. 164-165) springt das Schild „Das Leben ist eine Baustelle“ ins Auge. Damit wird die bisherige Suchbewegung erweitert um das Thema „individuelle Sinnsuche in pluraler Welt“; die Schüler/innen werden im Sinne des Titels „Ich bin gefragt“ zur persönlich betreffenden Auseinandersetzung mit der Frage nach Sinn und Religiosität herausgefordert. Diese Übersicht verdeutlicht ein in meinen Augen klar erkennbares Konzept aufbauenden Lernens, ausgehend a) von einer erfahrungsorientierten, mit biografischen Elementen gesättigten Sensibilisierung für die Frage nach Sinn und Religiosität zunächst b) zu einer vertiefenden Einsicht in die Dimension der Sinnfrage, in der die Frage nach einer angemessenen Sprache eine zentrale Rolle spielt, aus der heraus dann c) der Sinn von Religiosität ins Spiel gebracht wird, welcher den Schlüssel bietet, d) eher religionskundlich Elementares über Menschenbild, Ethik und Hoffnungen der Religionen in Erfahrung zu bringen, um schließlich e) Anregungen und Orientierungen zu geben, wie die Frage nach Sinn und Religion ins eigene Leben einzubinden wäre. Dieser Aufbau kann, meine ich, in deutlicher Parallele zu meiner einleitend zu diesem Kapitel formulierten didaktischen These gelesen werden. Ich habe aus diesem Grund die Schlüsselbegriffe kursiv gesetzt. (1.3) Konkreter zur Entfaltung bestimmter Erfahrungen oder Personen geht es dann um die Entwicklung sog. Letztfragen, die ich besser elementare Fragen nennen will23, weil sie als Fragen ihren Sinn weniger darin haben, andere Fragen in ihrer Dimension zu übersteigen, sondern grundzulegen. Vier Fragen sind es vor allem, die in ihrer Elementarität alle anderen auch alltäglichen Fragen nach Ich und Welt und einem Gesamtsinn erschließen und stellen helfen: Wer bin ich? - Woher komme ich? - Was soll ich tun? - Wohin gehe ich? Sie sind auffälligerweise allen großen Religionen gemeinsam. Zunächst einmal käme es darauf an, diese Fragen auch philosophisch zu formulieren, um zu verstehen, was es eigentlich ist, dass wir sie stellen: (1) Wer bin ich? Besser: Was ist es eigentlich, dass ich der bin, der ich bin? Und das setzt dann voraus: Was ist es, dass ich mir zur Frage werde? 23 Vgl. dazu den Schlussabschnitt des Kapitels 1-2 sowie meine genauere Erläuterung von Elementarität im Abschnitt 2 des Kapitels 3. 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen 137 (2) Woher komme ich? Oder: Worin hat mein Leben seinen Grund? Auch hier gilt als Voraussetzung: Was ist es, dass in der Frage nach mir selbst mir der Grund meiner selbst zur Frage wird? (3) Was soll ich tun? Oder: Woher erfahre ich Orientierung für die Lebensführung, für mich, mit anderen, in der Natur? Und wiederum genauer: Was ist es, dass ich nach Orientierung suche, wenn ich leben will? (4) Wohin gehe ich? Hier zunächst grundlegend: Was ist es, dass ich über mein Leben hinausgreife, hoffe? Erst daraus macht die konkretere Frage Sinn: Gibt es eine Hoffnung über den Tod hinaus? Und: Wie kann ich angesichts der Notwendigkeit endlichen Lebens mit Krankheit, Versagen, Schuld, Endlichkeit umgehen? Mit diesen Elementarfragen haben wir ein differenziertes Schema in der Hand, mit der sich die eben genannten religiösen Erfahrungen, die biografisch zur Sprache gekommen sind, genauer erschließen lassen.24 (1.4) Die grundsätzliche Forderung nach Erfahrungs-Lernen25 kann an dieser Stelle nur wiederholt, nicht weiter erläutert werden. Gewiss hat gerade in diesem Zusammenhang die Philosophiedidaktik auch die entsprechenden Stile und Methoden von Lehren und Lernen zu entwickeln. Ohne die mitunter strittig diskutierte Frage zu entfalten, wie man besser Philosophie lerne, über das Kennenlernen des Systems und der Positionen der Philosophie oder über das eigene Philosophieren, darf in didaktischer Hinsicht grundsätzlich mit Kant festgehalten werden, dass „sich überhaupt keiner einen Philosophen nennen (kann), der nicht philosophieren kann. Philosophieren lässt sich aber nur durch Übung und selbsteigenen Gebrauch der Vernunft lernen.“26 Bis in die Bildungspläne hinein (Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern) ist es inzwischen üblich geworden, diese Anweisung zum Philosophieren ebenfalls mit Kant als didaktische „Vorschriften“ zu entfalten, wir würden vielleicht eher sagen Maximen, um zum ureigenen „praktischen Gebrauch der Vernunft“ zu gelangen: „1) Selbstdenken, 2) sich (in der Mitteilung mit Menschen) an die Stelle des anderen zu denken, 3) jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken“.27 24 Vgl. dazu die im Punkt zuvor ausführlich erläuterte Erkundung der drei abrahamitischen Religionen in dem Werk „Ich bin gefragt“ nach eben diesen Fragen. 25 In religionspädagogischer Perspektive dazu grundlegend: Jürgen Werbick: Glaubenlernen aus Erfahrung. Grundbegriffe einer Didaktik des Glaubens, München: Kösel 1989. - Aus religionswissenschaftlicher Sicht vgl. Brunotte 1995, aus philosophiedidaktischer Sicht Breun 1994 u.1997. Zur Erläuterung des für die vorliegende Arbeit tragenden Begriffs der Erfahrung vgl. auch oben den Abschnitt (2) der Einleitung zu dieser Arbeit. Der erfahrungsorientierte Zugang zum Phänomen der Religion hat natürlich eine längere Tradition durch die Entwicklung der religionswissenschaftlichen Sicht auf Religion (vgl. dazu oben Kapitel 1-3, Abschnitt 2). Insbesondere auf die grundlegende Arbeit von William James (1901) sollte an dieser Stelle nochmals ausdrücklich verwiesen werden. 26 Kant: Logik (1800), Einleitung A 26; in: Werke Bd.III, S.448. 27 Kant: Anthropologie (1798), 122, in: Werke Bd.VI, S.511. 138 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen Ich selbst habe in meinen Seminaren und auf Vorträgen versucht, diese Einteilung durch eine weitere vorgelagerte Maxime zu ergänzen und zu präzisieren und schlage unter dem Titel „Deutekompetenzen“ vier Ebenen vor: empirisch-diagostische Kompetenz: Lebenswelt differenziert zur Erfahrung bringen, autonoetische Kompetenz: selber denken, dialogisch-kritische Kompetenz: sich an die Stelle des anderen denken, logisch-reflexive Kompetenz: mit sich einstimmig denken. In Orientierung an diesen Maximen sind für den Philosophieunterricht (nicht nur hinsichtlich des Themas Religion) auch oberflächlich eher atmosphärisch-pädagogisch anmutende Bedingungen wichtig wie: den Schülern durch den Unterricht ein Forum bieten, dass sie sich zunächst einmal auch sich selbst ernst nehmen können, ihnen einen Raum zur Auseinandersetzung bieten, das heißt sowohl Anforderungen stellen, wie Lernen als Prozess und Weg anbieten, zu Kritik und Streitgespräch herausfordern, Strukturen und Verhaltensweisen des Lernens bewusst machen, Tiefe zum Thema machen, also auch Brechungen zulassen, ja einbinden in die Auseinandersetzung, an Grenzen führen und Suche gerade dadurch nachhaltig zu machen (statt lediglich mit abfragbaren Ergebnissen zu arbeiten), Kritikfähigkeit vermitteln als Weg zu bewusster Relativierung gegen indifferenten Relativismus einerseits und zu rechter Entschiedenheit bzw. Entscheidungsfähigkeit gegen unflexiblen Fundamentalismus und Dogmatismus. Und schließlich ergibt sich, wenn es beim Thema Religion vorrangig und wesentlich um eine Dimension menschlicher Erfahrung geht, die Einbeziehung affektiv-sinnlicher wie auch meditativer, den inneren Sinn betreffender Zugänge.28 Die Philosophie ist als Disziplin des Denkens ein für diese Dimension nur scheinbar ungeeigneter Partner. Doch entsteht, ganz banal gesagt, in die Tiefe gehendes Denken nie aus sich selbst, sondern hat, wie nicht zuletzt die Bewegung des Philosophierens mit Kindern deutlich gemacht hat29, seinen Anstoß in irritierenden Alltagserfahrungen, die nicht selten ganz sinnlicher Natur sind. Erfahrungen, selbst Wahrnehmungserfahrungen können insofern ein Schlüssel zu philosophischem Denken sein.30 (1.5) Die grundsätzliche Zielsetzung dieser ersten Ebene ist es, Religiosität als wesentliche und originäre Dimension von Menschsein zu erschließen und damit nicht zuletzt die den Religionen eigene Wahrheitsfrage wahrzunehmen.31 28 Zur Einbeziehung solcher Ebenen vgl. meine Vorschläge zu sog. präsentativem Unterrichten, wie ich sie in den Unterrichtsimpulsen in den Kapiteln 4-1, 4-2, 4-3 und 4-5 vorlege. 29 Vgl. dazu die historische wie systematische Skizze zur Bewegung des Philosophierens mit Kindern im Kapitel 3. 30 Vgl. dazu bereits Aristoteles, Metaphysik I.1 (980a). Aus dem Bereich des Philosophierens mit Kindern kann für wahrnehmungsorientierte Erfahrungsübungen verwiesen werden auf Zoller (1995) sowie die anregende Sammlungs von Erfahrungsgeschichten von Schreier (1993). 31 Zur Begründung vgl. oben das Kapitel 1-3. 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen 139 ad (2) religiöse Sprachlehre (2.1) Grundsätzlich ist hier zunächst zu sagen: Wenn die Wahrheit der einzelnen Religionen ernstgenommen werden soll, gehört dazu die Fähigkeit, sich diese vernünftig und das heißt kritisch erschließen zu können. Der entscheidende Weg dazu aber ist die Fähigkeit zur sprachlichen Reflexion bzw. der Reflexion auf die Sprache. Das zu leisten, ist aber nicht nur eine der zentralen Aufgaben von Philosophie, sondern gleichsam ihr innerstes Selbstverständnis. Hier kann nicht der Ort sein, einen Begriff von Philosophie zu entwickeln. Doch stets hat Philosophie zu tun nicht nur mit der tieferen Auseinandersetzung mit Gegenständen des Denkens, sondern immer auch mit dem Denken dieses Denkens selbst. Oft wird als Organ dieses Denkens die Vernunft genannt. Wichtig ist aber in didaktischer Hinsicht auch die Entwicklung von Techniken zur Entfaltung der Vernunft. Auf grundsätzlicher Ebene ist das der kritische Charakter der Vernunft. Kritisch ist hier im vollen Wortsinn gemeint: als Fähigkeit Stellung beziehen zu können, als Fähigkeit Unterscheidungen vorzunehmen und zu differenzieren, als Fähigkeit auf der Grundlage begründeter Unterscheidungen zu Entscheidungen zu kommen, als Fähigkeit getroffene Entscheidungen der Diskussion auszusetzen, um sie zu vertiefen, zu revidieren oder zu entfalten. Das Instrument des Denkens ist dann weiterhin die Sprache, die zur Reflexion zu bringen ist. Für die Didaktik bedeutet das, Sprachtechniken zu entwickeln wie beispielsweise Erwerb von Sprachkultur als Voraussetzung dafür, sich überhaupt Kenntnisse aneignen und mit ihnen umgehen zu können, zuvorderst die Fähigkeit, Fragen zu stellen, und als Fähigkeit auszulegen, Lebenskontexte, Traditionen, vor allem manifeste Texte und Werke der Kunst; und im besonderen Hinblick auf das Thema Religion: Sprachfähigkeit aufbauen in dem Sinne, elementare und existentielle Fragen als solche benennen und im Austausch differenzierter erfassen zu können; dialogische und soziale Kompetenz erarbeiten, sich über solche Fragen mit anderen austauschen zu können; reflexive Erfahrungsmuster, Begriffe und Kategorien zur Entzifferung der vielfältigen Sinnangebote kennen und unterscheidend anwenden lernen. (2.2) Um überhaupt sich mit Religion auseinandersetzen zu können, besser: Religion zur Sprache bringen zu können, ist es notwendig, sich auf die eigentümliche religiöse Sprache einzulassen. Damit ist zugleich die wichtigste didaktische, ja die grundlegende hermeneutische Anforderung für jede Auseinandersetzung mit 140 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen Religion benannt. Ohne die religiöse Sprache zu verstehen, verstehen wir von Religion nahezu nichts, jedenfalls nicht das originär Religiöse. Das gilt natürlich in gleicher Weise auch für andere Gegenstände möglicher Erfahrung. Für die Sprache der Naturwissenschaften wird diese Voraussetzung ganz selbstverständlich anerkannt: Mitreden kann nur, wer sich auf die spezifische Terminologie versteht, die Wirklichkeit bewusst isoliert betrachtet. Auch für das Verstehen von Kunst, der bildende Kunst, der Musik, und mit Abstrichen der Literatur, wird das Verstehen der je eigentümlichen Formensprache als notwendige Voraussetzung akzeptiert. Die Religion hat es da schwerer, weil das Gefühl für das besondere Symbolsystem des Religiösen, wohl nicht zuletzt aufgrund der von den Religionen selbst verursachten Säkularisierung, auch der Sprache, verloren gegangen ist, was dann leicht zur Verwechslung von Glaubensaussagen mit (in naturwissenschaftlicher Sicht gesehenen) Wirklichkeitsaussagen u.ä. führt.32 Als auch didaktisch relevante Voraussetzung dafür kann die Einsicht gelten, dass Religion keine andere Sprache spricht in dem Sinne, dass damit eine andere Wirklichkeit bezeichnet würde, sondern dass ihre Sprache Wirklichkeit vor allem anders erfasst als etwa die weitgehend üblich gewordene Wissenschaftssprache. Das wäre im einzelnen zu erläutern etwa durch folgende Differenzierungen33: • Religiöse Sprache erfasst Wirklichkeit zunächst intensional, d.h. als Herangehensweise, und nicht extensional, also bestimmte (andere) Wirklichkeiten ausmachend und bezeichnend. • Auch religiöse Sprache hat stets das menschliche Verhältnis zu Wirklichkeit, hier religiöser Wirklichkeit im Auge. Selbst Aussagen über Gott, über Götter, über Paradies oder ewige Gerechtigkeit oder Wiedergeburt müssen stets gelesen werden als Aussagen über menschliche und menschlich erfahrbare Wirklichkeit, sonst können sie nicht verstanden werden. • Religiöse Sprache „weiß“ andererseits sehr wohl, dass sie über eigentümlich religiöse „Gegenstände“ wie Gott oder Auferstehung nicht extensional sprechen kann. Und doch hat sie letztlich keinen anderen Zweck, als Rede über diese Gegenstände möglich zu machen, um sei es als bloße Markierung, z.B. mittels privativer Negation. Das gilt insbesondere zu allen Wirklichkeit sprengenden Aussagen über Gott. Hier liegt eine besonders schwierige, aber entscheidende Ebene zum Verständnis religiöser Sprache. • Eine besonderes Verhältnis zu Wirklichkeit hat religiöse Sprache entwickelt durch die Form der Verdichtung, insbesondere für existentielle Erfahrungen. Solche Verdichtungen müssen erkannt und je neu wieder in Erfahrung, auch heutige, aufgelöst werden, um Zugang zu ihrem 34 Sinn erhalten zu können. • Konkretere Entfaltung wird eine religiöse Sprachlehre finden müssen in der Erschließung konkreter religiöser Sprachformen. Insbesondere die Sprachformen der Metapher, des 32 Grundlegend zu einer entsprechend differenzierenden Verwendung der Sprache hat sich HansGeorg Gadamer geäußert, etwa in: Sprache und Verstehen (1970), in: GW Bd.2, 21990, 184-198. 33 Das Folgende kann in diesem Punkt sich mit Andeutungen begnügen, weil sich zu dem Thema „Religiöse Sprache“ sowie den einzelnen hier angedeuteten Elementen mit den Kapiteln 2-2 in grundlegender und 4-3 in unterrichtspraktisch entfaltender Hinsicht zwei ausführliche Ausformulierungen im Verlauf dieser Arbeit finden. 34 Insbesondere zu dieser Punkt findet sich konkrete Entfaltungen im Kapitel 4-2 sowie im Abschnitt 2.6 des Kapitel 4-3. 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen 141 Symbols, des Gleichnisses, des Wunders, der Legende, aber auch des Glaubensbekenntnisses, des Dogmas usf. müssen zuerst als Sprachformen erkannt werden, um überhaupt „verstanden“ werden zu können. ad (3) Religionskunde (3.1) Grundsätzlich ist festzuhalten, dass sich religionskundliche Phänomene, seien es bestimmte religiöse Lebensanschauungen oder sichtbare religiöse Riten oder religiöse Stätten oder Symbole, nur unter der Voraussetzung der zuvor genannten Ebenen der Erfahrung und der Sprachlichkeit als religiöse erschließen; ansonsten bleiben es bloß historisch, sozial oder psychologisch interessante Phänomene. In dieser Perspektive ist es interessant, Schulbücher darauf zu überprüfen, inwieweit es ihnen gelingt, sog. religiöse Grundkenntnisse tatsächlich so zu thematisieren, dass auch ihr jeweiliger religiöser Charakter deutlich wird. Das ist eine keineswegs banale Forderung, weil nur zu selbstverständlich einem als religiös angesehenen Phänomen oder Akt Religiosität unterstellt wird. Das wird aber erst deutlich, wenn es gelingt, in ihm die oben im Kapitel 1-3 erläuterten Elemente der menschlichen Erfahrung, der heiligen Wirklichkeit, der Erlebnisstruktur, des existentiellen Bestimmtseins und der Herausforderung zu antwortendem Handeln freizulegen. Das aber geschieht nicht nur in Ethik-Büchern nicht immer, auch in Religionsbüchern wird diese Komplikation nicht immer genügend bedacht. In philosophiedidaktischer Perspektive verweise ich diesbezüglich auf das oben unter Punkt (1) genauer vorgestellte Konzept des Sinn-Kapitels im Ethik-Buch „Ich bin gefragt“. Auch Teile des unterrichtsbezogenen Modells im Kapitel 4-5 (vgl. die Punkte 2.4 und 2.6) sind unter dieser Perspektive zu lesen. Zur exemplarischen Verdeutlichung kann ich an dieser Stelle auf meine didaktische Aufbereitung der Kenntnisnahme des sog. „edlen achtfachen Pfad“ im Buddhismus im gleichen Werk verweisen. Er wird im Schulbuch nur kurz genannt: „rechte Sicht (1), rechtes Wollen (2), rechte Rede (3), rechtes Handeln (4), rechter Lebenswandel (5), rechte Anstrengung (6), rechte Achtsamkeit (7), 35 rechte Sammlung/ Versenkung/Meditation (8)“. – Für den Lehrerband wird dazu folgende 36 Arbeitsanweisung vorgeschlagen und kurz kommentiert: „Die Schüler/innen konzentrieren sich gesondert auf den „edlen achtfachen Pfad“ der „vierten Wahrheit“: Überlegt a) worin genauer die Anweisung der einzelnen „Pfade“ bestehen könnten. [Als Hintergrund empfiehlt sich ein Blick in Quellentexte, z.B. in: Glasenapp (Hg.): Pfad zur Erleuchtung. Buddhistische Grundtexte. Düsseldorf: Diederichs 1956, S.92ff]; - b) was zu tun ist, um sie zu gehen; c) warum sie gerade in dieser Reihenfolge stehen [Hinweis: die Tradition unterteilt sie in die Gruppe der „Erkenntnis“ (1,2), der „Zucht“ (3,4,5) und der „Versenkung“ (6,7,8)], warum also (1) seine Vollendung in (8) 35 Dieser Text findet sich auf Seite 154 des Bandes „Ich bin gefragt. Ethik [bzw.LER] 9/10. Berlin: Volk und Wissen 2000“ (Petermann 2000b). 36 Wie im oben erwähnten Beispiel bietet dieser Text meinen noch zu redigierenden Vorschlag für den „Lehrerband Ich bin gefragt Ethik 9/10. Berlin: Volk und Wissen 2002“ vorauss. S. 154. 142 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen hat, (8) aber nicht ohne die vorangegangenen Pfade erlangt werden kann.“ - Dieser Vorschlag lässt sich zudem verbinden mit der Auseinandersetzung mit den anderen auf dieser Schulbuchseite in Kürze gegebenen „Informationen“: eine Skizze der legendarischen Überlieferung von Siddhartas sog. Erleuchtung sowie je ein Foto eines Zen-Gartens in Kyoto und der Buddha-Statue von Kamakura. Natürlich wäre es unzureichend, die einzelnen Materialien hier schlicht zur Kenntnis zu nehmen in dem Sinne von „Im Buddhismus gibt es...“. Vielmehr lassen sie sich erfahrungsdimensioniert, nach dem jeweiligen Sinn fragend, auch auseinander erschließen: So veranschaulichen die Fotos die Frage nach dem Sinn der acht Pfade, die Einlassung auf den achtfachen Pfad hilft umgekehrt, die auf den ersten Blick möglicherweise irritierende Anlage eines Steingartens einzusehen. Für den Religionsunterricht (aber nicht nur für ihn, da sich hier Teile durchaus auch im Ethikunterricht verwenden lassen) biete ich im Rahmen der vorliegenden Arbeit dazu Modelle an in den Kapiteln 4-2 zum Thema Jüngerberufung, sowie im Kapitel 4-3, wenn es unter der Perspektive „Bibelkunde“ gelesen wird. (3.2) Die Vermittlung detaillierter religionskundlicher Phänomene, deren Grundkenntnis ja immerhin ein notwendiges Element in der Lehrerausbildung darstellt, sprengt die Möglichkeiten, aber auch die Aufgaben der Philosophiedidaktik. Sie ist hier angewiesen auf die Kooperation mit Theologie und Religionswissenschaft.37 (3.3) Lediglich auf der Ebene der Strukturierung der unterschiedlichen Inhalte könnte die Philosophiedidaktik einen eigenen Beitrag leisten, indem sie nach Ort und nach Formprinzip eines religiösen Phänomens innerhalb eines wie oben im Abschnitt 5 des Kapitels 1-3 erläuterten Koordinatensystems von Ebenen des Religiösen. Insbesondere ginge es dabei um die rechte Einordnung und wechselseitige Erschließung der Ebenen - religiöser Lebens- und Weltanschauungen; dabei scheinen mir drei Felder elementar zu sein, mit denen sich wohl jedes religiöse System auseinandersetzt: (1) das Menschenbild, (2) die Ethik bzw. der Bezug zur Lebens- und Weltgestaltung38, (3) die Frage nach Transzendenz39; 37 Aus diesem Grunde wird auch dieser Punkt (3) zur Religionskunde im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht weiter ausgeführt, sondern nur prinzipiell angedacht. 38 In diesem Zusammenhang wird klar, dass es entstellend, die religiöse Frage der Religionen ausklammernd ist, wenn die Auseinandersetzung mit Religion aus ethikunterrichtlicher Sicht reduziert wird auf Aussagen zur Ethik und Lebensführung. Vgl. dazu aber auch meine Kritik gegenüber einer religiösen Sonderethik in Kapitel 1-2, Abschnitt 2. 39 Nach diesem Muster führt die Sinn- und Religions-Einheit des Ethikbuchs „Ich bin gefragt“ (Petermann 2000b), wie oben unter Punkt (1) dieses Kapitels ausführlich vorgestellt, in die sog. Welt- und Lebensanschauungen der abrahamitischen wie auch der ostasiatischen Religionen ein. Ergänzend zu dieser Vorstellung sei an dieser Stelle exemplarisch auf den Taoismus verwiesen: 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen 143 - des Kultus, der Riten, der religiösen Feiern, des Gebets, kurz der religiösen Akte, durch die religiöse Anschauungen am unmittelbarsten fassbar werden40; - sprachlicher und auch sichtbarer religiöser Symbole (in einem weiten Sinne, also auch Chiffren), wozu nicht zuletzt auch bestimmte Gottesbilder oder Götter gehören; - gesondert davon religiöser Orte, Stätten, aber auch religiöser (Kunst-) Werke41; - einen besonderen und ausgezeichneten Rang nehmen religiöse Texte ein, insbesondere, wenn sie als heilige Schriften das grundlegende Zeugnis einer Religion zu sein beanspruchen;42 dass die Kenntnisnahme religiöser Texte sich nicht mit ihren Sachaussagen oder über Inhaltsangaben erledigt, sondern die Erfahrung der je eigenen Sprachlichkeit einschließt, ergibt sich aus dem bislang Erörterten, sollte an dieser Stelle aber besonders betont werden;43 - schließlich die Dimension der Geschichte einer Religion bzw. einer religiösen Bewegung, über die Religion sich erschließen kann. Mit Auszügen aus vier Strophen des Tao-Te-King wird hier, dem inneren Anspruch des Taoismus entsprechend, zunächst mit der alles Leben und alle Welt tragenden Ur-Einheit die Dimension der Transzendenz zur Sprache gebracht; dann folgt eine Strophe mit Thematisierung des eher auf Stille und Rückkehr zur Wurzel angelegten Menschenbilds; die dritte Strophe bietet eine komprimierte Einführung in die taoistische Ethik, während die vierte mit dem Begriff des „Tao“ die innere Einheit dieser Religion zum Inhalt hat. 40 Wie beispielsweise über die Erschließung eines Gebets der Zugang zu einer religiösen Tradition vermittelt werden kann, verdeutliche ich im Kapitel 4-3 am Beispiel des Psalm 119. 41 Vgl. dazu in Ergänzung zu der eben exemplarisch skizzierten Erschließung des Buddhismus mein Arbeitsvorschlag für einen Zugang zum Foto der Buddha-Statue von Kamakura (s.o. Anm. 34): „Was fällt auf an der Haltung des Buddha? Achtet besonders auf seine Handhaltung, den Wurf des Gewandes, den Blick! Stellt euch vor, ihr stündet morgens unmittelbar vor dieser von der aufgehenden Sonne beschienenen Kolossalstatue; wie wäre euer Eindruck?“ (Vorschlag für den Lehrerband Ich bin gefragt Ethik 9/10. Berlin: Volk und Wissen 2002, vorauss. S.154). Als weitere Beispiel verweise ich auf die Arbeit mit dem Bild des Gerichtsengels am Ende von Kapitel 4-5 und natürlich die ausführlicher dargestellte Skizze zu dem Berufungsbild von Duccio di Buoninsegna im Kapitel 4-2, aber auch das Kapitel 4-1 zur Frage nach Religion und Gott im Bilderbuch. 42 Die mündliche Weitergabe religiöser Traditionen wird deshalb nicht extra erwähnt, weil sie heute i.d.R. bereits schriftlich fixiert ist oder zumindest als ritualisierte Erzählung phänomenal fassbar ist. 43 Auch das hat erhebliche didaktische Auswirkungen: Wie können z.B. Texte des Koran in ihrem religiösen Gehalt zur Darstellung kommen, wenn man es bei der Darstellung von Aussagen zu sozialen, moralischen oder politischen Themen belässt und nicht auf einer ganz anderen Ebene seinen Anspruch eines ästhetischen Erlebens wahrzunehmen in der Lage ist? Vgl. dazu exemplarisch das umfangreiche Buch von Navid Kermani: Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran. München: Beck 1999. (Als Unterrichtsmaterial wird dieser Zugang von mir aufbereitet im Abschnitt 2.2 des Kapitels 4-3.) Natürlich ist eine solche Fragestellung entsprechend auf die Auseinandersetzung mit heiligen Texten anderer Religionen zu übertragen. 144 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen ad (4) religiöse Orientierung (4.1) Wenn Unterricht in Religion zur Orientierung beitragen soll, ist das eine gefährliche Forderung, die unmittelbar mit dem verfassungsrechtlichen Aufschrei rechnen muss, im Kontext allgemeinverbindlicher schulischer Bildung könne und dürfe es nicht um religiöse Unterweisung gehen. Doch ist die in diesem Zusammenhang gern zitierte Bekenntnis-Neutralität des demokratischen Staates nicht zu verwechseln mit Bekenntnis-Irrelevanz. Natürlich hat sich ein Staat in einer plural verfassten Gesellschaft insofern bekenntnisneutral zu verhalten, als er nicht ein bestimmtes Bekenntnis bevorzugen oder gar sich selbst mit einem bestimmten Bekenntnis identifizieren darf; damit vollzieht er eine der elementaren Errungenschaften der Moderne: die Abkoppelung des Politischen von vorgegebenen religiösmoralischen Strukturen; und das gilt natürlich auch für jede vom Staat verantwortete allgemeine Bildung. Doch ereignet sich weder Staat, noch Gesellschaft, noch auch Bildung in einem religiös oder moralisch neutralen Raum. Im Gegenteil ist gerade der von besonderer religiöser Begründung entkoppelte Staat darauf angewiesen, dass Räume eingerichtet sind, in denen diese Begründung, nun freilich in einer reflektierenden und orientierenden, nicht mehr oktroyierenden Weise zur Sprache gebracht werden. Der deutsche Staat hat daher ganz konsequent die Institution des Religionsunterrichts grundgesetzlich verankert und überträgt damit nicht zuletzt die Erörterung der eigenen Grundlagen den Religionsgemeinschaften als gesellschaftlich tragenden Kräften.44 In Zeiten, in denen diese den Status tragender und allgemeinverbindlicher Kräfte verloren haben, ist eine solche Aufgabenübertragung als Prinzip natürlich nicht erledigt.45 (4.2) Unabhängig von der in der Tat schwierigen Frage der Trägerschaft ist für die Inhalte hier aus religionspädagogischen Überlegungen zum Problem der Konfessionalität zu lernen: So wie konfessionelle Prägung nicht notwendig Unterweisung in den Grundlagen einer bestimmten Konfession bedeutet, sondern mit gutem Sinn die 44 Das vielfach zitierte Wort von Ernst-Wolfgang Böckenförde, „der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“ (E.W.Böckenförde: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation [1967], in: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt: Suhrkamp 1991, S.112) hat hierin seine Begründung. B. führt in seinem Aufsatz aus, dass der heutige Staat eben nicht mehr die Religion „die tiefste Bindungskraft für die politische Ordnung und das staatliche Leben“ biete (S.111), dass aber ein ersatzweiser Rekurs auf sog allgemeinverbindliche Werte „ein höchst dürftiger und auch gefährlicher Ersatz“ sei (S.112). Vgl. dazu auch oben das Kapitel 1-2. 45 Zu den Problemen, die in diesem Zusammenhang aus dem in Brandenburg eingerichteten LERModell entstehen, wird genauer informiert im Kapitel 5-3. 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen 145 Vermittlung der Fähigkeit zu je subjektiver konfessioneller Entscheidung meint46, so meint religiöse Orientierung aus Sicht der Philosophie die Fähigkeit, Religiosität als Dimension von Menschsein wahrnehmen zu können, Formen religiöser Äußerung und Gestaltung verstehen und beurteilen zu können, sowie zu Möglichkeiten eigener Religiosität Wege vermittelt zu bekommen. Eine solche orientierende Auseinandersetzung mit Religion sollte und kann m.E. auch die Philosophie und auch ein philosophisch dimensionierter Ethikunterricht uns nicht ersparen.47 46 Ich selbst habe aus diesem Grunde auch für einen kirchlich getragenen Religionsunterricht plädiert, der unter Anerkennung zunehmender Marginalisierung konfessioneller Sozialisation (s.o. Kapitel 1-1) seine erste Aufgabe nicht darin sieht, Schüler in ihrer konfessionellen Beheimatung zu bestärken und insofern - kontrafaktisch - die Konfessionalität der Schüler als drittes Element der konfessionellen Trias (neben der Konfessionalität von Lehrplan und der von Lehrkräften) vorauszusetzen, - ein solcher Unterricht hat seinen Ort m.E. nicht in der öffentlich institutionalisierten Bildung, sondern in der gemeindlichen Katechese -, sondern darin, Schülern den Sinn einer konfessionellen Entscheidung zur Erfahrung zu bringen und insofern von seinen Inhalten wie von seiner Methodik her konfessionabel zu sein. Insofern würde auch der kirchlich verantwortete Religionsunterricht vor allem propädeutischen, d.h. vor allem Religiosität erschließenden und für je persönliche konfessionelle Entscheidungen orientierenden Charakter tragen. [vgl. Petermann 1996 sowie das Kapitel 5-4 der vorliegenden Arbeit]. - Dieser Ansatz ist auf einen nicht mehr von den Kirchen allein verantworteten allgemeinen Unterricht in Religion zu übertragen: Auch hier kann und muss, denke ich, Religion so zur Sprache kommen können, dass Religiosität als elementare Dimension von Menschsein (im Sinne der oben im Abschnitt 5 des Kapitels 1-3 entwickelten Ebene 1) zur Einsicht gebracht und von daher dann auch die Fähigkeit zu je persönlicher konfessionell-religiöser Entscheidung vermittelt wird. Vgl. dazu auch die Vorschläge von Schneider (1999), sowie Heiner Hastedt: Vorwort (mit Thesen zum schulischen Religions- und Philosophieunterricht), in: Philosophie und Religion. Zukunft einer Fächergruppe. Hg. H.Hastedt. Rost.Phil. Manuskripte H.5, Rostock: 1998, S.6. 47 Nicht einleuchtend erscheint mir in diesem Zusammenhang die Argumentation von Schleichert / Seebaß/Stemmer (1997). Die Autoren ziehen einen falschen Graben zwischen religionswissenschaftlicher und philosophischer Orientierungen einerseits, der durch intellektuelle Distanz gekennzeichnet sei, und dem kirchlichen Auftrag, „Glaubensinhalte als gültige Wahrheiten zu unterrichten“ andererseits. Zunächst einmal kann es nicht Aufgabe staatlicher Organe sein, (und ist es nach höchstrichterlicher Auffassung auch nicht), die Kirchen auf das festzulegen, was sie im Rahmen des Grundgesetzes im Religionsunterricht zu unterrichten haben. So ist aber das hier zitierte Urteil des BVerfG von 1987 (Bd.74, S.244f.) auch gar nicht zu verstehen: Zwar heißt es hier wörtlich zum Religionsunterricht: „Sein Gegenstand ist vielmehr der Bekenntnisinhalt, nämlich die Glaubenssätze der jeweiligen Religionsgemeinschaft. Diese als bestehende Wahrheiten zu vermitteln, ist seine Aufgabe.“ Doch erstens handelt es sich bei diesem Auftrag nicht, wie nicht nur die Autoren falsch unterstellen, um ein „Privileg“ der Kirchen, sondern um eine ihnen vom Staat subsidiär übertragene Aufgabe und Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit. Und zweitens meint, ebenfalls gegen die Auffassung der Autoren, „zur Sprache bringen“ von Glaubensinhalten mehr als bloß informierende Religionskunde, aber zugleich auch weniger als direkte katechetische Glaubensunterweisung. Der Religionsunterricht, auch der kirchlich verantwortete, hat keineswegs Glaubensunterweisung, sehr wohl aber Glaubensvermittlung zum Gegenstand, in eben dem oben ausführlicher erläuterten Sinn, Religion und ihre existentiell beanspruchende Wahrheit zur Sprache zu bringen und so Orientierung zu leisten, nicht zuletzt auf eine je persönlich zu treffende Glaubensentscheidung der Schüler hin. Darin aber trifft sich ein kirchlich verantworteter Religionsunterricht mit einem philosophisch ausgewiesenen Unterricht in Religion, wie oben bereits am Ende des Abschnitts 2 von Kapitel 1-2 erläutert (vgl. auch die dortige Anm. 48 zu Veraart 1998). Vgl. dazu auch die Auseinandersetzung von Wolf (1999), auf die ich oben im gleichen Zusammenhang mit zwei Anmerkungen eingegangen bin. 146 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen (4.3) Daraus ergibt sich fast notwendig: Zur religiösen Orientierung gehört aus Sicht der Philosophie auch die Religionskritik, freilich in dem eben beschriebenen weiten Sinne der Ausbildung der Fähigkeit zur Wahrnehmung, zum Verstehen, zur Differenzierung und vor allem Beurteilung, sowie zur persönlichen Stellungnahme religiöser Phänomene. Kriterien der Kritik liegen für die Philosophie in den Fragestellungen ihrer Einzeldisziplinen, für den Bereich des Religiösen sind das vor allem Fragen erkenntnistheoretischer, (philosophisch-) ethischer, anthropologischer, ästhetischer Natur. Heutzutage sehe ich die Aufgabe solcher Kritik in negativ wie positiv kritischer Hinsicht: Negativ ist der Gefahr des Fundamentalismus vorzubeugen, wozu vor allem die Dechiffrierung abergläubischer, d.h. Religiosität reduzierender oder gegen vernünftige Erschließung immunisierender Strukturen gehört; als positive Religionskritik würde ich es ansehen, Religion als wesentlicher Dimensionen von Menschsein herauszustellen gegen die Autonomie und verantwortliche Lebensführung letztlich unterlaufende und beschneidende Privatisierung und Relativierung religiöser Sinnangebote. Schließlich ist zum Schluss dieser didaktischen Skizze nochmals zu betonen, dass es bei den vier von mir skizzierten Ebenen nicht um disparate Bereiche gehen kann und darf, so dass sie u.U. gar in die Kompetenz unterschiedlicher Unterrichtsfächer verteilt würden. Im Gegenteil ist stets eine Ebene auf die anderen hin zu durchleuchten, für die sie einen Schlüssel zum Verständnis zu liefern hat, wie umgekehrt die je anderen Ebenen als notwendige Voraussetzungen oder Folgen zu verdeutlichen sind. Insofern ist leider das ursprüngliche LER-Modell im Land Brandenburg mit Grundlegungs-, Differenzierungs- und Zusammenführungs-Phasen frühzeitig in den Mühlen nicht kooperationsfähiger Sonderinteressen untergegangen. Eine große Chance für einen allgemeinen Religionsunterricht der Zukunft, der m.E. durchaus auch im Interesse des tradierten Religionsunterrichts und der diesen tragenden Kirchen wäre, ist damit vertan worden.48 Dabei sind Modelle zur möglichen Umsetzung einer solchen Idee eines für alle offenen, gleichwohl differenzierenden Religionsunterrichts gar nicht so kompliziert und auch bereits heute in die Praxis umzusetzen49, zumal in Organisationsformen, an denen die Schule 48 Zu den Hintergründen vgl. genauer den Abschnitt 2 des Kapitels 5-3. 49 An anderen Orten habe ich selbst wiederholt dazu Vorschläge gemacht, vgl. Petermann (1991) sowie Petermann (1996a). Entsprechende Modelle haben vorgelegt: Gabriele Miller: Vision eines dreistufigen Religionsunterrichts, in: KatBl 1993, S. 831ff; oder die von Folkert Doedens in Braunschweig vorgetragenen Thesen für einen differenzierten Lernbereich „Religion/Philosophie/ Ethik“ (in: J.Lott: Religion - warum und wozu in der Schule. Weinheim 1992, 421ff, bes. 429ff); diesen Vorschlag konkretisierend hat Hamburg seit 1992 einen entsprechend differenzierten Lernbereich versuchsweise als Modell erprobt: Vgl. Doedens 1992, S.77f. - Diese Modelle dienen 1-4 Grundlinien einer Didaktik des Religiösen 147 der Zukunft ohnehin nicht wird vorbeigehen können und dürfen.50 Die Chancen einer auch für das Bildungsgut Religion förderlichen Schulentwicklung liegen insofern z.Zt. leider eher in Einzelinitiativen bzw. einzelnen Versuchen vorsichtiger Kooperation im Gerüst konventioneller Fächeraufteilung. Die Hochschuldidaktik im Bereich der Philosophie täte gut daran, ein Augenmerk auf die Förderung solcher Ansätze zu richten, vermag sie doch durch ihre ureigene Methodik schon wesentliche Bausteine für eine elaborierte Form von Interdisziplinarität beizutragen.51 zunächst als Möglichkeit religionsunterrichtlicher Zusammenarbeit, gehen also von dem konkret machbarsten Modell eines konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts aus, wären aber ohne größere Probleme auf eine Fächergruppe „Religion - Philosophie - Ethik“ hin konkretisierbar. In diesem Zusammenhang scheinen mir die Modelle in Mecklenburg-Vorpommern (vgl. Kultusm. d. L. M.-V. 1996), Berlin (vgl. Ev.Kirche Berlin-Brandenburg 1998a) und Sachsen-Anhalt (vgl. Kultusm. d. L. S.-A. 2001) besonders interessant zu sein. (Vgl. dazu genauer die Anmerkungen im Kapitel 5-4). Für entscheidend halte ich dabei eine Differenzierung nicht nach Fächern, sondern nach Lernbereichen. Demnach wären wesentliche Elemente dessen, was ich als religiöse Sprachlehre skizziert habe, ohne tiefere Probleme im Klassenverband zu unterrichten ebenso wie eher religionskundliche Informationseinheiten; Begegnungen mit religiösen Einrichtungen und Personen können ohne weiteres, wie im übrigen schon jetzt, als Projekt in den Schulablauf integriert werden. Dadurch würde nicht zuletzt ein gutes Fundament gelegt auch für die darüber hinaus durchaus sinnvollen konfessionellen Differenzierungsphasen, die so ihren je eigenen Bildungsanspruch viel besser vermitteln können. Damit sind natürlich auch schulart- bzw. stufenspezifische und regionale Gegebenheiten zu berücksichtigen. (Vgl. die Ausführung dieser Idee im Kapitel 5-4). 50 Bereits heute kommen viele Grundschulen vom herkömmlichen 45-Minuten-Takt los und versuchen zunehmend projektorientiert und fächerübergreifend zu arbeiten. Das organisatorisch interdisziplinäre, methodisch projektorientierte und inhaltlich stärker auf Strukturwissen denn auf Einzelkenntnisse angelegte Lernen nimmt nicht nur in den Bildungsplänen zunehmend breiteren Raum ein: Baden-Württemberg etwa sieht bereits seit Mitte der 90er-Jahre in allen Jahrgangsstufen in allen Schulformen verbindlich mindestens ein fächerübergreifendes Thema vor; entsprechend wurde 1998 auch für die Oberstufe mit dem sog. „Seminarfach“ ein bewusst interdisziplinär und projektorientiert konzipiertes Zusatzfach eingerichtet, das von den Schülern auch in die Abiturqualifikation eingebracht werden kann. Auch die neuen Studienordnungen für die Studiengänge Grund-, Haupt-, und Realschulen in Baden-Württemberg sehen inzwischen einen eigenen Bereich „Interdisziplinäres Lehren und Lernen“ bzw. „Interdisziplinäre Studien“ mit erheblichen und auch prüfungsrelevanten Studienanteilen vor. Vgl. dazu den Dokumentarband zu einer Grundlagenveranstaltung zu diesem Studienbereich Wellensiek/Petermann (2002). 51 Das gilt nicht nur in methodischer Hinsicht, insofern der eher wissenschaftstheoretische Zweig der Philosophie die unterschiedlichen Fächer in einen differenzierenden und in ihren je besonderen Fragestellungen wiederum sich ergänzenden Gesprächszusammenhang bringen kann, sondern auch in inhaltlicher Hinsicht, insofern die Philosophie als Disziplin des Fragens und Hinterfragens sowie in ihrer weniger ergebnis- als vielmehr problemorientierter Zielbestimmung einen heute mehr denn je erforderlichen Weg des Lehrens und Lernens in schulisches Bildungssystem einbringt. Vgl. dazu meine Andeutungen zu methodischen Elementen des Philosophierens oben unter Punkt (1.4) dieses Kapitels.
* Your assessment is very important for improving the work of artificial intelligence, which forms the content of this project
advertisement